Internationale Politik

Pax Romana = Pax Americana?

Über die Aussichten einer amerikanischen Weltherrschaft im Lichte der Erfahrungen der Römischen Republik

September 2004

Je geringer die Kenntnis der Vergangenheit, desto leichter sind offenbar auch heute noch die Menschen zu verführen, Gegenwärtiges für Unvermeidliches anzusehen, als Resultat einer allgemeingültigen Entwicklung zu sehen und als in Zukunft nicht mehr Wegzudenkendes aufzufassen. Insbesondere über das Vehikel der Globalisierung“ hat diese Rezeption weite Verbreitung gefunden. Zeichen gegen derartiges eindimensionales Denken zu setzen ist nötig und u. a. möglich bei Anwendung des historischen Vergleichs.

1. Gemeinsamkeit: Militärische Allmacht und selbstgefällige Kriegsmoral

Vergleiche zwischen den USA und dem Römischen Reich, nicht erst seit gestern geführt[1], werden in jüngster Zeit häufiger gezogen.[2] Das ist kein Zufall. Seit über einem Jahrzehnt, nach dem Zerfall der Sowjetunion, sind die USA die einzige Weltmacht, allen andern Staaten eindeutig überlegen. Wer im europäischen Gesichtskreis in die Geschichte schaut und Parallelen sucht, findet sie nicht zuletzt im Römischen Reich, das ab dem 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, nach der Niederringung Karthagos, den Mittelmeerraum, den Makrokosmos der antiken Welt, beherrschte.[3] Die Vergleiche beziehen sich vor allem auf den politischem und militärischen Bereich, genauer: auf die imperialen Bestrebungen beider Mächte, auf den Mechanismus der Macht. Pax Romana[4] bzw. Pax Americana[5] sind in diesem Zusammenhang häufig gebrauchte Schlüsselworte. Tatsächlich ist die Ähnlichkeit beider Staaten hinsichtlich der militärischen Überlegenheit gegenüber den übrigen Staaten ihres Weltkreises auffallend. Die auf die Stellung Roms im Mittelmeerraum im 1. Jahrzehnt des 2. Jahrhunderts v. u. Z. bezogenen Sätze des Althistorikers Benedictus Niese: „Die Überlegenheit der römischen Waffen war unzweifelhaft dargetan und ward überall anerkannt. Die Römer fühlten sich jetzt als die Herren der Welt, denen nichts mehr widerstehen könnte“[6], und als ihre Folge eine asymmetrische Kriegsführung, ist – im übertragenen Sinne und bezogen auf die USA – auch auf das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts n. u. Z. anwendbar. Was Rom betraf: Keiner der anderen Anrainerstaaten des Mittelmeeres konnte oder wollte überhaupt der Kriegsmaschinerie der imperialen Macht ernsthaft Widerstand entgegen setzen. Was die USA betrifft: Militärischen Widerstand könnten ihnen, wenn überhaupt, nur die wenigen Atommächte leisten. Eine Herausforderung für die USA, gar eine Gegenmacht sind diese Staaten allerdings nicht. Zumal die USA den Ersteinsatz von Atomwaffen in einem Präventivschlag nicht ausschließen.[7] Mehr als zwei Jahrtausende zuvor wurden die Militäroperationen der Römer dank der erdrückenden militärischen Überlegenheit der Legionen immer mehr zu Spaziergängen. Fast so wie im Jahre 2003 n. u. Z. im Irak kam es im 2. Jahrhundert v. u. Z.. im Mittelmeergebiet zu Opfern unter der Bevölkerung eher als Folge des Auftretens der römischen Besetzer als durch die eigentlichen Kampfhandlungen.[8] Mit den drei Worten “Veni, vidi, vici!“ (Ich kam, ich sah , ich siegte) berichtete Cäsar im Jahre 47 v. u. Z. über seinem Feldzug gegen den König des Bosporanischen Reiches, Pharnakes, nach Rom.[9]

Roms Kriege galten den Römern immer als gerecht („iustum bellum“) und damit gerechtfertigt.[10] Der Althistoriker Alfred Heuss spricht von dem „notorisch guten Gewissen, das die Römer bei ihrem Imperialismus besaßen“.[11] Als gerechte Kriege hat die US-Regierung auch ihre Invasionen in Afghanistan und im Irak bezeichnet. Die Römer setzten in ihrer Kriegspropaganda das Recht, das sie immer auf ihrer Seite wähnten, gegen das Unrecht der anderen. Nach der herrschenden Auffassung in den USA siegten in Afghanistan und dem Irak das Gute gegen das „Reich des Bösen“, die Demokratie gegen die Diktatur, der Rechtsstaat gegen den Schurkenstaat.

