Berichte

„Rot-Rote Gespenster" in Thüringen? Demokratisch-sozialistische Reformpolitik einst und heute

Thüringer Forum für Bildung und Wissenschaft e.V., 12./13. September 2003 in Weimar

Dezember 2003

Die Jahre von 1921 bis 1923 waren eine geschichtliche Phase, die stark unter den Auswirkungen des Weltkrieges, der Novemberrevolution und der Suche nach neu­en politischen Wegen und Zielen stand. Das zeigte sich bei den Wahlen von 1920 und 1921, in denen die Arbeiterparteien stets über 49 % der Stimmen gewinnen und von Oktober 1921 bis Februar 1924 SPD-USPD-Regierungen, zuletzt mit Beteiligung der KPD, bilden konnten. Diese Konstellation wurde durch eine Art „Reichsexekution“ beseitigt. Die Tagung zeichnete sich auch dadurch aus, dass gegenwärtige linke Politiker aus Thüringen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern ihre Erfahrungen einbrachten

In der Eröffnung charakterisierte Manfred Weißbecker, Jena, das damalige sozialdemokratische thüringische Staatsministeriums mit der Erklärung seines Vorsitzenden August Frölich, seine Regierung verstehe sich nicht zuletzt als Schützerin der Armen und notleidenden Massen. Damit waren bestimmte Maßstäbe gesetzt worden.

Klaus Kinner, Leipzig, arbeitete die Problematik linker Kräfte heraus, ein aus­gewogenes Verhältnis zwischen fundamentaler Kritik am Gesellschaftssys­tem und machbarer Realpolitik zu finden. Er erinnerte an Einschätzungen von Clara Zetkin, Ernst Meyer, Heinrich Brandler u.a., dass sich die Linken vor allem der Rechtsentwicklung entgegen zu stellen haben, nicht in einen nationalen Nihilismus verfallen, nicht auf einen „roten Oktober 1923“ oder auf eine Weltrevolution bauen dürften. Solche Funktionäre der KPD und der KPD-O seien in grundsätzlichen Fragen oft überzeugend gewesen.

Über die große Beachtung, die Hermann Brill, Anna Siemsen, A. Frölich u.a. der Thüringer SPD in der linkssozialdemokratischen Theoriebildung der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts erfuhren, sprach Uwe Roßbach, Erfurt. Seit dem Godesberger Parteitag sei in der SPD keine grundlegende Diskussion über Strategie und Taktik der Partei mehr geführt worden.

M. Weißbecker setzte sich mit der reaktionären, auch antisemitischen Politik des Thüringer Ordnungsbundes – einer von der DDP unterstützten Vereinigung konservativer Parteien – auseinander, der von Dezember 1923 bis 1927 vor allem die demokratischen und linken Kräfte Thüringens heftig angriff. Während der Ordnungsbund den 9. November 1918 herabzuwürdigen suchte, bestand Ministerpräsident A. Frölich darauf, dass es ohne diesen 9. November 1918 keine demokratische Republik gebe und er oft lieber mit den Kommu­nisten als mit den Vertretern konservativ-nationalistischer Parteien zusammenarbeite. Das maßlose Konkurrenzverhalten von KPD und SPD sei von bürgerlichen Kräften rücksichtslos ausgenutzt worden. Schon damals habe aber der demokratische Republikaner Josef Wirth hervorgehoben, dass der Feind rechts stehe. Die historische Aufarbeitung der „Sündenregister“ rechter und linker Parteien und Organisationen in Thüringen sei noch nicht erfolgt. Josef Schwarz, Erfurt, hob die maßgebliche Rolle A. Frölichs bei der Durchsetzung von Reformen in Thüringen hervor. Drei Notverordnungen dienten – trotz Wirtschaftskrise und Inflation – der Versorgung der Ärmsten und dem politischen Kampf gegen rechte und linke Extremisten.

Paul Mitzenheim, Jena, konzentrierte sich auf die „Greilsche Schulreform“ von 1921 bis 1923, die von allen rechten Kräften bekämpft und wenig später aufgehoben wurde. Ein Vorschlag der KPD, revanchistische, monarchistische und militaristische Propaganda an Schulen zu unterbinden, wurde aufgegriffen. Mit dem Neuaufbau von Berufsschulen seien über 90 Prozent der entsprechenden Jugendlichen erfasst worden. Max Greil förderte auch die Bauhausschule unter W. Gropius in Weimar. Einen analogen Fortschritt im Schulwesen habe es damals in keinem der anderen deutschen Länder gegeben. J. Schwarz ergänzte, dass es in der Bildungspolitik schon damals um die Durchsetzung gleicher Chancen für alle Kinder ging. Mario Kessler, Berlin, würdigte die geschichtswissenschaftlichen Arbeiten von Arthur Rosenberg zur Weimarer Republik und seine politischen Aktivitäten zunächst in der USPD, dann KPD, die er aber 1927 verließ. 1933 musste er nach England und später in die USA flüchten.

