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In Verteidigung der Wahrheit

Alain Badious Ontologie der Revolution

September 2004

I. Emanzipation offensiv denken

Die historische Defensive der politischen Linken hat sich im philosophischen Denken nachdrücklich niedergeschlagen. Zwei Haupttendenzen haben ihr theoriepolitisch Ausdruck gegeben und mindestens ein Jahrzehnt lang die Abkehr von einem linken Theorieparadigma untermauert.

Einerseits trat das Projekt eines liberalistischen Universalismus auf den Plan, das auf philosophische Westanbindung, auf die „normativen Potentiale“ der bürgerlichen Institutionen und der kapitalistischen Moderne setzte. Insbesondere in Deutschland wurde diese theoriepolitische Wende dominant und paradoxerweise ist ihr impliziter Antimarxismus aus der hegelmarxistischen Tradition der Kritischen Theorie hervorgegangen.

Andererseits bildete sich eine linke Skepsis heraus, die zwar die Legitimität partikularer Kämpfe gegenüber ihrer hegemonialen Verunglimpfung zu rechtfertigen in der Lage war, Emanzipation, Fortschritt oder gar Wahrheit jedoch nicht mehr offensiv denken wollte. Vor allem in Frankreich ließ sich dieses Denken lokalisieren und auch dort ging es auf explizit linke Traditionen zurück. Denker, die in den Kämpfen des Mai 68 an der Universität Vincennes aktiv waren und auch Protagonisten der Gruppe Socialisme ou Barbarie fanden sich zu einem großen Teil in dieser linken Skepsis wieder.

Noch heute mag mit der Rede vom „französischen Denken“ vor allem auf jene philosophische Sequenz im Anschluss an Foucault, Deleuze, Lyotard und Derrida angespielt sein. Allerdings ist längst eine neue Generation von französischen Philosophen auf den Plan getreten, die das französische Denken nach der Generation Deleuze-Derrida nicht ste­hen bleiben ließen: Jacques Rancière, Jean-Luc Nancy, Philippe Lacoue-Labarthe und eben Alain Badiou können allesamt mit dem Anspruch auftreten, eigenständige philosophische Modelle formuliert zu haben. Mit ihnen wird auch ein neuer theoriepolitischer Einsatz erkennbar.

Vieles verbindet sie mit der Generation Deleuze-Derrida – so auch das Schick­sal einer verzögerten deutschsprachigen Rezeption, die von kleinen Verlagshäusern ihren Ausgang nimmt. Vor allem aber ist die neuere Generation französischen Denkens der älteren durch einen streitbaren Geist verbunden, der sich in die Ambivalenzen des gesellschaftlichen Daseins hineinbewegt, anstatt sie in der Orientierung an symbolisch-politischen Positivitäten und abstraktem Normativismus zu befrieden. Auch heute ist das französische Denken an Konflikt und Widerstreit orientiert, so dass es, entsprechend, in den großen liberalistischen Konsensen der Gegenwart nicht seinen letzten Frieden zu finden bereit ist. Weiterhin treten französische Philosophen als politische Intellektuelle in Erscheinung, deren Philosophien sich zugleich auch als politische Eingriffe lesen lassen.

Für das Denken Alain Badious, der darauf beharrt, dass die Politik ein Denken ist, in dem Wahrheit möglich ist, gilt das in besonderer Weise. Gegenüber der älteren Generation französischen Denkens wird insbesondere an seinem Beispiel ein neues emanzipatives Pathos der Philosophie erkennbar.

Hatte Michel Foucault paradigmatisch große Wahrheitsmodelle durch die Orientierung an subversiven Mikrodiskursen aushöhlen wollen, um dem Politischen wieder einen konfliktualen Raum jenseits der Wahrheit zu eröffnen, so zeigt sich Badiou darüber hinaus um politische Verbindlichkeit bemüht. Seine Politik der Emanzipation, Alain Badiou wird sie ausdrücklich auch „Politik der Wahrheit“ nennen, gibt sich nicht mehr mit der Einsicht in den partikularistischen und konfliktualen Charakter des Politischen zufrieden (so heilsam diese Einsicht gegenüber einigen Bemühungen der imperialen Landnahme, die heute von der liberalistischen Vernunft ausgehen, auch sein mag), sondern gibt dem Kampf um Emanzipation eine neue philosophische Form.

Diese Bemühung kennzeichnet das Denken Alain Badious ebenso wie das von Jacques Rancière und Sylvain Lazarus – die ja, ebenso wie Badiou selbst, Schüler Louis Althussers waren. Vielleicht rechtfertigt sich die Rede von einer neuen Generation des französischen Denkens vor allem durch diese neue Offensive der Emanzipation, die das Modell eines kommenden Universalismus an die Stelle der bloßen Ambivalenz treten lässt. Ein konfliktuales Modell des Politischen tritt dabei hervor, das Konflikte weder in kruden Positivitäten aufzulösen bemüht ist (wie das eine Reihe von konsensualistischen oder kommunitaristischen Philosophien tut) noch den partikularistischen Widerstreit per se legitimiert, aber dennoch die Frage nach einer bestimmten Struktur des Konflikts und der Artikulation stellt, durch die hindurch so etwas wie Emanzipation erkennbar bleibt.

Denn, soviel steht nach drei Jahrzehnten der Feier von Mikrodiskursen langsam fest, nicht jeder Angriff auf die herrschende (symbolisch-politische) Ordnung und nicht jede Artikulation „minoritären Wissens“ steht im Zeichen der Gerechtigkeit. Ganz im Gegenteil mag gerade der politiktheoretische Relativismus eines Carl Schmitt verdeutlichen, dass das Beharren auf Kampf, Konflikt und Krieg durchaus auch der gewaltsamen Herrschaft ohnehin schon Mächtiger zupass kommen kann. Tatsächlich war der Kultus der Bewegung und des – ach so wilden – Lebens, wie er bei Gilles Deleuze, vermittelt durch Henri Bergson, eine zentrale Rolle spielt, in veränderter Gestalt auch ein Bestandteil der faschistischen Ideologie.

II. Eine Ereignis-Ontologie nach der Generation Deleuze

Von dieser philosophisch-politischen Frontlinie nimmt Alain Badious Deleuze-Buch[1] anekdotisch-biographisch seinen Ausgang. Denn während Deleuze und Lyotard ihren Professorenkollegen an der Universität Vincennes 1968 des Bolschewismus bezichtigten (der Leninist Badiou zeigte sich nicht allzu gekränkt), klagte Badiou umgekehrt Deleuze eines untergründigen philosophischen Faschismus an, den er in der Verklärung eines irrationalen All-Einen (unterhalb der symbolischen Ordnung) und der lauthals verkündeten Anti-Dialektik erkannte.

