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Unterhalb der Geschichte der Sieger

Neue Schriften von Giorgio Agamben im politisch-philosophischen Kontext

Dezember 2003

I. Die politisch-philosophischen Dreiecke

Die drei großen Traditionen der politischen Moderne, Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus (in Schema 1 als L, K, S) bilden bis heute in dynamischer Weise die Eckpunkte der politischen Auseinandersetzungen. Immer neue Konstellationen haben sich aus diesen Größen gebildet: sozialliberale und liberalkonservative ebenso wie konservativ-sozialistische Spielarten (etwa religiöser Prägung). Deskriptiv, zur Akzentuierung der gegenwärtigen hegemonialen Kon­stellation wäre an die Spitze des politischen Dreiecks der Liberalismus zu setzen. Sozialismus und Konservatismus bilden im politischen Feld ein vielleicht provokantes, nur selten jedoch einflussreiches politisches Reservoir. (Schema 1)

Diesem Dreieck der großen politischen Traditionen der Moderne, lässt sich ein Modell der philosophischen Traditionen (Schema 2) gegenüberstellen. Schematisch bringt es Korrespondenzen von theoriepolitischen Konstellationen und handfesten politischen Bekenntnissen zum Ausdruck.

Schema 1 Schema 2

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Dem Liberalismus gehört in diesem Modell idealtypisch die Tradition der analytischen Philosophie (A) zu, in der durch die Besinnung auf Sprache oder formale Logik in erster Linie die abstrakten Tugenden des citoyen hervortreten (während die materialen Eigenschaften des bourgeois unter den Tisch fallen). Formale „Wissenschaftlichkeit“ zählt zu ihren Leitsätzen. Eine formalisierte individualistische Ethik mit starker Neigung zu Euphemismen („Fortschritt“, „Vernunft“, „Aufklärung“) lässt sich leicht in diesen Kontext rücken – heute freilich vor allem deshalb, weil in der Tradition der analytischen Philosophie gerne auch offen und emphatisch die Siegergeschichte des Liberalismus fortgeschrieben wird. Mit dessen Hauptmerkmal, dem ungebremsten Universalismus geht das leicht zusammen: Sieger haben Gründe. Immerhin verfügen sie über hinreichende symbolische Macht, sie als wahr zu setzen.[1]

Dem politischen Konservatismus kommt in der Philosophie aus naheliegenden Gründen eine Orientierung an über- oder ahistorischen Wesensfragen über Sein, Gott oder Existenz zu. Nicht selten werden unumstößlich präsentierte Wertegemeinschaften auch durch relativistische Positionen verabsolutiert. In Ontologie (O) und Relativismus (R) konvergieren die Gegensätze einer Philosophie des Konservatismus.

Die Abkehr vom universalistischen Paradigma mag dabei die entscheidende Gegenposition zur liberalistischen Emphase anzeigen. Philosophisch wie politisch ist diese konservativ-ontologische Tradition überwiegend ins Hintertreffen geraten. Das heißt jedoch nicht, dass sich nicht auch aus dieser Traditionslinie hegemoniale Bündnisse mit dem analytisch-liberalistischen Zeitgeist ergeben würden. Neo-aristotelische Hegel-Lesarten und gemeinschaftsbezogene, kommunetaristische Philosophien sind heute einflussreich. Und auch ihre Protagonisten – Michael Waltzer wäre zu nennen – machen publizistisch als Fürsprecher heutiger Kriege von sich reden.

Die sozialistische Tradition steht dagegen nicht nur aktuell schwächer da. Angesichts des heroischen Zeitalters sozialistischer Philosophen, in denen Sozialisten ontologisch sein konnten wie Sartre und positivistisch wie Russell, mag das verblüffen. Aber auch historisch wäre das philosophische Projekt, das im Schema des theoriepolitischen Dreiecks dem Sozialismus konvergiert, vermutlich nur aus einer kritischen Mittelstellung zu begreifen, die weder der formalisierenden Abstraktion noch dem ontologischen Seinsgesang erliegt.

Spannung heißt hier, dass sie zu beiden Polen Distanz und Nähe behauptet. Die Nähe zur analytischen Tradition hält sie dabei durch die Skepsis gegenüber intersubjektiv nicht einholbaren, verborgenen Wesenheiten und fundamentaler Letztbegründung. Jene müssen als Ideologie erscheinen, in der sich partikulare Positionen verhärten. Die Nähe zu den ontologischen oder relativistischen Positionen halten philosophische Modelle am unteren linken Rand des theoriepolitischen Dreiecks allerdings durch die gemeinsame Skepsis gegenüber universalistischer, fortschritts- und vernunftgläubiger Verbrämung. Denn das politische Wort für Verbrämung, Kitsch oder Euphemismus wäre abermals Ideologie.

Eine dem Sozialismus korrespondierende Philosophietradition besteht daher in einer begrifflichen Spannung, die sich der (formalistischen, der juristisch oder moralisch abstrakten) Verbilligung des „Universalismus“ widersetzt, ohne die Perspektive einer umfassenden und grenzenlosen Gerechtigkeit zu verabschieden. Sie besteht ferner ein einer kritischen Doppelbewegung, die auf leibliche und soziale Konkretionen geht, ohne aber auf den begrifflichen Anspruch der exakten und analytischen Beschreibung sowie theoretischen Verdichtung zu verzichten. Vor allem aber muss sie, wo der Liberalismus die Vernünftigkeit des Bestehenden und der Konservatismus seine Unabänderlichkeit hervorhebt, die Kontingenz und Politizität der realen Verhältnisse betonen: Die Welt könnte anders sein, weil sie Gegenstand des Politischen ist.