2. Gemeinsamkeit: Indirekte Herrschaftsausübung nach der Niederwerfung der Gegner

Die Gemeinsamkeiten zwischen Rom und den USA betreffen aber nicht nur das erdrückende militärische Übergewicht und die selbstgefällige Kriegsmoral, sie betreffen auch die Behandlung des eroberten Gebietes nach den siegreichen Feldzügen. Darauf soll im folgenden näher eingegangen werden. Abschließend ist zu fragen, ob die Erkenntnisse über die römische Nachkriegspolitik auch einen Blick in die Zukunft der von den USA besetzten Länder und der von ihr dominierten Welt erlauben.

Da Rom über viele Jahrhunderte existierte und die Politik seiner Herrscher im Laufe der Zeit Wandlungen unterworfen war, ist der Vergleichszeitraum Antike noch einzugrenzen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das zweite Jahrhundert v. u. Z., die ersten Jahrzehnte nach dem zweiten Punischen Krieg, dessen Ausgang Rom zur unangefochtenen Supermacht im westlichen Mittelmeerraum machte[12], auf die Blütezeit der Römischen Republik also.[13] Anfang des 2. Jahrhunderts wandte sich Rom dem mediterranen Osten zu. In mehreren Feldzügen wurden zwischen 200 und 168 v.u.Z. die dortigen hellenistischen Herrscher nacheinander besiegt. Die niedergerungenen Gegner sollten Roms Weltordnung nicht mehr in Frage stellen können. Rom gedachte deswegen den östlichen Mittelmeerraum unter Kontrolle zu halten wie schon den westlichen, aber anders als an den Küsten des westlichen Mittelmeeres nicht selbst zu regieren, nicht alle Verantwortung selbst zu tragen. Anders gesagt: Die Römer wollten im östlichen Mittelmeerraum herrschen, aber nicht regieren. Zu diesem Zwecke setzte der römische Senat in Makedonien, den Staaten Griechenlands und in Kleinasien ihm genehme Herrscher ein. Offiziell blieben die griechischen Staaten unabhängig und konnten sich unter römischem Schutz frei entwickeln. Anlässlich der Isthmischen Spiele im Frühsommer 196 v.u.Z. in Korinth verkündete der römische Proconsul Flaminius den zusammengeströmten Griechen pathetisch: „Wir geben Freiheit und Selbstverwaltung, ohne Besatzungen hineinzulegen, ohne Tributzahlungen zu fordern ...“.[14] Trotz derartiger Rhetorik wurden die früher selbständigen Staaten zu Klientelstaaten Roms. Die Römer unterstützten jene Vertreter des wohlhabenden Bürgertums in den griechischen Stadtstaaten, die im Interesse des Römischen Senats Politik machten, weil sie sich von dem „Weltgendarm“ Unterstützung erhofften im Kampf gegen die zunehmende Zahl der Ärmeren und Armen, die die große Mehrzahl in ihren Staaten bildeten.

Dem Volk in dem Klientelstaat aber blieben dieser Zusammenhang und die Zusammenarbeit mit der Hegemonialmacht über längere Zeit nicht verborgen. „Es zeigte sich sehr bald“, schreibt der Althistoriker Alfred Heuss, „dass die überall zur Herrschaft gelangten Romfreunde bei ihren Landsleuten zusehends an Kredit verloren und in deren Augen nichts anders waren als eine geringe Minorität von Vaterlandsverrätern“.[15] Es gab in der Bevölkerung Unzufriedenheit, Hass auf Rom und die „Rom-Knechte“, sogar Aufstände. Es gab auch Vertreter der Aristokratie, die sich zu Sprechern der Unzufriedenen machten und an die Spitze der Aufständischen stellten. Der römische Senat musste in solchen Fällen mit seinen Legionen erneut eingreifen, um Ruhe und Ordnung, den „römischen Frieden“, wieder herzustellen und eine andere, den römischen Interessen ergebene Regierung einsetzen.