Allzu ernst darf man diese Polemik zwischen Badiou und Deleuze allerdings nicht nehmen. In Badious Auseinandersetzung mit Deleuze geht eine gemeinsame Korrespondenz ein und sie verarbeitet eine subtile Geschichte der gemeinsamen Verbundenheit, die durchaus von Bewunderung und solidarischer Kritik gekennzeichnet ist. Deleuze ist einer der Philosophen, deren Denken das Denken Alain Badious im doppelten Sinne entspringt: es entspringt ihm wie der Fluss einer Quelle und wie der Gefangene einem Gefängnis.

Die Differenzen zwischen Deleuze und Badiou treten vor allem auf ontologischer Ebene hervor. „Letztendlich“ schreibt Badiou, der wie nahezu alle französischen Denker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Heidegger inspiriert ist, „wird das 20. Jahrhundert ein ontologisches gewesen sein.“ (D 31)

Während nun aber Deleuze, wie Badiou überzeugend nachweist, dem frühromantischen Konzept einer „univoken Ontologie“, einer Ontologie des Einen (das allerdings durch eine unendliche Mannigfaltigkeit von symbolischen und virtuellen Formen verstellt wird) anhängt, so hat die ontologische Frage für Alain Badiou eine vierfache Gestalt; das Sein wird „in mehrfachen Kategorien“ ausgelegt und hat mehrere „Situationen“. Ontologie erscheint für Badiou namentlich im Medium der Politik, der Kunst, der Wissenschaft und der Liebe. Diese vier Kategorien strukturieren sein Denken. Darauf wird noch ausführlicher einzugehen sein.

Einige theoretisch-politische Vorentscheidungen, die für Badiou charakteristisch sind, werden an der Auseinandersetzung mit Deleuze deutlich. Denn Badiou widerspricht entschieden dem anti-platonischen Affekt der Deleuze’schen Philoso­phie. Er ist dagegen um ein systematisches Denken bemüht, das sich jenseits der bloßen Meinungen (und jenseits des Virtuellen) zur Wahrheit emporhebt. Zwar versucht er Deleuze nachzuweisen, dass auch er weder „Wahrheit“ noch „System“ überzeugend hat abschütteln können, allerdings lässt sich wohl nicht leugnen, dass Deleuze für beides immerhin ein schlechtes Gewissen gehabt hätte. Nicht zufällig verpuppt sich Wahrheit bei Deleuze durch einen terminologischen Trick im „Falschen“.

Alain Badious philosophisches Postulat von „Wahrheit“ und „Systematizität“ klingt nach einem halben Jahrhundert der Kritik der Repräsentation einigermaßen überraschend. Allerdings ist Badiou nicht nur der Kritiker und philosophische Gegner von Deleuze. Er ist auch ein Vertreter der Generation, die von der Generation Deleuze das Denken gelernt hat. Deswegen fällt sein Wahrheitskonzept nicht einfach hinter die Kritik zurück, für die das französische Denken mindestens eine Generation lang gestanden hat. Das Lacansche Modell des Symbolischen und die Fundierung des Denkens im Ereignis bilden dabei zwischen Badiou und Deleuze (und somit exemplarisch zwischen zwei Generationen französischen Denkens) die Brücken.

Bei Badiou wie bei Deleuze ist das Ereignis auf verschämt-unverschämte Weise das Medium der Wahrheit. Immerhin Badiou wagt den Vorstoß, es offen auch als solches zu bezeichnen. Ihm zufolge sind Ereignisse explizit Wahrheitsereignisse. Aber auch für Deleuze war, wie Alain Badiou mit Erfolg nachweist, Wahrheit zumindest als „Macht des Falschen“ denkbar, die in einer asketischen Selbstverleugnung des Symbolisch-Rationalen zugänglich wurde. Bei Deleuze wie bei Badiou sind Wahrheit und Ereignis somit die Partner einer mehr oder minder offiziellen Eheschließung.

Die zentrale Stellung des Ereignisses entfaltet Badiou systematisch am Leitfaden einer strukturellen Differenz zwischen Wahrheit und Wissen, die der Lacanschen Unterscheidung von Symbolischem und Realen gleicht. Damit kehrt er in ein dialektisches Schema zurück, in dem eine konstitutive Spaltung des Symbolischen, die Möglichkeit des Fortschritts und damit auch erneut etwas wie Verbindlichkeit zum Tragen kommen.

Platon und Hegel sind (neben Lacan) die wichtigsten Gewährsleute Badious - vor allem dann, wenn er sich aus der strukturellen Teilung von Symbolisch und Real zur Wahrheit emporheben möchte. Über die dialektische Methode Platons und Hegels heißt es: „Sowohl für Platon als auch für Hegel schreibt das Denken dem Sein eine Teilung vor, eine asymmetrische Verteilung seiner Formen, und zu denken besteht darin, diese Verteilung methodisch zu durchlaufen.“ (D 47) Diese methodische Struktur eröffnet die Möglichkeit einer strukturellen Bewegung, die auch Momente eines möglichen Fortschritts eröffnet.

Badiou beschränkt dieses Fortschreiten – und darin ist er gewissermaßen der Marx’schen Dialektik verbunden – allerdings nicht auf ein begriffliches Fortschreiten. Seine Dialektik eröffnet ein Fortschreiten in den vier Sphären des Seins. Und mindestens die Wahrheit der Politik hat bei Badiou die handfeste, materielle Dimension, die der Dialektik ja in der Marxschen Philosophie – einmal „vom Kopf auf die Füße gestellt“ – zukam.

Wahrheit und Wissen (Sein und Seiendes, symbolisch und real) sind für Badiou in dialektischer Weise miteinander verbunden, während sie zugleich auch die jeweilige Grenze des anderen markieren. Denn Wahrheit im Sinne Badious ist gerade keine formalisierbare Form des Wissens, sondern der Augenblick eines Wahrheitsereignisses, in dem anderes als bisher Gewusstes zum Vorschein kommt. Für Badiou ist sie „eine zufallsbedingte Wegstrecke“ ein „nachereignishafte[r] Streifzug ohne äußeres Gesetz.“ (D 83) Wahrheit sei somit nur im Medium einer „Wahrheitsprozedur“ zu denken. Man mag sich den wissenschaftlichen Forschungsprozess als ein Beispiel denken.

Im Vollzug einer solchen Wahrheitsprozedur gehe es nun darum, vermittels der Treue zum einen Pol (Wahrheit/Wissen oder Symbolisch/Real) auch den Zugang zum jeweils anderen Pol zu bewahren. Denn so, wie jedes Wissen im Forschungsprozess erst durch ein innovatives (Wahrheits-) Ereignis gestiftet wird (und analog auch jede Liebesbeziehung, jede ästhetische Innovation und jede politische Ordnung auf einem programmatischen Umsturz gründen), so kommt umgekehrt jedes (Wahrheits-) Ereignis doch erst in bestimmter Negation, in feiner Grenzsetzung zum schon realisierten Wissen, eben in der Bemühung um Erneuerung und Ungedachtes zum Tragen. In diesem Sinn bestimmt Badiou den „Status der Situation“, die konkrete Aktualität der symbolischen Ordnung, zugleich als „Stätte des Ereignisses“. Die bloße Situation, ohne jedes hinzukommende Ereignis, entbehre dagegen auch der Wahrheit. Jene hat für Badiou insofern einen historischen Augenblick, gewissermaßen ist sie sogar selbst ein historischer Augenblick, der eine je neue Sequenz begründet.