Sehr vieles davon wurde im Kontext der Kritischen Theorie, der letzten einflussreichen dialektischen Denkschule, explizit formuliert. Die Wahlverwandtschaft von Sozialismus und Dialektik (D) hatte durchaus systematische Gründe, die von Adorno, Horkheimer oder Marcuse offengelegt wurden. Allerdings finden sich die genannten spannungsvollen Konstellationen auch im Anschluss an (vorderhand ja durchaus formal-analytische) semiologische Modelle wieder, wo diese in materialer Vertiefung an die Grenzen symbolischer Ordnungen gehen. Denn leicht lassen sich in der Pointierung symbolischer Ordnungen, gegen die angedacht wird, hegemoniale Konstellationen erkennen. Nicht selten werden sie auch so benannt.

Insofern lässt sich die theoriepolitische Mittelstellung zwischen Positivismus und Ontologie nicht nur anhand streng marxistischen Jargons identifizieren. Die postleninistischen Philosophen Alain Badiou und Slavoj Žižek[2] bemühen eher strukturalistische und poststrukturalistische (PS) Terminologien, um sich allerdings in einem theoriepolitischen Spannungsfeld zu platzieren, das dem skizzierten dialektischen vergleichbar ist. Auch die kritische Aneignung von Heidegger im Poststrukturalismus, die dessen ontologische Schwere spielerisch in leiblich-konkretisierter Semiologie aufhob, wäre ein Beispiel solcher konstitutiv spannungsgeladenen Philosophie. Sie bietet wiederum Beispiele, in denen auch die offen politischen Vokabeln „Sozialismus“ oder „Kommunismus“ affirmative Verwendung finden. Jean-Luc Nancy hat etwa im Anschluss an Heidegger (allerdings auch und vor allem an Georges Bataille) aus dessen Konzeption des „Mit-Seins“ ein durchaus kommunistisches Prinzip gewonnen. Es verhält sich sperrig zu seiner eigenen politischen Repräsentation und wird zu einem Prinzip der Bewegung im doppelten Sinn von literarischer Begriffsbewegung und sozialer Bewegung, so dass es sich eben nicht in einem positiv-utopischen Mythos still stellen lässt.[3]

Die Carl Schmitt-Rezeption in neueren postmarxistischen Theorien um Chantal Mouffe[4] oder Jacques Rancière[5], die Schmitts Relativismus radikalisiert und somit die allseitige Konfliktualität in modernen Gesellschaften konservativ nicht mehr still zu stellen beabsichtigt, deutet andere Beispiele poststrukturalistischer Theorien an, die zwischen den reaktionären Polen des theoriepolitischen Dreiecks produktiv (und progressiv) die Spannung halten. Sie bleiben mit der Tradition des Sozialismus verbunden, weil sie ihrer politischen Tendenz nach auf eine Reaktivierung von Klassenkämpfen (im weitesten Sinne) zielen.

Die kritischen Interessen der Philosophie machen dabei weder vor Fabriktoren noch vor Küche oder Kinderzimmer Halt. Allerdings beruht solch post-marxisti­sche Theoriebildung in den genannten Fällen auf keinem strengen Klassenbegriff mehr, der als politisch primär herausgestellt würde. Von der Konstruktion einer Determination des Politischen durch das Ökonomische müsste die sozialistische Tradition vermutlich Abstand nehmen. Die Fähigkeit zur Integration von Kämpfen, die den traditionellen Klassenbegriff sprengen, zählt heute wohl zu den Überlebensbedingungen der sozialistischen Tradition.

Sie bleibt die Heimat der sozialen Kämpfe. Als eine solche Heimat könnte es ihr gut tun, die utopische Perspektive einer endgültigen Stillstellung der Kämpfe aufgrund ihres repressiven Untertons zu verabschieden. Derartige Veränderungen im Konzept des Sozialismus mögen es – trotz aller Kontinuitäten – rechtfertigen, in Klammern auch ein P vor das S des Sozialismus zu setzen, der somit in einen Postsozialismus übergeht: eine nicht stillzustellende Bewegung polymorpher sozialer Kämpfe.

II. Giorgio Agamben zum Beispiel

Giorgio Agamben, der als sperriger und eigensinniger Gegenwartsphilosoph auf den ersten Blick keinen eindeutigen Platz im Schema 1 einnimmt, lässt sich vor dem Hintergrund von Schema 2 leichter situieren. Die Korrespondenzen der beiden Schemata lassen eine mögliche theoriepolitische Aneignung erahnen. Philosophische Verwandtschaftsbeziehungen unterstreichen diesen theoriepolitischen Ort. Alain Badiou und Jean-Luc Nancy finden in seinen Schriften beinahe als einzige Gegenwartsphilosophen höchste Anerkennung, während sich seine Philosophie darüber hinaus aus einer uneigentlichen Lektüre Heideggers und Carl Schmitts gewinnt.

Weitestgehend entschlüsselt sich Agambens kryptisches Denken aus dem Gegensatz zu den hegemonialen Bündnissen aus analytischer Philosophie, Vernunft­emphase und abstraktem Universalismus. Es lässt sich dabei als eine eigenwillige Verknüpfung von dialektischen und poststrukturalistischen Theorieansätzen beschreiben (wobei auch über eine mögliche ontolo­gische oder relativistische Schlagseite noch zu sprechen sein wird). Die Rezeption Walter Benjamins seit den 70er Jahren steht in genau diesem theoriepolitischen Spannungsfeld. Agamben war der Herausgeber Benjamins in Italien und noch immer ist Benjamin sein wichtigster Gewährsmann.