Das Musterbeispiel für die geschilderte Entwicklung war Makedonien. Nach dem Rom das Diadochenreich das erste Mal in den Jahren 200-197 v.u. Z. besiegt hatte, dem Herrscher Philipp nur noch eine minimale Kriegsmacht erlaubt wurde und er Geiseln zu stellen hatte, glaubte Rom seine indirekte Herrschaft über das Land auf Dauer gesichert. Doch keine dreißig Jahre später versuchte Philipps Sohn Perseus sich von Roms Vormachtstellung zu befreien. Der römische Senat sah sich gezwungen, erneut Krieg gegen Makedonien zu führen (171-168 v. u. Z.). Nach dem römischen Sieg musste Perseus in Rom hinter dem Triumphwagen des Feldherrn einherschreiten. Er wurde bis zu seinem Lebensende in Italien in Gefangenschaft gehalten.[16] Da der bisherige Klientelstaat versagt hatte, unternahm der römische Senat, auf der indirekten Herrschaft beharrend, andere Schritte. In Makedonien wurde das Königtum abgeschafft und das Land in vier Regionen aufgeteilt. Den einzelnen Zonen war die Verbindung untereinander untersagt, so dass weder die Eheschließungen in mehr als einer Region galten noch Eigentum in mehr als einer Region erworben werden konnte.

Sehr genau hatte Rom während des Krieges die Haltung seiner bereits früher gewonnenen Verbündeten registriert. Sie bekamen den Zorn des Senats zu spüren, sobald auch nur der Schatten eines Verdachts auf sie fiel, nicht den Sieg Roms gewünscht zu haben. Dem Herrscher von Pergamon (Kleinasien), Eumenes, verweigerte der Senat die Audienz. Er musste Italien verlassen, ohne empfangen worden zu sein. Die Regierenden auf Rhodos hatten zwischen Rom und Perseus zu vermitteln versucht. Rom sah das als Treulosigkeit an in einem Kampf zur Absicherung der Pax Romana, der nach der herrschenden Meinung in Rom eine unbedingte Parteinahme verlangte.[17]

Doch der „römische Frieden“ in Makedonien stand immer noch nicht auf solider Grundlage. Der Hass auf die neu eingesetzte romfreundliche Aristokratie wuchs rasch. Als ein gewisser Andriskos auftrat, sich für den Sohn des Perseus ausgab und den Namen Philipp annahm, erhielt er großen Zulauf. Die Herrscher von Roms Gnaden wurden gestürzt. Es dauerte fast vier Jahre, bevor die römischen Legionen das Land wieder voll unter Kontrolle hatten (171-168 v. u. Z). Nunmehr hatten die Römer begriffen, dass das Klientelstaatensystem, soviel Entlastung sie sich auch davon versprochen hatten, in Makedonien nie wirklich funktionieren würde, und sie entschlossen sich (148 v. u. Z) – eigentlich nicht aus freiem Willen – Makedonien als römische Provinz einzurichten. Es war die erste römische Provinz im östlichen Mittelmeerraum. Weitere folgten – Achaia (Südgriechenland) 146[18], Asia (West-Kleinasien) 133 v. u. Z. Das geschah nicht nach Plan, sondern weil Aufstände der unzufriedenen Bevölkerung gegen die Rom ergebene eigene Obrigkeit römische Militäreinsätze nach sich zogen und abzusehen war, dass mit einer anderen Besetzung der Spitze der Klientelstaaten auf Dauer auch keine „Befriedung“ zu erreichen war.[19]