Die Bedingung dafür, dass ein Ereignis als Wahrheitsereignis gelten kann, besteht für Badiou vor allem darin, dass es einer Lücke der symbolischen Ordnung Ausdruck verleiht. Das ist der Kern seiner Ereignisontologie. So heißt es in seinem „Manifest für die Philosophie“[2]: „Damit sich ein die Situation betreffender Wahrheitsprozess entfaltet, muss ein reines Ereignis die Situation supplementieren. Dieser Zusatz ist aus der Situation [...] weder benennbar noch vorstellbar. Er wird durch eine einzigartige Benennung eingeschrieben, indem ein überzähliger Signifikant ins Spiel gebracht wird.“ (M 21)

Badiou geht es systematisch um das, was strukturell keinen Platz hat und nicht zu Wort kommt, weil es in der Ordnung des Diskurses nicht gedacht werden kann. Die schweigenden Leerstellen der symbolischen Ordnung sprechen im Ereignis. In genau diesem Sinne ist Badiou Marxist. Denn Marx gilt ihm ausdrücklich als „ein Ereignis im politischen Denken dadurch, dass er unter der Bezeichnung Proletariat die zentrale Leere der beginnenden bürgerlichen Gesellschaft bezeichnet.“[3] Und Badiou zufolge muss „nichts von der vor 140 Jahren von Marx gegebenen Beschreibung der Verhältnisse zurückgenommen werden“ (M 46). Wenn er darüber hinaus den politischen „Status der Situation“ immer wieder als „Kapitalparlamentarismus“ kennzeichnet (ein Begriff der für die politisch linke Philosophie von Agamben bis Žižek einschlägig geworden ist), dann wird die untergründige marxistische Motivik im Denken Badious erkennbar.

Auf politischer Ebene finden sich daher auch die plausibelsten Beispiele für Badious Ereigniskonzept. Denn ausgehend von diesem Modell erscheint ihm die Selbstermächtigung des Proletariats zum politischen Subjekt in den starken Momenten der Arbeiterbewegung als ein politisches Wahrheitsereig­nis ersten Grades – ebenso die politische Subjektivierung, für die Feminis­mus der Name ist.

Badious Beharren auf der Permanenz der Wahrheit, die Wahrheit nicht nur als revolutionäres Ereignis, sondern auch und gerade als kontinuierlichen Prozess denkt, scheint Badiou wesent­lich der Erfahrung der chinesischen Kultur­revo­lution entnommen zu haben. Jene (oder zumindest ihr schöner Mythos, wie er von Jan Myrdal und anderen überliefert ist[4]) hebt Badiou verschiedentlich als ganz besonderes Wahr­heits­ereignis hervor. Eher „Rote Garden“ als Partei­sek­retäre scheinen Badiou als Wahrheitssubjekte zu gelten – ein missionarischer Gestus, der in seiner Paulus-Lektüre wiederkehren wird.

Der Ereignisbegriff als Kategorie einer philosophischen Linken eröffnet jedoch auch Probleme. Die Gegenthese seiner faschistischen Indienstnahme liegt auf der Hand. Badiou widmet sich ihr ausdrücklich. Keineswegs könne die Verhärtung überkommener (bürgerlicher) Kategorien von Nation und Vaterland, die den politischen Wesenskern des Faschismus ausmachen, als Ereignis gelten, so umsturzartig sie auch im Einzelnen dahergekommen sein mag. Nicht die „Fülle“, sondern die „Leere“ spricht im Ereignis.

Die ereignishafte Zerstreuung und Reformulierung der tradierten Ordnung erscheint somit nur als wahr, insofern sie eine immanente Erweiterung der Repräsentation erzeugt, insofern sie eben ein Denken ihrer Leerstellen hervorbringt, das die bestehende Ordnung im Zuge einer Singularisierung supplementiert. Das ist der Kern der Ontologie im Zentrum der Philosophie Badious.

Man merkt Badious Ontologie den spinozistischen Hintergrund an, den er von Althusser gelernt haben mag. Negri darin nicht unähnlich, geht es auch Badiou um eine Bewegung der De-Repräsentation, in der die dynamische Vielfalt der Singularitäten (als natura naturans) ihre eigenen abstrakten Emanationen (als natura naturata) fortwährend verlebendigt und unterläuft. Freilich ist nicht zuletzt Marx mit der Gegenüberstellung von lebendiger und toter Arbeit ein Ahnherr solcher Kritik der Repräsentation, mit der paradig­ma­tisch die Möglichkeit linken Denkens angezeigt ist.

III. Badious vierfache Ontologie der Revolution

Diese Denkfigur einer prozessualen Wahrheit spielt Badiou aber nicht nur in der politischen Sphäre oder am Beispiel des wissenschaftlichen Forschungs­prozesses durch, sondern auf allen vier Feldern seiner Ontologie. Wissen­schaft, Liebe, Kunst und Politik werden jeweils auf das spannungsreiche Verhältnis von Ereignis und symbolischer Ord­nung bezogen. Gewissermaßen formuliert Badiou auf allen vier Ebenen seiner Ontologie eine Theorie der Revolution.

Denn das, was auf der Ebene der Politik die Revolution ist, in der ein politi­scher Akteur auf den Plan tritt, der zuvor keinen legitimen Platz im symbolisch-politischen Gefüge beanspruchen konnte, das ist auf der Ebene der Wissenschaft die „wissenschaftliche Revolution“ (Kuhn) bzw. der „epistemische Bruch“ (Bachelard).

Auf der Ebene der Liebe findet sich das revolutionäre Ereignis im Augenblick des Begehrens wieder, in dem der individuelle Mangel in der Begegnung mit einem konkreten Anderen sein Supplement findet.

In der Kunst ist die Rede von Revolutionen geläufig – seit die Moderne die Kategorie des Neuen zum Zentralkriterium der Ästhetik aufsteigen ließ. Badious Beispiele beziehen sich in genau diesem Sinne vor allem auf die Manifestationen von neuen Formgesetzen im Zeichen des modernistischen Fortschritts. Die Entwicklung der Zwölftonmusik aber auch die programmatische Disziplin in Kubismus oder der Nouveau Roman wären als plausible Beispiele zu nennen: revolutionäre Augenblicke der Kunstgeschichte, die eine Treue zu innovativen Formprinzipien begründen.