In den neueren Veröffentlichungen ist er es, so wäre hinzuzufügen, vor allem auf drei Gebieten: In der Theorie der Erinnerung, in der Akzentuierung der leiblichen Existenz und einer avantgardistischen Theorie der Repräsentation. Die Verknüpfung jener drei Gebiete erfolgt im Medium einer negativen und politischen Anthropologie. In gewisser Weise ist Agambens Philosophie daher gerade so organisiert, wie Theodor W. Adorno das Denken Walter Benjamins gekennzeichnet hatte: als einen „anthropologischen Materialismus“, der sein „Maß der Konkretion“ im „Leib des Menschen“ findet.[6]

Auf allen drei Gebieten, so lässt sich vorwegnehmen, bewährt sich in seinem Denken eine doppelte Gegenposition: primär gegen die entkörperlichende Tendenz des abstrakten Rationalismus (als Bündnis von L und A), sekundär (und nicht immer in gleicher Eindeutigkeit) gegen die ontologisch-irrationalen Tendenzen der philosophischen Reaktion. (als Bündnis von K und R/O). Auf allen drei Gebieten entfaltet es sich als Denken einer Politisierung.

III. Erinnerungspolitik

Walter Benjamin hatte in seinen geschichtsphilosophischen Thesen kritisch eine historio­graphische Einstellung benannt, in der die Herrschenden ihre Macht verlängern und ihre eigene Geschichte präsentistisch als Siegergeschichte schreiben. Auf diese Weise würden die Opfer und Verlierer der Geschichte symbolisch gleichsam noch einmal getötet. So heißt es in den Geschichtsphilosophischen Thesen: „auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein.“[7] – Auch die Tradition wird ihm deshalb zu entreißen sein.

Von ihren namen- und sprachlosen Schicksalen Zeugnis abzulegen, diejenigen zu erinnern, die keine Sprache mehr haben, denen sie geraubt wurde und die aus der symbolischen Ordnung der politischen Rede schlichtweg ausgeschlossen sind, ist auch das geschichtstheoretische Interesse Giorgio Agambens. Seine Theorie des Eingedenkens, die vor allem in Was von Auschwitz bleibt[8]artikuliert wird, geht dabei von der Frage aus, in wessen Namen Auschwitz zu erinnern wäre. Der Titel, Was von Auschwitz bleibt, enthält daher auch den Hinweis auf die Frage, wofür Auschwitz in seiner historiographischen Aneignung zu stehen hätte.

Agamben geht es vor allem um eine Form der Erinnerung, die zwischen der bruchlosen Assimilation des Verstanden-Habens (in der Geste der felix culpa: „Als Erben der Täter dürfen wir – die wir nun alles verstanden haben – nicht länger Wegschauen“ findet sie ihre imperiale politische Form) und der reaktionären Geste der Verdrängung vermittelt und somit in einer produktiven Spannung zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen oszilliert (vgl. WvAb, S.8).

Er entwickelt dabei ein Konzept der historischen Zeugenschaft, das sich unterhalb der Fixierungen formalisierter Sprache bewegt, um Ungesagtes und Unsagbares historiographisch einzuholen. Es ist ein (in erneut Benjaminschem Sinn) allegorisches Konzept der historischen Erinnerung. Walter Benjamin hatte die Allegorie vor allem in seiner Schrift über den Ursprung des deutschen Trauerspiels als eine sprachliche Figur konzipiert, die die Distanz zum Gesagten in sich reflektiert, die es sperrig anders sagt (all’ agoreuein = anders reden/uneigentlich reden ist die etymologische Wurzel der Allegorie). Die Allegorie ist auf diese Weise gewissermaßen das sprachliche Vermögen, Nicht-Sagbares reflexiv nicht zu sagen, um auf einen verborgenen Sinn anzuspielen. Historisch sind Allegorien in der Regel Personifikationen.

Giorgio Agambens Allegorie für das, was nicht mehr gesagt werden kann, ist der „Musel­mann“ in den Konzentrationslagern, jenes verstummte, an die Grenze der Leidensfähigkeit getriebene Wesen im Zustand vollendeter Ausdruckslosigkeit.[9] Der Muselmann ist, wie Agamben zu entwickeln versucht, das Wesen, das eine Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Mensch und Nicht-Mensch, Leben und Tod eröffnet. Und deshalb stellt sich mit ihm die Frage, die seit Primo Levis Buchtitel untrennbar mit Auschwitz verbunden ist: Ist das ein Mensch?

Wie in den Zeugnissen zu erfahren ist, ist der Muselmann dadurch gekennzeichnet, seine Sprache, seine Würde und seinen Willen verloren zu haben. Er bewohnt, wie Wolfgang Sofsky formuliert hat, „ein drittes Reich zwischen Leben und Tod“.[10] Auf einsichtige Weise ist die Erfahrung des Muselmanns nicht dokumentierbar. Er ist aus der Gemeinschaft der sprechenden Wesen ausgetreten. Primo Levi hat gleichwohl (Agamben nennt es „Levis Paradox“ – vgl. WvAb, S.131) den Muselmann zum Maß des Zeugnisses und der Zeugenschaft von Auschwitz gemacht, weil gerade der Muselmann den entmenschlichen­den Terror des Lagers verkörpert und ihn bis an die Grenze – jene Grenze, an der Leben und Tod, Mensch und Nicht-Mensch ununterscheidbar sind – durchlebt hat.

Im philosophischen Sinne ist der Muselmann kein Subjekt und keine Person. Damit scheitern aber an seiner Herausforderung auch relevante humanistische und moralisch juridische Definitionen, was ein Mensch sei. Entsprechend kann es Agamben nicht plausibel erscheinen, dass die angemessene Form der Erinnerung an Auschwitz im Namen der Menschenrechte zu erfolgen hätte. Nicht im Namen des Menschen als dem qualifizierten Teilnehmer an der politischen Form gelte es, Erinnerung wach zu halten, sondern im Namen des stummen Zeugen der Konzentrationslagers, der zum bloßen Lebewesen, der zum untoten Rest leiblicher Regungen reduziert wurde: im Namen des Muselmanns.