Bis in die Mitte des ersten Jahrhunderts hielt Rom aber, sofern es irgend ging, im östlichen Mittelmeerraum am Klientelstaatensystem fest. Die Einrichtung einer Provinz war nur der letzte Notbehelf in Ländern, die man nicht sich selbst überlassen konnte, weil sie zu Heimstätten ständiger Unruhe geworden waren. Das Ergebnis war ein Flickenteppich von Provinzen und Klientelstaaten. Erst Augustus betrieb systematisch die Einrichtung neuer Provinzen. Er füllte Lücken und rundete das römische Herrschaftsgebiet im östlichen Mittelmeerraum zu einem territorialen Ganzen ab.[20]

Auch den USA schwebt derzeit, wie einst der Römischen Republik, keine direkte Herrschaftsausübung vor. Der britische Soziologe und Historiker Michael Mann ist wie Peter Bender der Meinung, dass das amerikanische Empire seine weitgehend indirekte und informelle Gestalt behalten wolle, wobei bisweilen Drohungen, Zwang oder die militärische Invasion fremder Gebiete eingeplant sind.[21]Der neue amerikanische Imperialismus werde so zu einem neuen amerikanischen Militarismus werden, analog zu Rom, das sich allerdings „immer im Krieg“ befunden habe.[22]

Die neuen Klientelstaaten der USA, Afghanistan und Irak, sind als solche noch im Entstehen begriffen. In Afghanistan wurde Hamid Karsai als Präsident eingesetzt. Sowohl für Afghanistan als auch für den Irak wurde für das Jahr 2004 im Rahmen des „state building“ eine „demokratisch legitimierte“ Regierung von USA-Gnaden vorgesehen.

Aber schon jetzt gelten die neuen bzw. zukünftigen Regierungen dieser Länder als USA-hörig und werden teilweise bereits bekämpft. „Der Aufbau eines neuen Irak ist schwierig“, musste Bush in seiner „State of the Union“-Rede vom Januar 2004 zugeben, glaubt aber mit seiner „richtigen“ Handhabung der irakischen Nachkriegsordnung zu verhindern, dass es dort wie im ganzen Nahen Osten in Zukunft nicht mehr gelingen werde, „Männer und Bewegungen hervorzubringen, welche die Sicherheit Amerikas und ihrer Freunde bedrohen.“[23]

Es ist angesichts dieser Parallelen erlaubt zu fragen, ob das Klientelstaatensystem, das von Rom angestrebt wurde und nach vergleichsweise kurzer Zeit versagte, für die USA den beabsichtigten Zweck erfüllen kann. Oder werden sich die USA bequemen müssen, die einmal eroberten Länder dauerhaft zu besetzen und in „Provinzen“, in welchem Verhältnis zu den USA diese sich auch immer befinden werden, zu verwandeln? Ausgeschlossen scheint dies nicht. Im Lichte der römischen Erfahrungen ist es sogar wahrscheinlich. Den aus besiegten Schurkenstaaten bestehenden Flickenteppich von US-Provinzen in Asien kann man sich ohne allzu große Phantasie schon jetzt vorstellen. Man braucht nur die Verlautbarungen führender amerikanischer Politiker zur Kenntnis zu nehmen, und sich zu erinnern, dass neben dem bereits kassierten Irak Nordkorea und Iran als „Achse des Bösen“ bezeichnet wurden.[24]

3. Unterschied: Statt reiner Herrschaftssicherung „Nation auf Mission“

Lässt sich vor dem Hintergrund dieser historischen Analogien annehmen, dass es den USA über dieses vergleichsweise aufwendige System der „Provinzenherrschaft“ gelingen kann, ein Herrschaftsgebiet auf Dauer zu etablieren, wie es den Römern für einige Jahrhunderte gelang ?

Allzu viel spricht nicht dafür, dass die USA, ähnlich wie einst die Römer, Erfolg dabei haben werden, die eroberten Gebiete als „Provinzen“ zu befrieden. Denn US-Amerikaner und Römer unterscheiden sich bei aller Ähnlichkeit als imperiale Mächte sehr deutlich voneinander. Der Alt- und Zeithistoriker Peter Bender hat diesen Unterschied so formuliert. „Die Römer wollten die Welt nicht verbessern, sondern beherrschen; die Welt nach dem eigenen Bild zu formen war und blieb der politische Traum der Amerikaner“.[25] Sie sind eine „Nation auf Mission“. Anders ausgedrückt, die Ideologie spielt beim Herrschaftsstreben der USA eine ganz wesentliche Rolle, hatte dagegen vergleichsweise geringe Bedeutung bei den Römern.