Ausgehend vom Verhältnis des Subjekts zu den vier Dimensionen des Seins, von seiner Stellung im revolutionären Prozess, wie man in marxistischer Rhetorik zu sagen geneigt sein könnte, formuliert Badiou seine „Ethik“. Er nennt sie eine „Ethik des Realen“, weil ihm in allen vier Fällen die Arbeit am und die Treue zum Wahrheitsereignis als wesentlich erscheinen. Das Gute ist für Badiou in dieser Figur mit dem Wahren verknüpft.

Badious Ethik bezieht sich durch diese Besinnung auf die Dynamik des Wahren nicht nur negativ auf ein Böses, sondern bestimmt die Treue zur Geschichte der Wahrheit eben durchaus positiv als ethische Einstellung. Das Lacansche Wort vom „Weitermachen im Symbolischen“ ist dabei leitend. Und „Weitermachen“ heißt in Badious Philosophie – und in hegelscher Tradition – eben auch: die Geschichte eines Fortschritts und einer Entwicklung im Symbolischen als denkbar und lebendig zu erhalten.

Diese „ethische“ Einstellung hat in jeder der vier Sphären des Realen ihren eigenen Sinn. Deswegen spricht Badiou von einer „Ethik der Situation“. Denn das Ethos des Liebenden ist ebenso wie das des Wissenschaftlers, des politischen Kämpfers oder des Künstlers seiner je spezifischen Situation geschuldet. Und entsprechend wäre letztlich eben die Treue zur Wahrheit der jeweiligen Seinsweise die „wahrhaft ethische Einstellung“.

Umgekehrt wiederum schimmern darin auch bereits die drei Dimensionen des Bösen auf, die Badiou skizziert. Wenn das Gute nämlich die Treue zu einem, der jeweiligen Situation entsprechenden, unverfügbaren Wahrheitsereignis bedeutet, dann sind umgekehrt die drei Hauptmomente des Bösen der Verrat, das Erzwingen des Unverfügbaren oder aber eben das Festhalten an einem Trugbild.

Deklinieren wir das einmal durch und beginnen beim Verrat: Ethisch schlecht handelte diesem Modell zufolge erstens derjenige, der hinter den Standard einer Wahrheitsprozedur zurückgeht, an der er selbst teilgehabt hat. Der Wissenschaftler, der seine Einsichten oder der Liebende, der seine Geliebte verrät, der Revolutionär, der rechtsopportunistisch von seinem politischen Wissen zurücktritt oder eben der Künstler, der hinter das erreichte Niveau seiner ästhetischen Formprinzipien zurückgeht – sie alle handeln ethisch falsch, machen sich zu Agenten des Bösen. Und man könnte für all diese Gestalten des Bösen den Begriff des Korrupten anführen.[5]

Ethisch schlecht handelte zweitens derjenige, der das Unnennbare einer Wahr­heit erzwingen will, indem er das Ereignis in einem Raum der Immanenz abschließen möchte, es positivieren will. Doch die „Macht der Wahrheit“ ist für Badiou auch „eine Ohnmacht“, weil sie eben auf der Unverfügbarkeit des Ereignisses basiert. Wissenschaftliche oder ästhetische Sensationslust einerseits aber auch Kanonisierung andererseits, in der jeweils die Dynamik der szientifischen oder ästhetischen Innovation ertränkt wird, die Ritualisierung von Liebesbeziehungen, die der Unverfügbarkeit des Anderen keinen Raum mehr gewährt, oder die positive Identifikation der politischen Gemeinschaft, welche doch nur in der ereignishaften Verschiebung, einer augenblicklichen Solidarität zu haben ist – all diese Versuche, Unverfügbares zu erzwingen, gelten Badiou als ethisch falsch. Er erkennt in dieser Dynamik des „Erzwingens“ eine Logik des „Desasters“, die man folgendermaßen pointieren könnte: Die Erzwingung des Ereignisses gebiert Ungeheuer - denn wer mag, kann diese Erzwingung auch explizit als einen Schlaf des Denkens verstehen. Immerhin konzipiert Badiou das Denken ausdrücklich als eine Öffnung zum Ereignis und zur Kontingenz der Prozesse.

Drittens handelt derjenige böse, der anstatt einer Wahrheitsprozedur dem Trugbild einer solchen nacheifert. Wer anstatt einem supplementären Hervorbrechen der Leere der Verfestigung der Fülle oder den Ereignissen einer Verarmung nachstrebt, verfällt, Badiou zufolge, dem Bösen. Beispielhaft wäre, im Falle der Politik, der Faschist, der nicht die Einschließung der Ausgegrenzten, sondern eben die Verhärtung der Ausgrenzung zum Prinzip macht. Es wäre auf der Ebene der Liebe der Ego- oder Erotoman, der nicht mehr die Erfahrung eines bestimmten Anderen macht, sondern dem die Leidenschaft zur Funktion eines narzisstischen Bedürfnisses wird. Auf der Ebene der Kunst wäre dafür der Künstler beispielhaft, der nicht einem Fortschritt der ästhetischen Darstellungsformen, sondern einem infantilen Regress oder der Verkitschung und Verfestigung bestehender ästhetischer Kategorien nacheifert. Und der Forscher, der einem wissenschaftlichen Irrglauben erliegt, der sich an erkenntnisleitenden Modellen orientiert, die nicht tragen oder längst ausgereizt sind, der folgte ebenfalls einem Trugbild.

Können wir aber mit Sicherheit sagen, was ein Trugbild und was ein Wahrheitsereignis ist? Alain Badiou glaubt das nicht. Er verweist auf die Kriterien des überzähligen Signifikanten, des Supplements und der Leere und spricht von Wahrscheinlichkeiten. Es steht schon nicht mehr in der Macht des einzelnen Subjekts, zu bewerten, ob es sich der Arbeit an seiner eigenen Unsterblichkeit oder eben einem fatalen Irrglauben hingegeben hat. Badiou geht es ausdrücklich nicht darum, den Menschen von dieser letztlich unbe­stimm­ten Suche nach dem revolutionär Neuen zu erlösen.

Aus dieser Unbestimmtheit folgt aber das konfliktuale Wesen einer jeden Wahrheit. Angesichts der Unbestimmtheit der Wahrheit – bei gleichzeitiger immanenter Verpflichtung, mit Nachdruck an ihr festzuhalten – lässt diese jeden Verfechter möglicher Wahrheiten mit anderen aneinander geraten. Das mag nach Sektierertum klingen. Jedenfalls sind Wahrheitsprozeduren im Sinne Alain Badious keine bequemen Angelegenheiten; sie implizieren Konfliktbereitschaft und Militanz.