Deswegen stellt sich mit der Bedeutung von Auschwitz für die Menschheitsgeschichte die Frage nach der Gemeinschaft der menschlichen Wesen auf eine neue Weise, die in der liberalistischen Philosophie des citoyen nicht länger zu fassen ist. Sie stellt die Frage nach der Menschheit als die Frage nach der Stabilität ihrer Definition. Jene wird aus politischen Gründen bezweifelt.

Agamben konfrontiert etwa den Vater der Diskursethik, Karl-Otto Apel, mit dem Muselmann, vor dem dieser verstummen müsste, wie jener im Konzentrationslager. Aber keine Ethik dürfe, so Agamben, „sich anmaßen, einen Teil des Menschlichen auszuschließen“ (WvAb, S.55). Der Bereich des Menschlichen, dessen Unbestimmtheit Agambens Ethik der Erinnerung pointiert, reicht daher über den Einflussbereich des homo loquens und des animal rationale hinaus.

In dieser Weise rühren die erinnerungspolitischen Fragen, die Agamben aufwirft, an der anthropologischen Konzeption des Humanismus, die in gewisser Weise immer auch ein Streitfall zwischen Liberalismus und Sozialismus gewesen ist. Auch hier geht es Agamben um eine theoriepolitische Spannung, die zwischen (bürgerlichem) Humanismus und konservativen Antihumanismus eröffnet wird. So schreibt er: Hier wird offenkundig, warum die beiden konträren Thesen über Auschwitz unzulänglich sind – die humanistische „Alle Menschen sind menschlich“ ebenso wie die antihumanistische „Nur einige Menschen sind menschlich“. Das Zeugnis sagt etwas ganz anderes. Es ließe sich in der These zusammenfassen: „Die Menschen sind Menschen, insofern sie nicht-menschlich sind“ – genauer: „Die Menschen sind Menschen, insofern sie Zeugnis ablegen vom Nicht-Menschen“. (WvAb, S.105)

Agambens Position befindet sich an dieser anthropologischen Grenze, die allerdings eben der Grund einer Historiographie der Menschheit und das Erbe ihrer Gemeinschaft wäre. Er konzipiert sie als Ausdruck einer Bewegung, die die Widersprüche einer exklusiven Anthropologie hervorhebt: Im Muselmann erkennt der Mensch die Kontingenz seines eigenen Begriffs.

Die geschichtstheoretische und anthropologische Wendung, die Agamben seiner Schrift über die Zeugenschaft von Auschwitz gibt, verweist damit auf eine politische Spannung der Zeugenschaft, die zum „quälbaren Leib“[11] hinabreicht und sich in die „Kluft“ „zwischen dem Lebewesen und der Sprache“ begibt (WvAb, S.114). Der Nicht-Mensch im Menschen ist der Indifferenzpunkt, an dem sich die Frage einer negativen und politischen Anthropologie stellt.

Dass Agambens Position, wie sie sich unterhalb des libera­listi­schen Zeitgeistes bewegt, riskantes Denken ist, lässt sich durch einen Blick in die Frankfurter Allgemeine Zeitung erahnen. In seiner Rezension von Was von Auschwitz bleibt hat Lorenz Jäger dort versucht, eine Analogie von Muselmann und ungeborenem Leben zu konstruieren[12] und Agamben auf diese Weise eine enorm konservative und zynische Deutung zu unterlegen. (Zynisch vor allem deswegen, weil er damit die vulgäre Gleichsetzung von Nicht-Menschlichem als gewalt­sam Entmenschlichtem und Nicht-Menschlichem als bloßer Möglichkeit des Menschlichen betreibt.)

Agamben suggeriert diese Analogie an keiner Stelle. Er ist über diese Deutung gewissermaßen schon deshalb erhaben, weil er gerade die Einzigartigkeit von Auschwitz zu verstehen sucht, die Lorenz Jäger mit seiner Deutung missversteht. Aber hätte Agamben die liberalistische Philosophie qualifizierter Rechtssubjekte durch eine krude Ontologie des „menschlichen Lebens“ unterboten, dann wäre die Analogie zwar weiterhin zynisch, allerdings im Rahmen seiner Schriften durchaus möglich.

Agambens Anthropologie ist jedoch eine negative Anthropologie, die darauf beharrt, dass die Trennung von Menschlichem und Nicht-Menschlichem keineswegs stabil ist, sondern eben historisch erzeugt wird. Und in dieser Weise ist Agambens Theorie zweitens eine in spezifischer Weise politische Anthropologie, die ein konfliktuales Feld anthropologischer Trennungen eröffnet. In genau dieser Weise wurde in seiner vielbeachteten Schrift über den Homo Sacer[13] der politische Souverän zur entscheidenden Instanz der biopolitischen Trennung von Mensch und Nicht-Mensch, die nun im Konzentrationslager als Grauzone offenbar wird.

Agamben bestimmt Mensch oder Lebewesen insofern eben nicht, wie es die F.A.Z. gerne hätte, ontologisch, sondern historisch-politisch. Auf dem politischen Feld wäre daher im Sinne Agambens die Frage auch erst zu beantworten, wessen Körper der Körper des ungeborenen Lebens ist. Die ontologische, apolitische Bestimmung des Lebens sieht diese Frage hingegen bereits beantwortet. Sie entpolitisiert, wo Agamben politisiert.

Wenn Agambens Denken also in letzter Instanz historisch-politisch ist, dann besteht Politik bei ihm in der Spannung zwischen liberalistischer Moralisierung und Verrechtlichung einerseits und ontologischer Stillstellung andererseits. Sie steht, anders gesagt, immer in der Spannung von politisch kodifizierter Form (wie sie von der souveränen Macht bestimmt wird) und bloßem Leben. Man könnte diese Spannung auch als eine Spannung von liberalistischer Hegemonie und konservativer Ontologie beschreiben. Dabei mag man allerdings zugestehen, dass sein Denken eine relativistische Nuance hat, die letztgültige politische Antworten nicht mehr geben will.