Das soll hier am Beispiel des Verhältnisses zur Religion verdeutlicht werden. Im gesellschaftlichen Leben der Römer (im Vergleich zu den Griechen) wie der US-Amerikaner (im Vergleich zu den Europäern) spielte bzw. spielt die Religion eine große Rolle. Wie bei der Bewerbung um die öffentlichen Ämter in der Römischen Republik demonstrieren auch in den USA in den Wahlkämpfen die Kandidaten ihre Religiosität.[26] Und doch bestehen im Verhältnis beider Völker zur Religion deutliche Unterschiede. „Für die Römer,“ schreibt Bender, „war die Religion vor allem Ritual, die sorgfältige, peinlich genaue und nie versäumte Pflege der Beziehung zu den überirdischen Mächten.“ Dagegen „fühlen sich gläubige Amerikaner als Werkzeug Gottes und betrachten die Vereinigten Staaten als ‚Neues Jerusalem, vom Himmel gesandt’“,[27] als „god’s own country“[28]. Präsident George W. Bush konnte den US-Bürgern im Januar 2004 in seiner „State of the Union“-Rede zurufen: „Die Sache, der wir dienen, ist richtig, denn sie ist die Sache der ganzen Menschheit. Wir können jener größeren Macht vertrauen, die die Entfaltung der Jahre steuert. Und bei allem, was da kommt, wissen wir, dass Seine Absichten gerecht und wahrhaftig sind. Möge Gott die Vereinigten Staaten auch weiterhin segnen.“[29] Dieses andere Verhältnis zur Religion (bzw. Ideologie) hatte bzw. hat Konsequenzen, wenn es um das Verhältnis der Universalmächte zu den von ihnen abhängigen bzw. von ihnen unterworfenen Völkern geht.

Wie die USA ließ Rom seine militärische Feinde nicht wieder hochkommen. Aber wenn die Elite der einverleibten Reiche die politische und militärische Vorherrschaft Roms erst einmal akzeptiert hatte, dann bestanden die römischen Provinzgouverneure, die Prätoren, nicht darauf, dass die eroberten Gebiete auch nach römischer Fasson selig werden mussten. Rom verlangte, darin ganz Staat seiner Zeit, von den Unterworfenen nicht, den eigenen Göttern und Kulten abzuschwören und traditionellen Riten und Rituale durch römische zu ersetzen, sondern forderte lediglich die Akzeptanz der Vorrangigkeit (bzw. Erstrangigkeit) des römischen Götterkultes gegenüber dem lokalen, traditionellen. Michael Mann schreibt darüber: „Im Zuge der imperialen Eroberungen hatte die Religion so etwas wie ein Zweistufenritual der sozialen Kontrolle ausgebildet: Die lokalen Religionen konnten toleriert und sogar funktional genutzt werden, wenn man ihre lokalen Götter und Rituale an die des Staates band. Die Integration des Römischen Reiches war ideologisch auf die pax deorum, den Frieden der Götter, angewiesen.“[30] Erst in Verbindung mit der Pax Deorum stabilisierte die Pax Romana das römische Imperium wie keines seiner eurasischen Vorgänger- und Nachfolgerreiche.[31]