Der Einsatz der Philosophie Badious ist hoch. Immerhin geht es für ihn – im vollen Pathos der idealistischen Philosophie – mit der Treue zu den Wahrheitsprozeduren auch um die Möglichkeit der Unsterblichkeit. Für ihn ist der Mensch gerade durch die Beziehung zum Unverfügbaren der Wahrheit als unsterbliches Wesen denkbar, als ein Wesen, das mehr ist als nur Tier und Opfer und sich zum verbindlichen Prozess historischen Fortschreitens emporzuheben vermag. Der Mensch ist das Wesen, das sich zum Unverfügbaren der Wahrheit öffnet und dadurch, in der Teilhabe an einem Wahrheitsprozess, unsterblich wird.

Badiou vermag vor dem Hintergrund seiner Konzeptionen von Ereignis und Singularität, die mit existenzieller Wahrheit verknüpft werden, eine philosophiegeschichtliche Brücke zwischen Deleuze und Sartre zu schlagen. Denn das potentielle Subjekt der Wahrheit ist – und hier spürt man den Einfluss Jean-Paul Sartres, den Badiou selbst verschiedentlich hervorgehoben hat – geradezu geworfen in die Verpflichtung zur Unsterblichkeit.

„Der Mensch erhält seine Identität“, so heißt es, „durch die einzigartigen Wahrheiten, die er erlangen kann, durch den Unsterblichen, der aus ihm das widerständigste und paradoxeste aller Tiere machen kann.“ (E 28) Er ist zum Ernst des Wahrheitsgeschehens verpflichtet, und zwar unge­ach­tet des Preises, den dieser im Einzelnen auch haben mag.

Nicht zu übersehen ist bei alldem: Alain Badiou ist ein Denker, der das Erbe der großen Metaphysik antritt und sich vor keiner der großen (von syste­ma­tischen Zwängen weitgehend suspendierten) Fragen der Philosophiege­schichte scheut. Der Mensch, das Sein, Unsterblichkeit und Unverfügbarkeit sind in sei­nem Denken so präsent wie in Antike oder Scholastik. Badiou scheut die großen Begriffe nicht, wagt den unverfrorenen Zugriff auf Philosopheme, die von der Metaphysikkritik einiger philosophischer Jahrhunderte zunächst einmal verstellt wurden.

Dennoch scheint er gerade vermittels einer Geste der Unverfrorenheit die zeitgenössische Skepsis in sich aufgenommen zu haben. Badiou nennt beim Namen, wovon philosophisch unentwegt die Rede ist, ohne dass es üblicherweise noch so genannt würde. Manchmal erscheinen die metaphysischen Monstersignifikanten dabei durchaus ironisch als allegorische Abkürzungen, gerade so, als würden sie, indem sie es plump sagen, die Unmöglichkeit zu sagen, was sie sagen, gleich mit sagen. Badious Holzhammer ist nicht nur dadurch ein sehr feines philosophisches Utensil. Als naiv, als prima philosophia oder schlichter Seinsgesang erscheint sein philosophisches Projekt jedenfalls zu keiner Zeit.

IV. Politik der Wahrheit

Zweifellos steht die Politik inmitten der vier Situationen des Realen für Alain Badiou an erster Stelle. Die meisten seiner Beispiele und auto­bio­gra­phi­schen Hinweise entstammen ihrer Sphäre und im Bereich der Politik gewinnt die Ereignisstruktur, die Badiou für die Wahrheit als wesentlich erklärt, die größte Plausibilität. Aus seinen persönlichen politischen Erfahrungen und den politischen Prägungen, die seinem Diskurs vorausgehen, macht er keinen Hehl: vor allem der Generalstreik der Bergarbeiter 1960 in Belgien, denen der junge Badiou als Journalist beiwohnte, die roten Jahre 1966-1976 zählen dazu.

Die Ontologie der Politik, eine Theorie des Politischen, die sich aus ihrem Verhältnis zum Realen, genauer gesagt: aus ihrem Verhältnis zur Spannung von symbolisch und real gewinnt, heißt bei Badiou „Metapolitik“. In Badious „Über Metapolitik“ ist der Gedanke entscheidend, dass sich die Verpflichtung zur Politik aus dem Denken selbst ergibt, dass die Politik, radikaler gesagt, selbst ein Denken ist, deren praktische Seite wiederum nichts anderes als seine eigene Erprobung darstellt. Diese Konsequenz ergibt sich für Badiou allerdings aus der bestimmten Idee eines Denkens, das an die Grenzen der symbolisch-politischen Ordnung geht, um sich so als Denken des Realen zu ermöglichen. Das Denken wird als „Bericht des Realen“ konzipiert.

Ein solches Denken des Realen bliebe aber defizient, wenn es sich nicht experimentell erprobte, deswegen braucht das Denken die politische Praxis, die ihm selbst ebenso angehört wie das Experiment der wissenschaftlichen Forschung. In der Politik erscheint das „Machen“ der Politik als reine Erprobung des Denkens. Politik ist ein Denken in actu.

Weil aber diese Beziehung zum Realen auch die Beziehung zur Wahrheit betrifft, stellt sich Badious Metapolitik die Frage, was eine politische Wahrheitsfreiheit (eben anstelle einer politischen Meinungsfreiheit) wäre? Denn auch im Feld des Politischen müsse es, soll so etwas wie Emanzipation denkbar bleiben, Wahrheit geben, die sich über spontane Meinungen, an Stammtischen und in Regierungsparteien zu erheben wüsste. Immerhin, so weiß Badiou einzuwenden, ist auch der Faschismus eine Meinung, der sich auf dem allgemeinen Markt politischer Indifferenzen feilbietet.

Deswegen aber ist ein zentraler Gegenpol des Badiouschen Projekts ein schlechter, affirmativer Demokratismus, der die Meinungen heiligt, ohne ihnen noch Kriterien der Überprüfbarkeit gegenüberstellen zu können. Die politisch philosophischen Positionen, die aus der Rezeption Hannah Arendts hervorgegangen sind, werden als ein solch affirmativer Demokratismus identifiziert, der eben nicht in der Lage ist, einen Unterschied zu machen. Gleichermaßen wird Habermas als Wortführer eines bloß rhetorischen Demokratismus kritisiert.[6]

Wenn aber ein Unterschied und eine Politik der Emanzipation denkbar sind, dann müssen wir Badiou zufolge in der Politik ebenso wie in der Wissenschaft (ebenso wie in der Liebe und der Kunst) annehmen, dass Verbindlichkeit und Wahrheit möglich sind. Jemand, der das politisch leugnete, erscheint Badiou umgekehrt wie ein Arzt, der zur Erklärung eines Krebsleidens empfiehlt „sich besser an lindernden Kräutertee, telepathische Massagen oder Gebete an die Jungfrau Maria“ (ÜM 84) zu halten. Auch in der Politik müsse also ein Jenseits zu Voodoo und Obskurantismus, zur Indifferenz der Meinungen möglich sein.