IV. Politisches Lebewesen

Der Titel Was von Auschwitz bleibt hebt mit der bleibenden Herausforderung und Überforderung der Erinnerung ein philosophisches Programm hervor, das sich aus der Erfahrung von Auschwitz ergibt. Es berührt den Begriff des Menschen und seinen immanenten Widerspruch: Es berührt den Menschen als Nicht-Menschen, als nacktes Leben, als Lebewesen.

In seinem Buch über Das Offene[14] erfährt dieselbe Frage eine andere Pointierung. Sie wird aus einer anderen Perspektive erörtert und in veränderte Kontexte gerückt. Agamben stellt darin die große philosophische Frage nach dem Mensch und dem Tier, im Grunde genommen die Frage nach dem Tier als dem immanenten Anderen des Menschen, eine Chiffre für das allgemeine Verhältnis von Mensch und Natur. Ist der Mensch anderes als bloß Tier? Wenn ja, an welchem Punkt beginnt der Unterschied?

Diese innere, anthropologische Zäsur des Menschen ist in mehrfacher Hinsicht auch eine politische Zäsur. Deshalb schreibt das Offene sein Programm einer historisch-politischen Anthropologie fort. Auch in das Offene eröffnet Agamben eine Indifferenzzone, die überkom­mene humanistische Definitionslinien ins Schwimmen geraten lässt.

Sein literarisches Verfahren besteht aus Notiz, Kommentar, Montage und Paraphrase. In eigen­sinnigen und oftmals kryptischen Exkursen zu Thomas von Aquin, Alexandre Kojève, Carl von Linné, Martin Heidegger und Tizian entfaltet er seine negativ anthropologische Konstruktion.

Carl von Linné zeigte sich unsicher, eine letztgültige, „spezifische Differenz zwischen dem Mensch und dem Affen anzuzeigen.“ (DO, S. 37) Kojève ließ die Menschen am Ende der Geschichte wieder zu Tieren werden. Mittelalterliche Theologen rätselten über die Auferstehung des Fleisches, das sie zuvor durch die definitorische Destillierung einer Seele disqualifiziert hatten. Agamben geht von dieser Unsicherheit der Trennung von Mensch und Tier aus. Er steigert sie zu einem Denken, das die historische Kontingenz der Trennung offen legt.

Die idealistische Konzeption des animal rationale, die im Inneren des Menschen erfolge, so ist seine Grundthese, führe zu einer Entkoppelung des Animalischen im Eigenen. Denn das Tier sei das immanente Andere des Menschen, das erst durch die „anthropologische Maschine“, wie Agamben sie nennt, geschieden werde. „Die Anthropogenese“, so schreibt er, „resultiert aus der Zäsur und der Gliederung des zwischen Humanem und Animalischem. Diese Zäsur verläuft zuerst im Inneren des Menschen.“ (DO, S. 87)

Diese anthropologische Trennung im Inneren des Menschen beschreibt Agamben auch als eine konstitutiv politische Tat. Denn auch die Polis, die politische Gemeinschaft, ist das Resultat einer Trennung, mit der eine souveräne (oder hegemoniale) Definition des Politischen auf den Plan tritt. Es ist das zoon politikon als nicht nur gemeinschaftliches, sondern eben buchstäblich politisches Lebewesen, das hier begründet wird. Tier sein heißt somit: unpo­li­tisch sein. Ebenso wie die Trennung von politisch und unpolitisch der ursprüngliche Akt der Hege­monie ist, so ist auch die Trennung von politischen und unpolitischem Tier der ursprüngliche Akt einer (je hegemonialen) politischen Anthropologie. Die Animalität des Menschen, sein kreatürlicher Grund wird auf diese Weise zum unbestimmten Rohstoff des Politischen.

Hier weist das Buch über das Offene erneut den theoriepoliti­schen Ort Agambens im philosophisch-politischen Dreieck aus. Man kann ihn in Analogie zum jungen Marx verdeutlichen. Dieser sprach von der Gesellschaft als dem „durchgeführte[n] Naturalismus des Menschen“ und dem „durchgeführte[n] Humanis­mus der Natur“.[15]

Die Worte des jungen Marx enthalten schon auf den ersten Blick eine theoriepolitische Doppelstellung. Denn der Chiasmus zeigt auf paradoxale Weise ein Weder-Noch und ein Beides-Zugleich an. Die Konstruktion steht somit in der offenen Spannung zwischen (naturalistischer) Ontologie und (idealistisch, vernunftemphatischer) Naturvergessenheit.

Mit den Äußerungen über das Wechselspiel von Naturalismus und Humanismus hatte Marx auch ein politisches Programm verbunden, das die humanistische Verwirklichung von Natur implizierte, indem es emphatisch die materiellen und natürlichen Grundlagen des Lebens von Lebewesen in die Politik einbezog. Die Gestaltbarkeit und Emanzipation von Mensch und Natur durch Gesellschaftspolitik war ihre Pointe.

Giorgio Agambens Buch über das Offene stellt dieselbe Frage und antwortet in einer vergleichbaren Weise. Agamben hält die Spannung zwischen Mensch und Tier, Politik und Nicht-Politik zwar, ohne eine endgültige Antwort, eine endgültige Grenzziehung (oder auch deren Aufhebung) zu verheißen. Allerdings bringt er dieselbe theoretische Bemühung zum Ausdruck: nämlich das Politische in seiner grundlegend materiellen Ausstattung (und inzwischen eben auch zunehmend biologischen Ausstattung) zu fassen und die Trennung von Mensch und Natur in ihrer historisch-politischen Kontingenz zu begreifen.

Das hat zudem einen aktuellen Grund: Im gegenwärtigen biopolitischen Zeitalter, in dem die organische Ausstattung des Menschen (gentechnologisch, gesundheitspolitisch, bioethisch etc.) bereits ein erstes Politikum darstellt, führe Politik nun eben explizit in seine animalische Grundlage hinab. Somit fußt das zoon politikon, das ja nun gerade kein Tier mehr sein sollte, gerade in der animalischen Konstitution des Menschen als Lebewesen. Es lässt sich nicht mehr zuverlässig vom Tier separieren.