Wie sind, so fragt man sich in Fortsetzung des unternommenen Vergleichs, die Voraussetzungen in den USA beschaffen, die Pax Americana mit der Pax Deorum, mit der Akzeptanz religiöser wie kultureller und geistiger Vielfalt auf der Welt zu verbinden und auf diese Weise die amerikanische Weltherrschaft im 21. Jahrhundert in eine Dauereinrichtung zu verwandeln? Stellvertretend für viele sei dazu auf die Einschätzung von John Gray verwiesen. Der studierte Ökonom war Anfang der achtziger Jahre „Cheftheoretiker“ der britischen Premierministerin Margaret Thatcher und einer der geistigen Väter des „Thatcherismus“, mit dem die heute weltweit herrschende neoliberale Wirtschaftstheorie, etwa zeitgleich mit den „Reagonomics“ in den USA, die kapitalistischen Hauptländer prägte. Gray hatte in den 80er Jahren genügend Gelegenheit, die heute in den USA herrschende neokonservative Ideologie gut kennen zu lernen und ‑ nach seiner geistigen Trennung vom Thatcherismus ‑ als Professor für European Thought an der London School of Economics Zeit und Muße, die weitere Entwicklung des amerikanischen Zeitgeistes zu verfolgen. Wichtig ist sicher noch, zu vermerken, dass sein Buch „Die falsche Verheißung“ im Jahre 1998, also vor dem 11. September 2001 erschien, als das Selbstverständnis der herrschenden neokonservativen Schicht in den USA noch nicht weltweit Beachtung fand. Gray schrieb über den amerikanischen Neokonservatismus: „Während Reagans Amtszeit wurde das öffentliche Bewusstsein dahingehend umgeformt, dass ihm zuletzt die Imperative des freien Marktes, die Interessen der großen Konzerne und die Freiheitsrechte samt den Grundsätzen ihrer Ausübung als ein und dasselbe galten. ... Der amerikanische Kapitalismus galt als Verwirklichung von Freiheit, und die Struktur der freien Marktwirtschaft in Amerika schien sich mit den Imperativen der Menschenrechte zu decken. ... Man setzte amerikanische Institutionen mit dem freien Markt gleich. ... Das gegenwärtige Projekt eines einzigen globalen Marktes ist die vom aufsteigenden Neokonservatismus vereinnahmte universale Mission Amerikas. Die Utopie des Marktes hat sich erfolgreich des amerikanischen Glaubens bemächtigt, ein einzigartiges Land zu sein, das Modell einer universalen Zivilisation, das allen Gesellschaften zur Nachahmung bestimmt ist. ...Wirtschaft und Politik der USA agieren unter der Voraussetzung, dass sie amerikanische Werte bis in den letzten Winkel der Erde tragen können ... .“[32] Genau in diesem Sinne argumentierte George W. Bush. Es sei „falsch und herablassend“, verteidigte er in seiner „State of the Union“-Rede vom Januar 2004 Amerikas „Mission“ im Nahen Osten, „anzunehmen, dass ganze Kulturen und große Regionen unvereinbar mit Freiheit und Selbstregierung“ seien und nicht im Sinne der Pax Americana befriedet werden könnten.[33]

4. Ausblick

Heute ist auch für die europäischen Regierungen sichtbar und fühlbar, was Gray bereits in den 80er Jahren erkannte: Andere Werte als die amerikanischen werden in den USA überhaupt nicht mehr akzeptiert. Das neokonservative „amerikanische Credo“, das ließe sich mit den Stimmen einer Vielzahl von klugen Beobachtern der jüngsten Entwicklung der USA belegen, beschränkt sich nicht auf jenen Glauben, der auch die Römer schon prägte: den Glauben daran, zur Herrschaft über die Welt berufen zu sein. Die unbeirrbare Selbstgewissheit, dass Amerika die auserwählte Nation ist, bezieht der amerikanische Neokonservatismus auch auf Wirtschaft, auf Kultur und Ideologie und offensichtlich gerade auch – wie u.a. die Stellungnahme der amerikanische Führung zum sogenannten Flaggenurteil zeigt[34] – auf die Religion.