Die Beziehung zur Wahrheit, die in Badious Metapolitik ausgezeichnet wird, ist den Akteuren und gerade nicht den Zuschauern vorbehalten. Insofern geht es Badiou auch darum, einen Ort des Denkens auszuzeichnen, der eine politische Subjektivierung erkennbar werden lässt und von dem aus sich die Möglichkeit eröffnet, wahr zu sprechen. Denn wie für Derrida ist auch für Badiou Subjektivierung nur in der Fundierung auf die Unbestimmtheit eines Ereignisses denkbar. Eben diese Gründung des Subjekts im Ereignis ermöglicht Badiou aber (anders als Derrida) ein Verhältnis zur Wahrheit: Das politische Subjekt hält der Wahrheit als Akteur eines Wahrheitsprozesses die Treue, insofern es Politik im Hinblick auf kommende Ereignisse konzipiert und sich im Bekenntnis zum Ereignis konstituiert. Darin ist Badious Begriff des Politischen bereits nahezu vollständig enthalten. Ausdrücklich definiert Badiou: „Eine Politik ist eine höchst gewagte, militante und stets partiell nicht geteilte Treue zur ereignishaften Singularität.“ (ÜM 38)

Die Wahrheit der Politik ist jedoch auch unbestimmt und mehrdeutig. Vor diesem Hintergrund rückt Badiou seine Metapolitik in engen Zusammenhang mit der „Anthropologie des Namens“, wie sie von Sylvain Lazarus formuliert wurde. Politik beruht auf dem Unverfügbaren des Namens, der in seiner spezifischen Unbestimmtheit (die den Namen vom Begriff unterscheidet) das singuläre Ereignis benennt.

Das lässt auch den Begriff der Politik als paradoxal erscheinen. Politik kann nur durch ihre Undefinierbarkeit definiert werden. Sie ist nicht begrifflich zu fixieren, weil sie sich immer auf das Negative des Ereignisses bezieht, von dem allein sie ihre Autorisierung und ihre Dynamik gewinnt. Deswegen ist Politik immer zeitgenössisch und vorwärtsgerichtet, zugleich aber selten. Sie ist, nach dem Wort von Jacques Rancière, ein Glücksfall.

Es liegt auf der Hand, dass alle Bestimmungen der Politik, die Badiou vornimmt, eine Kritik des Staates und der auf staatliche Politik verkürzten Politik beinhalten. „Staat“ bedeutet eben strukturell Status der Situation und institutionalisierte Ordnung und somit ausdrücklich nicht Ereignis. Die Politik, so schreibt Badiou, befasst sich allerdings „mit den Massen, denn sie ist vom Staat losgelöst und verläuft diagonal zu seinen Teilen.“ (ÜM 86) Die Logik der bloßen Zuteilung, der Verwaltung der gesellschaftlichen Mengenlehre für die der Staat steht, steht dem politischen Wahrheitsereignis, in dem sich ein „überzähliger Signifikant“ präsentiert, ausdrücklich entgegen.

Stattdessen müsse die Politik in einer unverfügbaren Bewegung gründen. Die „Porosität zum Ereignis“, die „vielfältige Geschmeidigkeit im Ansturm des Unvorhersehbaren“ (ÜM 87) – Badiou rekurriert hier auf Lenins Reflexionen über die Partei – müsse strukturell in sie eingeschrieben sein. Sie ist eine Kunst des Unmöglichen, die Kunst dessen, was nicht absehbar ist.

Ein bestimmtes Konzept von Demokratie ist für Badiou die zentrale Bezugsgröße der Politik. Allerdings nicht die institutionell abgeriegelte, verstaatlichte und auf diese Weise entpolitisierte Demokratie. Stattdessen ist Demokratie für Badiou von vornherein als eine politische Dynamik bestimmt, in der sich die ausgeschlossenen Teile der spezifischen politischen Situation in einem Augenblick der Präsentation selbst auf die Tagesordnung bringen.

Die Bewegung der brasilianischen Landarbeiter (MST), die nicht nur Appelle nach Bodenreform an den Staat richtet, sondern sich stattdessen das Land direkt aneignet, um nachträglich um die entsprechenden Rechtstitel zu kämpfen, mag dafür, wie der Badiou-Kommentator Peter Hallward hervorhebt (in ÜM 169), als Beispiel gelten können. In ihr meldet sich ein überzähliger Signifikant der staatlich-politischen Mengenlehre ereignishaft zu Wort und kämpft fortan um die Ratifizierung einer neuen Ordnung, wie sie im Ereignis angelegt ist. Die Selbstorganisation von Produzenten als genuin kommu­nistisches Potential steht in Badious politischer Theorie im Vorder­grund.

Schon daher ist Demokratie für Badiou nur als nicht-staatliche denkbar. Und gerade als nicht-staatliche erscheint sie ihm als elementar demokratisch: „Die Politik, die sich selbst als einen den konsensuellen Figuren des Staates entzogenen Raum der Emanzipation bestimmt, wäre ihrem Wesen nach demokratisch.“[7]

Ähnliches gilt für den Begriff der Gerechtigkeit. „Gerechtigkeit“, schreibt Badiou, „ist der philosophische Name für die staatliche und soziale Inkonsistenz jeder egalitären Politik.“ (ÜM 118) Gerechtigkeit und Gleichheit sind somit gleichermaßen nirgends sonst als in den politischen Wahrheitsprozessen zu finden, die aus den Inkonsistenzen der bestehenden Ordnung hervorgehen.

V. Der kommende Universalismus

Es liegt auf der Hand, dass, wer von Wahrheit spricht, Tendenzen des Relativismus und Partikularismus theoriepolitisch entgegenzutreten bemüht ist. Badious Projekt versteht sich daher – trotz aller Distanz zum abstrakten Universalismus liberalistischer Prägung – als ein universalistisches. Kom­mu­nitaristischer Relativismus ist ihm ebenso fremd wie ein affirmativer Kon­sensualismus, der die schlechthin vorhandenen Meinungen zu Kom­pro­missen vereint und den „Status der Situation“ abriegelt.

Originellerweise formuliert der Atheist Badiou seinen Universalismus im Anschluss an einen christlichen „Apostel“. In „Paulus. Die Begründung des Universalismus“ arbeitet Badiou an den christlichen Urschriften des Paulus Strukturmomente einer Theorie des Universellen heraus.

Das im Ereignis verborgene Universelle, das ihn als christliches Subjekt stiftet und ihn zugleich verpflichtet, vom Ereignis zu künden und ein Bekenntnis abzulegen, war für Paulus die Auferstehung des Christus. Wenn Badiou auch dem christlichen Urereignis misstraut und bezweifelt, dass Jesus tatsächlich der auferstandene „Christus“ (Messias) sei, so zeigt er sich dennoch von der Struktur des Ereignisses sowie des Bekenntnisses, das ihm folgt, beeindruckt. Nicht die christliche „Fabel“, allein die „subjektive Geste“ des Paulus ist daher für Badiou von Bedeutung.