Schon deswegen ist der Begriff des Lebewesens, des nackten, bloßen Lebens auch in das Offene keine positive ontologische Größe. Er ist ein Grenzbegriff, der immer dort entsteht, wo die politische Anthropologie als positive Anthropo­logie auftritt, die eine zuverlässige Trennung vom animalischen Leben ausweisen zu können vermeint. Das Lebewesen beginnt, anders gesagt, immer da, wo eine anthropologische differentia specifica errichtet wird.

Und so ist auch das animalische, das unpolitische Leben unterhalb der gemeinschaftlichen Valorisierungen – als Rohstoff der souveränen Konstitution des politischen Lebens – eine unbestimmte Größe. Die politische Anthropologie Agambens begegnet der Definition des Menschen insofern als einer offenen. Agamben formuliert: Der Mensch war in unserer Kultur [...] stets das Resultat einer Teilung und zugleich einer Gliederung des Animalischen und Humanen, wobei einer der beiden Begriffe jeweils stets auf dem Spiel stand. Die herrschende Maschine unserer Konzeptionen des Menschen abzuschalten, bedeutet also nicht, nach neuen, effizienteren und authentischeren Verbindungen zu suchen, als vielmehr, die zentrale Leere auszustellen, den Hiat, der – im Menschen – den Menschen vom Tier trennt, bedeutet also, sich in dieser Leere aufs Spiel zu setzen: Aufhebung der Aufhebung, Shabbat sowohl des Tieres als auch des Menschen. (DO, S. 100)

Jenes Konzept einer eingestandenen Kontingenz lässt das Bild einer befreiten Natur durchaus zu. Und zwar erneut gerade aufgrund ihrer relativistischen Nuance. Denn es setzt die handlungsleitende Grenze außer Kraft, die in der anthropologischen Trennlinie besteht. Hölderlin hat Agambens Perspektive einer befreiten menschlichen Natur (wenn auch in völlig anderem Zusammenhang) formuliert: „Komm, ins Offene Freund!“[16]

V. Eine avantgardistische Theorie der Repräsentation

Die beiden Bücher, in denen primär eine Theorie der Geschichtlichkeit und das kreatürliche Lebewesen im Vordergrund stehen, enthalten implizit eine Sprachtheorie, nehmen Aspekte einer Theorie der sprachlichen Repräsentation und der Möglichkeiten ihrer subversiven Verschiebung in Anspruch. Expliziter als in Was von Auschwitz bleibt und Das Offene sind diese Gedanken, die dem gesamten philosophischen Konzept Agambens unterliegen, aller­dings in der dritten deutschsprachigen Neuerscheinung dieses Jahres enthalten. Die kommende Gemeinschaft[17], die bereits im Titel des Buches benannt ist, wird darin als eine Gemeinschaft charakterisiert, die sich durch eine veränderte Form der kommunikativen Vermittlung auszeichnet.

Den klassischen Hierarchien in der Theorie der Repräsentation (von Innen und Außen, Sig­ni­fi­kant und Signifikat) begegnet Agamben darin mit einem Pathos der Uneigentlichkeit. Er hebt jene innere Ordnung des Zeichens in einer Bewegung auf, die sich auf die Materialität des Zeichens, das Außen der Reprä­sen­tation zubewegt. In erster Linie entwickelt er seine kritische Theorie der Repräsentation am Ver­­hältnis von Bild und Körper. Sie hat einen gesellschafts- und medienkritischen Aus­gangs­punkt.

Der Kapitalismus, so schreibt Agamben mit Verweis auf Guy Debords Gesellschaft des Spektakels, „stellt sich als eine immense Akkumulation von Bildern dar, in der alles, was unmittelbar erlebt wurde, in eine Repräsentation verschoben wird.“ (KG, S. 72) Ein derart durch Bilder vermitteltes Verhältnis zwischen Personen, stelle nun aber eine „Enteignung und Entfremdung menschlicher Geselligkeit selber“ (KG, S. 72) dar. Die Möglichkeit einer kommunikativen Gemeinschaft werde durch die Abstraktionen einer separaten, geordneten Sphäre blockiert, in einer „von den Medien geordneten Welt, in der sich die Form des Staates und die der Ökonomie durchdringen“. (KG 73) Gerade aber durch diese Abstraktheit der medialisierten und in warenförmiger Bildlichkeit organisierten Kommunikation, so heißt es weiter, „erlangt die Marktwirtschaft ihren Status absoluter und von jeglicher Verantwortung entbundener Souveränität über das gesamte gesellschaftliche Leben.“ (KG, S. 73) Der abstrakte Zauber der Repräsentation lässt die gesellschaftlichen Subjekte nach der „Enteignung des Gemeinsamen“ (KG, S. 74) sprachlos und vereinzelt bestehen, eben beherrschbar. Damit sind die Möglichkeitsbedingungen einer politisch-gemeinschaftlichen Konstitution ausgehöhlt.

Die kommende Gemeinschaft versucht alternative Perspektiven bereitzustellen. Agambens Theorie der Gemeinschaft ist daher primär eine politische Kommunikationstheorie. Und in der Konstitution einer politischen Gemeinschaft durch die Verschiebung der Repräsentation in die uneigentliche Materialität der Zeichen, benennt sie empha­tisch den „politische[n] Auftrag unse­rer Generation“ (KG, S. 62).