Während der Ära Reagan und in der Ära Bush ist, an frühere Traditionen von der „amerikanischen Mission“ anknüpfend, bis zum heutigen Zeitpunkt offensichtlich ausreichend falsches Selbstbewusstsein in große Teile der amerikanischen „Eliten“ und der amerikanischen Bevölkerung geflossen, um eine Verknüpfung der Pax Americana mit einer Pax Deorum unwahrscheinlich werden zu lassen. Der „amerikanischen Mission“ zu folgen, werden sich die „Prätoren“ in den in Zukunft zu installierenden „Provinzen“ nicht entziehen können oder entziehen wollen. Die mit dem „amerikanischen Credo“ verbundene Intoleranz der Supermacht über den militärischen und politischen Bereich hinaus wird den USA in ihrem Herrschaftsgebiet Widerstände provozieren, wie sie das römische Kaiserreich in seiner Blütezeit, dem 1. und 2. Jahrhundert u. Z.[35] nicht kannte. Für das gerade begonnene 21. Jahrhundert lässt sich die Prognose wagen, dass fürs Erste die Durchsetzung der amerikanischen Weltherrschaft durch die „Demokratisierung“ immer neuer Schurkenstaaten kaum aufzuhalten ist. Aber die Chance, dass es sich um eine Herrschaft von Dauer handeln wird, ähnlich wie im Falle Roms, dürfte wegen der andersgearteten Zielstellung der US-amerikanischen Machtausübung gering sein.

[1] Vgl. z. B. Jürgen Kuczynski: Gesellschaften im Untergang. Vergleichende Niedergangsgeschichte vom Römischen Reich bis zu den Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin 1984.

[2] Das wohl wichtigste im deutschen Sprachraum dazu erschienene Werk ist das Buch von Bender (Weltmacht Amerika. Das Neue Rom, Stuttgart 2003).

[3] Andere Großstaaten mit zumindest dem Anspruch , Universalreiche zu sein, waren im Europäischen Raum das Reich Karls des Großen, das Reich Karls V., das Osmanische und das Napoleonische Reich. Vgl. die sorgfältige Auflistung der Universalreiche in Karl Heinz Domdey, Globale Alleinherrschaft, Oligarchie oder ...? US-Universalmacht versus EU-Hybris, Berlin 2004, S. 47 f.

[4] Der Pax Romana lag die Auffassung zugrunde, dass Rom das Recht habe, notfalls auch präventiv „für seinen Schutz zu sorgen, und wenn dann unter diesem Vorzeichen auf der einen Seite dieses Ziel erreicht wird ..., Machtgewinn und Herrschaftserweiterung als notwendige Konsequenz“ anzusehen. (Heuss 1998, S. 553). Der Friede, der Sieg und Unterwerfung der Gegner zur Voraussetzung hat, war schon römisches Selbstverständnis, bevor es zur Ausformulierung der Pax Romana kam. Als Pax Augusta ist sie seit der Beginn unserer Zeitrechnung nachweisbar (vgl. J. Irmscher /R. Johne (Hrsg.), Lexikon der Antike, 7. Aufl., Leipzig 1985, S. 414).

[5] Zur Definition der Pax Americana vgl. M. Brie, Das Gespenst des Antiamerikanismus ­- Nebelwand der amerikanistischen Herrschaftsideologie, in: Utopie kreativ, 138/2002, S. 309. In diesem Zusammenhang sei nur auf das von den USA beanspruchte Recht auf Präventivschlag hingewiesen. In seiner „State of the Union“-Rede vom Januar 2004 hat Präsident Bush auf dies selbst angemaßte Recht noch einmal ausdrücklich hingewiesen: „Amerika wird niemals um Erlaubnis bitten, die Sicherheit unseres Landes zu verteidigen.“ (Neues Deutschland vom 22.1.2004).

[6] Benedictus Niese, Grundriss der Römischen Geschichte nebst Quellenkunde, 4. Auflage, München 1910, S. 136.

[7] Vgl. dazu Domdey 2004, S. 21-22, 33.

[8] Vgl. Horst Dieter/Rigobert Günther, Römische Geschichte bis 476, Berlin 1979, S. 225.

[9] Vgl. Niese 1910, S. 250-251.

[10] Dazu heißt es bei Heuss: „Dieser Begriff des iustum bellum verbürgt natürlich keinerlei objektive Rechtmäßigkeit, aber er unterstützte die spezifisch römische Optik und trug dazu bei, den Römern ihren Glauben zu erhalten, sie verteidigten nur ihren Status, und alle Bewegungen gingen von den fremden Störenfrieden aus.“ (Alfred Heuss, Römische Geschichte, 6. Auflage, Paderborn 1998, S. 554).