Warum aber Paulus? Paulus ist für Badiou zunächst deswegen idealtypisch, weil er als Subjekt auf das Ereignis (das Christusereignis) gegründet ist (indem er eben vom Saulus zum Paulus wird) und fortan als politisch-religiöser Aktivist für seine Wahrheit eintritt.

Darüber hinaus aber ist Paulus innerhalb der urchristlichen Auseinander­setzung derjenige, der den Wahrheitsanspruch des Christusereignisses jenseits der kommunitären Teilmengen situiert und ihm einen universalistischen Gehalt zuschreibt. Denn Paulus ist nicht nur der Anwalt der Judenchristen, die aus der jüdischen Sozialisation heraus zum Christentum finden. Paulus ist zugleich auch der Anwalt der (griechischen) Heidenchristen. Sein Wirken steht für die Aufhebung der Differenz von Judenchristen und Heidenchristen im Lichte des Christusereignisses. So schreibt Badiou: „Die Nicht-Differenz von Jude und Grieche zu bekennen, stellt die potentielle Universalität des Christentums her [...].“[8]

Deswegen ist es gerade Paulus, der Badiou die Möglichkeit an die Hand gibt, eine Wahrheit zu denken, die die partikulare Wahrheit der spezifischen Gemeinschaft überschreitet. Das Volk Israel ist auf diese Weise zwar die Stätte (des Stattfindens) des Christusereignisses, nicht aber der Grenzzaun seines Effekts. Sein Anspruch geht darüber hinaus.

Für Badiou steht also mit Paulus fest: „dass es die Treue zu solch einem Ereignis nur in der Aufkündigung der kommunitären Partikularismen und der Bestimmung eines Wahrheitssubjekts geben kann, das zwischen dem Einen und dem ‚Für alle‘ keinen Unterschied macht.“ (P 198)

Die Formel für den universellen Anspruch eines Wahrheitsereignisses ist die der „universalen Singularität“, die eine neue Ordnung diagonal zu den Teilmengen der bestehenden symbolischen Ordnung denkbar werden lässt. Singularität (das ereignishafte Überschreiten eines Gefüges des Symbolischen) und Universalität („überkommunitäre“ Wahrheit) sind für Badiou daher identisch: „Universal ist nur, was sich in immanenter Ausnahme befindet.“ (P 204)

Die universale Singulärität findet ihren konkreten Widerpart vor allem in den Prinzipien der warenförmigen Homogenisierung, die einerseits eine bestimmte, partikulare Ordnung begründen, andererseits das Singuläre ausschließen. Die schlechte Allgemeinheit der warenförmigen Kommensurabilität und die Ausweitung der Kapitallogik sind der konkrete Gegenpol des Singulären ebenso wie des Universalen, von dem Badious Bemühungen um ein universales Singuläres ausgehen.

Aber auch jedwede andere Struktur einer bestimmten symbolischen Ordnung sei nicht mit der universalen Botschaft des Paulus vereinbar. Nicht die Positivität des Gesetzes, sondern die Transzendenz der Gleichheit spricht aus dem Ereignis. Paulus kündet dem entsprechend von einer Wahrheit (dem Christusereignis), die sich gegen „das Gesetz“ (das Gesetz des Vaters) stellt. Paulus schreibt: „Und stellet Euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert Euch durch Erneuerung Eures Sinns.“ (Röm 12, 2)[9]

Vor dem Hintergrund seiner Idee der Wahrheit als einer Überschreitung des „Gesetzes“ interpretiert Badiou Paulus als den Künder eines Diskurses des Sohnes, der sich in der ereignishaften Streuung des Gesetzes auf eine kommende Gleichheit stützt. Die „unzerstörbare Jugend einer jeden Wahrheit“ (P 112), die Ankunft des Sohnes, entsprechend: die kommende und revolutionäre Gestalt des Universalismus ist Badiou zufolge eine paulinische Konsequenz. Man möchte freilich, den biblischen Diskurs überschreitend, die Töchter ergänzen. Dennoch hat die noch biblische Rede von der Überschreitung des väterlichen Gesetzes durch die jeweilige Ankunft des Sohnes eine gewisse Evidenz. Der Paulus des Alain Badiou kündet von einem kommenden Universalismus. Anders kann sich Badiou den universalen Anspruch einer Wahrheit nicht denken.

Die Gnade (charis) des Ereignisses stiftet für Badiou zugleich auch das Charisma des politischen Kämpfers. Jenes erscheint daher als Ausdruck der Spaltung von Sein und Sollen, die das Ereignis in das Subjekt, das es stiftet, hineinlegt. Das Subjekt des Ereignisses ist immer bereits mehr als es ist. Es verbindet Universalität und Partikularität in einem konkreten Subjekt. Auch das lässt Paulus zu einer idealtypischen Figur des kommenden Universalismus werden.

Paulus kündet von der Wahrheit, die er im Christusereignis geschaut hat. Er ist der Aktivist des Ereignisses, das ihn als Subjekt („vom Saulus zum Paulus“) gestiftet hat. Badiou zeigt sich beeindruckt von der politischen Schärfe und dem strategischen Geschick, das durch seine Texte zum Vorschein kommt. Sie seien „kämpferische Texte“ und Paulus erscheint Badiou als der Lenin, dessen Marx Jesus war.

Bei dieser aktivistischen Lesart kann er wiederum auf das unverfilmte Paulus-Drehbuch von Pasolini zurückgreifen, das jenen ebenfalls als einen Widerstandskämpfer interpretiert hat und ihn in die Résistance des Jahres 1941 versetzt. Badious Paulus ist ein streitbarer Bekenner und ein Kämpfer, der militant für das Wahrheitsereignis eintritt, das ihm zuteil wurde.

VI. Offene Philosophie und Verbindlichkeit

Wenn Alain Badiou das Projekt einer in vier Situationen entfalteten Ontologie verfolgt, die ihre universale Wahrheit allesamt in ihrer je eigenen Situation haben, was folgt aus alldem für die Philosophie? Wenn die Liebe, die Wissenschaft, die Kunst und die Politik ein Denken je eigener Art sind, was für ein Denken ist die Philosophie? Welche Aufgaben bleiben ihr vorbehalten?

Im Bewusstsein des Gesagten beginnen sich die Aufgaben der Philosophie, wie sie Badiou bestimmt, zu klären. Badiou denkt sie als Theorie von Sein und Ereignis und als deren Verknüpfung durch die Wahrheit. Keineswegs sei zwar ihre Aufgabe, selbst universale Wahrheiten hervorzubringen und als Agentur einer universalen Rede zu agieren.