Die damalige KPD-Position zur Kommunalpolitik, in der Räte (so schon Rosa Luxemburg) eine entscheidende Rolle spielen sollten, um (nach Marx) mehr Öffentlichkeit und Kontrolle zu erreichen, untersuchte Mario Hesselbarth, Wintersdorf. Steffen Kachel, Erfurt, legte dar, dass die meisten Mitglieder der KPD-Opposition 1929 aus ihren Fraktionen und Bezirksleitungen, so auch in Thüringen, ausgeschlossen wurden. Zugleich waren Thüringer SPD-Mit­glieder im linkssozialistischen Denken – so in der Parteischule Gera-Tinz – stark engagiert. Es ging allen Linken darum, den Gewählten mehr Verantwortung zu übertragen und die „autokratischen Zirkel“ aufzuheben. Gertraude Remer, Jena, arbeitete heraus, dass das so genannte Bodensperrgesetz Thüringens vom Mai 1923 ein bemerkenswerter Ansatz zur Verbesserung der Wohnungssituation der unteren sozialen Schichten war, die sich nach dem Weltkrieg stark verschlechtert hatte.

Über Bemühungen, eine Reihe progressiver Gedanken und Schritte in der Thüringer Bildungspolitik der frühen zwanziger Jahre für heute nutzbar zu machen, sprach Michaele Sojka (MdL). Sie wies auf das bildungspolitische Konzept der Thüringer PDS und seine Schwerpunkte hin: 1. Chancengleichheit und länger gemeinsam lernen, 2. Integration durch frühe Förderung, 3. Ganztagsangebote, 4. Selbständigkeit der Einrichtungen und größere Mitbestimmung, 5. Bildungsfinanzierung als Zukunftsinvestition. Ähnlichen Fragen widmete sich Barbara Mergner, Bad Berka, die ihre Ausführungen über die unterschiedliche Situation in deutschen und finnischen Schulen mit Diagrammen überzeugend untersetzte. Das Schulprogramm der linken Thüringer Regierung von 1920 sei noch aktuell. In Bayern würden heute ca. 20 Prozent der Schüler in Privatschulen wechseln, weil der Leistungsstand in staatlichen Schulen zu schwach sei.

Sigrun Lingel, Hermsdorf, legte dar, dass ein soziales Miteinander von Schülern, Lehrern und Eltern von den Linken schon in den zwanziger Jahren als sehr wichtig eingeschätzt wurde. Das Beispiel der damals von Peter Petersen begründeten und bis heute wirkenden Jenaplan-Schule mache deutlich, dass z.B. Altersgleichheit der Schüler nicht Bedingung für ihre erfolgreiche Entwicklung sei. H. Borchert, Riethnordhausen, vom Freidenkerverband Thüringen, sprach sich dafür aus, den Schülern eine praxisorientiertere Ausbildung zu bieten, ihre Tätigkeiten bewusster zu entwickeln und ein integriertes Lernen mindestens bis zum 6. Schuljahr einzuführen. In der Diskussion wurden gute Beispiele aus den Schulsystemen auch anderer Länder angeführt.

Heide Wildauer (MdL) verwies darauf, dass die damalige Rot-Rote Regierung nur auf wenige Erfahrungen in der Kommunalpolitik zurückgreifen konnte. Ihr Ziel war es aber, den Städten und Gemeinden möglichst weitreichende Rechte zu geben und den Großgrundbesitz finanziell stärker heranzuziehen. In der heutigen Thüringer Verfassung sei nicht das Kollektivitätsprinzip Bund-Land enthalten, was auch zur finanziellen Misere des Landes beitrage. St. Kachel ergänzte, dass die PDS Thüringens für 2-3 konkrete Kommunal- und Bildungsprojekte die notwendigen Finanzen einfordern sollte. Die Durchsetzung linker Kommunalpolitik damals wie heute, so Frank Kuschel, Erfurt, sei schwierig, aber punktuell möglich, obwohl 86 Prozent aller rechtlichen Entscheidungen durch die EU und die BRD bestimmt würden. Linke Politiker müssten bestimmte Prioritäten setzen, für eine durchschaubarere Politik und eine stärkere Bürgerbeteiligung sorgen. Solchen Gedanken schloss sich Steffen Harzer, Bürgermeister in Hildburghausen, an, der unterstrich, vor allem die Kommunen seien letztlich für die Bürger da, aber sie müssten von einer Reihe Aufgaben entlastet werden. Besonders nachhaltig auf dieser Tagung waren die Ausführungen des Schülers Harras vom Gutenberg-Gymnasium in Erfurt, der über seine Erfahrungen und Schlussfolgerungen nach dem Amoklauf seines ehemaligen Mitschülers berichtete. Er kritisierte u.a. die zu großen Klassenstärken, das unterkühlte „Rüberbringen“ des Lehrstoffs im Unterricht, den häufigen Wechsel der Lehrer und der Zusammensetzung der Klassen-Faktoren, die ein solches katastrophales Ereignis begünstigten.

Um sehr aktuell-politische Probleme ging es in der Podiumsdiskussion, die von der stellvertretenden Vorsitzenden der Thüringer PDS Ina Leukefeld, vom Mitglied der Berliner PDS-Fraktion Udo Wolf, vom Staatssekretär im Schweriner Arbeitsministerium Dr. Klaus Sühl sowie vom Vorsitzenden der Thüringer PDS-Landtagsfraktion Bodo Ramelow bestritten wurde. Im Mittelpunkt der Diskussion stand stets das Verhältnis von programmatischen Zielen und machbarer Realpolitik unserer Tage.