[11] Zitiert in: Bender 2003, S. 211.

[12] Alfred Heuss schätzt ein, dass Rom nach dem Zweiten Punischen Krieg „über ein Kräftepotential verfügte, das im Raum seiner näheren und ferneren Nachbarn nichts Vergleichbares hatte“ (Heuss 1998, S. 97).

[13] Vgl. insbesondere Paul Groebe: Weltgeschichte im Grundriss, Leipzig 1928, S. 50-52.

[14] Zitiert in: Bender 2003, S. 135.

[15] Heuss 1998, S. 120.

[16] Vgl. Niese 1910, S. 139-143.

[17] Bender 2003, S. 157 f.

[18] Bis 27 v.u. Z. als Teil von Makedonien.

[19] Vgl. Dieter/Günther 1979, S. 91.

[20] Bender 2003, S. 249.

[21] Michael Mann, Die ohnmächtige Supermacht. Warum die USA die Welt nicht regieren können, Frankfurt a. M./New York 2003, S. 9 ff., 331 ff.

[22] Michael Mann, Geschichte der Macht. Vom Römischen Reich bis zum Vorabend der Industrialisierung, Frankfurt a. M./New York 1986, S. 47.

[23] Zitiert in: Süddeutsche Zeitung v. 22.1.2004.

[24] Zu den „Schurkenstaaten“ vgl. Domdey 2004, S. 19.

[25] Bender 2003, S. 191.

[26] So hat in Zusammenhang mit den Auswahlverfahren für den demokratischen Kandidaten der Präsidentschaftswahlen 2004 Liebermann, ein orthodoxer Jude, der demonstrativ an Wahlveranstaltungen am Sabbat nicht teilnimmt, seinem innerparteilichen Konkurrenten Dean vorgeworfen, er vergesse wohl, „dass der Glauben für unsere Staatsgründung zentral war und für unsere nationale Berufung zentral bleibt.“ ( R. v. Rimscha, In festem Glauben, in: Süddeutsche Zeitung v. 19.1.2004).

[27] Ebenda, S. 207-208.

[28] Die Bezeichnung „god‘s country“ bzw. „god‘s own country“ für die USA ist bereits seit 1865 bzw. 1921 nachweisbar.

[29] Zitiert in: Neues Deutschland v. 22.1.2004.

[30] Michael Mann, Geschichte der Macht. Vom Römischen Reich bis zum Vorabend der Industrialisierung, Frankfurt/New York 1986, S. 120.

[31] Eines ist in diesem Zusammenhang noch anzumerken: Die Weigerung der Christen, auch die Götter der Herren der bekannten Welt zu ehren, wurde von Rom verständlicherweise als eine politische Herausforderung betrachtet und bestraft. Bei den Christenverfolgungen handelte es sich seitens der römischen Kaiser, von Nero bis Diocletian, viel eher um eine politische Kampfmaßnahme als um einen Glaubenskrieg. Michael Mann weist auch darauf hin, dass diese Verweigerung darüber hinaus als pietätloser Akt betrachtet und bestraft wurde (Mann 1986, S. 120-121).

[32] Ich zitiere hier nach der 1999 erschienen deutschen Ausgabe: Gray, Die falsche Verheißung. Der globale Kapitalismus und seine Folgen, Berlin 1999, S. 144, 145, 150, 151, 176.

[33] Zitiert in: Süddeutsche Zeitung v. 22.1.2004.

[34] Präsident Bush nannte die Entscheidung einer Kammer des Bundesberufungsgerichts in San Francisco von Ende Juni 2002, die besagte, dass der Hinweis auf Gott im Treueschwur auf die Fahne verfassungswidrig ist, weil er den Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche verletzt, „lächerlich“. Millionen amerikanischer Schulkinder haben den Treueschwur, in dem die USA als „Nation unter Gott“ bezeichnet werden, jeden Morgen zu sprechen (vgl. Neues Deutschland v. 29./30.6. 2002).

[35] Peter Bender, Das Amerikanische und das Römische Imperium. Ein Vergleich, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken, Heft 617-618/2000, S. 900.