Badiou schreibt ihr stattdessen die vierfache Funktion zu, durch den Empfang von Wahrheiten zu organisieren, die selbst jenseits der Philosophie stattfinden, und deren Stätten als lebendige und ereignisreiche Prozesse konzipiert werden. Gerade in dieser Bindung an das Ereignis verteidigt die Philosophie Badious die klassischen Kategorien der Philosophie: die des Subjekts, die des Seins und eben die der Wahrheit.

Es ist entscheidend, dass Badiou in Verteidigung der Wahrheit auch die dialektische Einheit von Sein und Erscheinung bemüht. Das ist vor allem und ausdrücklich das Thema seiner Abhandlung über die Ontologie des Übergangs, die unter dem deutschen Titel „Gott ist tot“ erschienen ist.[10] Denn weil Gott tot ist, muss das Verhältnis von Sein und Erscheinung in einer anderen, nicht theologischen Figur gedacht werden.

Die Ontologie der Zahl, der ontologische Gehalt einer mathematischen Logik der Mengen und des Ausschlusses (der Gödelsche Unvollständigkeitssatz und die Mengenlehre Georg Cantors) bieten dafür methodisch systematische Schlüssel. Badious Lösung, die eine Vielfalt heterogener Denkansätze verknüpft, ist in letzter Instanz eine Hegelsche; sie liegt im Werden verborgen. Ihr Gehalt klingt einfach und wird doch so komplex, in zahlreichen philosophischen Verknüpfungen begründet: „Alle Wahrheit ist generisch.“ (G 94)

Wird die Philosophie dabei als Dienerin der Wahrheit verstanden, so gilt es, das Unbestimmte des Werdens zum systematischen Grundmerkmal werden zu lassen. Diese Aufgabe, „an die Haltlosigkeiten sich [zu] schmiegen“ (Paul Celan) ist allerdings mit aporetischen Widersprüchen verbunden. Sie ist ein Denken dessen, was noch nicht gedacht werden kann und besteht in einer immanenten Abhängigkeit von den Wahrheitsprozessen.

Gleichwohl ist sie nicht einfach dienstbar. Gerade ihre vierfache Bindung an die Wahrheit (die Wahrheit der Liebe, der Politik, der Wissenschaft und der Kunst) erhält sich die Philosophie eine eigenständige Stellung. Sie erhält gewissermaßen die Funktion, zwischen den vier eigenständigen Sphären der Wahrheit für einen Ausgleich, sozusagen für kategoriale Gerechtigkeit zu sorgen. Umgekehrt werde sie gerade durch ihre verkürzende Bestimmung, die sie an nur einen der vier grundlegenden Wahrheitsprozesse bindet, zu einer bloß dienenden Philosophie. Badiou führt Heideggers „Vernähung“ der Philosophie mit der Poesie, die stalinistische „Vernähung“ der Philosophie mit der Politik und die analytisch-philosophische Vernähung der Philosophie mit der Wissenschaft als Beispiele an. Eine Philosophie, die inmitten dieser Quaternität zu denken bereit ist, das ist die systematische Forderung Badious. Im Verhältnis zu jedem der vier Bedingungen der Philosophie gelte es, virtuell die überzähligen Namen zu versammeln und den Wahrheitsprozess denkbar und lebendig zu erhalten. Das ist das Pathos der Philosophie von Alain Badiou.

Was machen nun wir Leser aus diesem Pathos? Nehmen wir es vor allem erst einmal zur Kenntnis – immerhin tritt es in imposanter philosophischer Geste auf und immerhin zählt Badiou, wie Giorgio Agamben bemerkte, „unzweifelhaft zu den interessantesten Philosophen jener Generation [...], die unmittelbar auf diejenige Foucaults und Deleuze’ folgt.“[11] Seine Philosophie markiert dabei eines der umfassendsten und eigenständigsten philosophischen Modelle, die in den letzten 20 Jahren überhaupt vorgestellt wurden.

Schon deswegen sei Badiou zur Lektüre anempfohlen. Solche Lektüre darf durchaus motivierte Lektüre sein, denn keinem zweiten Denker gelingt es wie Badiou, ein subversives und radikal an der Idee der Emanzipation ausgerichtetes Denken mit dem Anspruch der politisch-philosophischen Verbindlichkeit zu versöhnen. Kaum ein zweiter wandelt den theoriepolitischen Grat zwischen abstraktem Universalismus und linker Skepsis so überzeugend wie Alain Badiou.

[1] Alain Badiou: Deleuze. Das Geschrei des Seins, aus dem Französischen von Gernot Kamecke, Berlin und Zürich (Diaphanes Verlag), 2003. Im Folgenden im Text zitiert mit Seitenzahl als D.

[2] Alain Badiou: Manifest für die Philosophie, aus dem Französischen von Jadja Wolf und Eric Hoerl, Wien (Turia Kant) 1998. Im Folgenden im Text zitiert mit Seitenzahl als M.

[3] Alain Badiou: Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen, aus dem Französischen von Jürgen Brankel, Wien (Turia+Kant) 2003, S. 92. Im Folgenden im Text zitiert mit Seitenzahl als E.

[4] Vgl. Jan Myrdal: China – Die Revolution geht weiter. Bericht über den Fortschritt in Liu Ling, München (DTV) 1974.

[5] Schön sind die Worte Antonio Negris über den Verrat, die sich im Interview mit Anne Duffourmantelle finden: „Die Leidenschaft trägt immer zum Gemeinsamen bei. Das ist auch der Grund, warum ‚Verrat‘ und ‚Bruch‘ ontologisch so schwer wiegen, denn sie stehen für die Zerstörung eines Gemeinsamen.“ Antonio Negri: Rückkehr. Alphabet eines bewegten Lebens, Frankfurt/M./New York (Campus) 2003, 160.

[6] Alain Badiou: Über Metapolitik, aus dem Französischen von Heinz Jatho, Berlin/Zürich (Diaphanes) 2003, S.6. Im Folgenden zitiert mit Seitenzahl als ÜM.

[7] Alain Badiou: Philosophie und Politik, in: Alain Badiou et al.: Politik der Wahrheit, Wien (Turia Kant) 1997, S.31-45, S.40

[8] Alain Badiou: Paulus. Die Begründung des Universalismus, aus dem Französischen von Heinz Jatho, München (Sequenzia) 2002, S.109. Im Folgenden im Text mit Seitenzahl zitiert als P.

[9] In der Einheitsübersetzung heißt es: „Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken […].“

[10] Alain Badiou: Gott ist tot. Kurze Abhandlung über eine Ontologie des Übergangs, Aus dem Französischen von Jürgen Brankel, Wien (Turia Kant) 2002. Im Folgenden im Text mit Seitenzahl zitiert als G.

[11] Giorgio Agamben: Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz, Berlin (Merve) 1998, S.81.