Die Parallele zur Surrealismustheorie Walter Benjamins ist hier aufschlussreich. Sie mag zudem verdeutlichen, was in diesem Zusammenhang mit dem Attribut avantgardistisch gemeint ist. In der kunstphilosophi­schen Diskussion hat man den Begriff der Avantgarde auf die Formel einer Aufhebung der Trennung von Kunst und Lebenspraxis gebracht. Der imaginäre Überschuss der ästhetischen Gestaltung sollte der praktischen Einrichtung der Welt zur Hilfe kommen.[18]

In seiner Surrealismus-Schrift[19] hat Walter Benjamin eine solche avantgardistische Position idealtypisch formuliert: es gelte, die „Kräfte des Rauschs für die Revolution zu gewinnen“ (GS II.1, S. 307). Den imaginären Überschuss des Ästhetischen beschreibt Benjamin in seiner Schrift auch als „Bildraum“, der in einen Raum leiblich-politischer Praxis, einen „Leibraum“, wie ihn Benjamin nennt, überführt werden müsse. Erst in einem Zusammentreffen von Leib- und Bildraum würde „die Wirklichkeit so sehr sich selbst [übertreffen], wie das kommunistische Manifest es fordert.“ (GS II.1, S. 310)

Giorgio Agambens Theorie der Repräsentation ist nun keine avantgardistische Kunsttheorie im engen Sinne. Sie ist eher eine politische Kommunikationstheorie. Gleichwohl greift sie auf das avantgardistische Motiv, wie es idealtypisch von Benjamin formuliert wurde, zurück. „Bild und Körper in einem Raum zu verbinden, in dem sie nicht länger getrennt sind und so einem beliebigen Körper Gestalt zu geben“ (KG, S. 50) – das ist die utopische Perspektive der politischen Kommunikation wie er sie in seiner kommenden Gemeinschaft skizziert.

Das Programm einer leiblichen Kommunikation, die sich den Abstraktionen des citoyen ebenso entgegenstellt wie denen medialen Bilderzaubers, lässt sich dabei auch, wie an anderer Stelle deutlich wird, als das Projekt einer positiven Verdinglichung verstehen. Gerade so, wie es in der Tradition kapitalismuskritischer Philosophie etwa von Sartre und Marcuse vorgestellt wurde. Es eröffnet sich als ein Programm der enträtselten Körper, die in der vollkommenen Äußerlichkeit ihrer Gesten, in einer aufs Äußerliche gehenden Manier, ein neues Ethos (vgl. KG, S. 32) finden: Indem die Kommerzialisierung den menschlichen Körper den eisernen Gesetzen der Massenproduktion und des Tauschwertes unterwirft, scheint sie ihn zugleich vom Stigma der Unsagbarkeit zu befreien, das ihm jahrtausendelang anhaftete. (KG, S. 47)

Die als Ware befreiten Körper werden zu Gesten, die im scheinhaften Außen ihrer Repräsentation ihre fortan scheinlose Wahrheit haben. In genau dieser Hinsicht wird die Uneigentlichkeit des bloß Zeichenhaften in Agambens Schriften zur Wahrheit einer politischen, gemeinschaftsstiftenden Kommunikation. Seine Philosophie geht damit erneut weder – ontologisch – ins unsagbare Innen der Repräsentation, noch lässt er das Signifikationsverhältnis – positivistisch – als eine prästabilierte Harmonie erscheinen. Er treibt es in einer Bewegung, die auf die Materialität des Zeichens geht, über sich hinaus.

Ihre Fronstellung gegen eine liberalistische Formalisierung des Ausdrucks nicht zu übersehen. Vielleicht lässt diese Theorie gestischer Kommunikation, die an die Kräfte des Unsagbaren rührt, allerdings eine ontologische Tendenz erkennen. Sie bleibt indes durch ihre zeichentheoretische Pointierung von kruder Ontologie letztlich unterschieden. Agamben bewegt sich philosophisch in einer kritischen und politischen Mittelstellung zwischen den Polen A und O/R, mag er in seinen Lektüren und durch die historisierende Orientierung an Leiblichkeit auch mit ontologischen und relativistischen Positionen kokettieren.

VI. Agamben lesen

Man kann sich an der manchmal relativistischen und manchmal ontologischen Schlagseite durchaus stören, die an verschiedenen Stellen der Philosophie Agambens aufblitzt und die bereits jetzt zu problematischen rechtskonservativen Lesarten geführt hat. Jene Schlagseite bringt gefährliche Beziehungen der Philosophie Agambens zum Ausdruck und hängt immer wieder mit seinen Lektüren Heideggers und Carl Schmitts zusammen. Ob sich solche Risiken in einem eigenständigen und provokanten Denken überhaupt vermeiden lassen (die Geschichte der Linksintellektuellen enthält eine Reihe von riskanten intellektuellen Bündnissen), bzw. ob das einer politisch-intellektuellen Strategie überhaupt zuträglich wäre, kann indes bezweifelt werden.

Denn vermutlich ist die philosophische Wahrheit durchaus in der Weise theorie­politisch konkret, dass spezifische hegemoniale Konstellationen der Unwahrheit auch spezifische wahrheitspolitische Antwortstrategien erfordern. Riskante Konstellationen auf der unteren Achse des Dreiecks, die von links unten ihren Ausgang nehmen, haben eben auch und gerade deswegen einen produktiven Gehalt. Radical chic, paradoxale politisch-philosophische Anleihen und eine verstörende leibliche Konkretion des Denkens sind konterhegemonialen Projekten vielleicht gerade zuträglich, weil sie auf provokante Weise in der Lage sind, sich Gehör zu verschaffen. Insofern kann eine Theorie, die sich tendenziell links unterhalb der hegemonialen und kanonischen Spitze des Dreiecks bewegt, so falsch nicht sein. Es gilt, sie lesen und aneignen zu lernen. Agamben hat eine solche Art der Lektüre in sehr schöner Weise am Beispiel Guy Debords charakterisiert. Man müsse, so steht zu lesen, seine Bücher als Manuale oder Werkzeuge für den Widerstand oder den Exodus gebrauchen, so wie jene Gegenstände, die der Flüchtende (nach einem schönen Bild von Deleuze) anstelle von Waffen aufklaubt und in den Hosenbund steckt. Oder, mehr noch, als das Werk eines einzigartigen Strategen [...], dessen Aktionsfeld nicht so sehr das Schlachtfeld ist, auf dem die Truppen in Stellung gehen, als vielmehr das reine Vermögen des Verstandes.[20]

Diese Worte können als Fazit der theoriepolitischen Lektüre gelten, die hier unternommen wurde. Hier sollte anhand der drei Neuerscheinungen von Giorgio Agamben und vor dem Hintergrund der beiden philosophisch-politischen Dreiecke gezeigt werden, welche begriffliche Bewegung dem unteren linken Eck des politischen Dreiecks angemessen sein könnte, um auf diese Weise Hinweise zu einer aktualisierenden Lektüre (nicht nur) Agambens zu geben.

Meine These war dabei nicht, dass das politische Dreieck mit dem philosophischen bruchlos konvergiert. Beide Dreiecke können hier nur als Modelle gelten, die eine relative Autonomie gegenüber dem jeweils anderen behaupten. Entsprechend müssen einzelne Akteure nicht in beiden Dreiecken dieselbe Position einnehmen. Auf Agamben sollte ebenso wenig wie auf irgendjemanden sonst vertraut werden. Nicht darum ging es hier.

Stattdessen sollte demonstriert werden, wie der theoriepolitische Ort Agambens und die ihm adäquate Begriffsbewegung (im Geflecht seiner philosophischen Verwandtschaftsbeziehungen) als Arsenal für eine linke intellektuelle Praxis nützlich sein könnte.

Darüber hinaus steht zu vermuten, dass es in der politischen Zuspitzung philosophischer Diskurse eine zunehmende Kongruenz der beiden Dreiecke geben wird. Vor allem einer intellektuellen Praxis, die in diese Richtung führt und auf dieser Grundlage agiert, möchte ich hier Lesehinweise gegeben haben.

[1] In der akademischen Diskussion wird heute gerne darauf hingewiesen, dass liberalism in den Vereinigten Staaten etwas anderes als Liberalismus in Kontinentaleuropa meint. Liberals – philosophisch meist Erben des Pragmatismus – sollen auf diese Weise mit einem Fuß in einen quasi-sozialistischen, mindestens aber gesellschaftskritischen Kontext gerückt werden. Die publizistische Emphase der liberals für die Vervollständigung globaler Märkte unter universalistischen Vorzeichen („Menschen­rechte“) ebnet solche Differenzierungen jedoch zunehmend ein. Diesbezüglich teilen sie das Schick­sal der sozialdemokratischen Regierungsparteien. Im politischen Streitfall Seattle (siehe Richard Rorty) oder Kosovo (siehe Jürgen Habermas) finden sich jene liberals zuverlässig auf Seiten der liberalistischen, neoliberalen Politik wieder. Die Linie Kant-Habermas-Westerwelle an der Spitze von L (Schema 1) und A (Schema 2) enthält auf dieses Weise zwar ihre eigenen Brüche, aber ganz offenkundig funktioniert sie.

[2] Zu den postleninistischen Konzeptionen vergleiche Slavoj Žižek: Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2002 und Alain Badiou et al.: Politik der Wahrheit, Wien (Turia und Kant) 1997.

[3] Vgl. Jean-Luc Nancy: Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des >Kommunismus< zur Gemeinschaftlichkeit der >Existenz<, in: Joseph Vogl (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/M. (Suhrkamp), 1994, S. 167-204. Siehe auch: Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart (Edition Patricia Schwarz) 1988.

[4] Vgl. Chantal Mouffe (Hg.): The Challenge of Carl Schmitt, London (Verso), 1999.

[5] Vgl. Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M. (Suhrkamp), 2002.

[6] Theodor W. Adorno/Walter Benjamin: Briefwechsel. Briefwechsel 1928-1940, hg. von Henri Lonitz, Frankfurt/M 1995, S. 193.

[7] Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1973 ff., (im Folgenden GS) Bd. I.2, S. 695.

[8] Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt/M. (Suhrkamp), 2003. (Im Folgenden: WvAb).

[9] Mit „muslimisch“ im religiösen Sinn hat der Begriff des Muselmanns nichts zu tun.Er hat sich in der Sprache der Lagerhäftlinge eingespielt, um diejenigen Häftlinge zu bezeichnen, die sich dem Lageralltag passiv überlassen haben. Sie sind gekennzeichnet durch eine Reihe von spezifischen psychischen und physischen Krankheitssymptomen, die durch die Lagerbedingungen hervorgerufen wurden. Die Entstehungsgeschichte des Bergriffs ist umstritten. Siehe dazu WvAb, S. 38f.

[10] Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt/M. (Fischer) 1997, S. 230.

[11] Bertolt Brecht: Zum Freitod des Flüchtlings W.B., in: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1981, S. 829.

[12] Lorenz Jäger: Wie kann man für den Nicht-Menschen sprechen?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Literaturbeilage), 7.10.2003.

[13] Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. (Suhrkamp), 2002.

[14] Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt/M. (Suhrkamp), 2003. (Im Folgenden: DO)

[15] Karl Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, in: Marx Engels Werke (MEW), Ost-Berlin (Dietz) 1953 ff., Ergänzungsband 1, S. 538.

[16] Friedrich Hölderlin: Das Gasthaus, in: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, München und Wien (Hanser) 1992, Bd.I, S. 308.

[17] Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft, Berlin (Merve), 2003. Im Folgenden: KG.

[18] Vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M. (Suhrkamp), 1974.

[19] Walter Benjamin: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz, GS II.1, S. 295-310.

[20] Giorgio Agamben: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg/Berlin (Diaphanes) 2001, S. 73 f.

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