Verschiebungen im Weltsystem I

"Big Stick Policy" and "Good Neighbor Policy"

Wechselnde Bedingungen für den antiimperialistischen Kampf Lateinamerikas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Dezember 2010

1. Lateinamerika und USA im vorimperialistischen Zeitalter

Die Haltung der USA zu Lateinamerika wurde im 19. Jahrhundert durch die Monroe-Doktrin bestimmt. Die 1822 an die europäischen Kolonialmächte adressierte Botschaft des US-amerikanischen Präsidenten James Monroe (1817-1825) besagte, „dass die amerikanischen Kontinente infolge des freien und unabhängigen Standes, den sie angenommen haben und behaupten, hinfort nicht als Gegenstände für künftige Kolonisation durch irgendwelche europäischen Mächte zu betrachten sind“ (vgl. Kossok 2000: 87). Noch im gleichen Jahr erkannten die USA Kolumbien an, ein Jahr später Argentinien, Chile, Mexiko und Brasilien folgten 1824. Der diplomatische Alleingang wurde gegen den ausdrücklichen Willen der ehemaligen Kolonialmacht Spanien[1] und der „Heiligen Allianz“ vollzogen. Großbritannien sprach 1824 die ersten Anerkennungen aus. Angesichts der eindeutigen Stellungnahme des amerikanischen Präsidenten und des britischen Außenministers zugunsten der neu entstandenen lateinamerikanischen Staaten verzichtete die „Heilige Allianz“, die bereits Frankreich mit einer Intervention in den ehemaligen spanischen Kolonien beauftragt hatte, auf militärische Abenteuer auf dem amerikanischen Kontinent.

Die abschreckende Wirkung, die die Monroe-Doktrin während des gesamten 19. Jahrhunderts hatte, galt mit Ausnahme der ersten Hälfte der 1860er Jahre. 1861 bis 1865 intervenierte Spanien in Santo Domingo und 1865/66 in Peru, Frankreich 1861-1867 in Mexiko. Es waren dies aber die Jahre des Sezessionskrieges in den USA, als die Union außenpolitisch kaum handlungsfähig war. Die Forderung „Amerika den Amerikanern“, in der die Monroe-Doktrin häufig zusammengefasst wurde, war in den Jahren davor und danach von den europäischen Kolonialmächten widerwillig akzeptiert worden.

Historiker haben immer wieder geargwöhnt, dass „das wirkliche Motiv“, das sich hinter der Monroe-Doktrin verbarg, der Wunsch der USA war, „vorläufig schon einmal in Worten eine Hegemonie über den südlichen Kontinent abzustecken, um später dem verbalen Anspruch Taten folgen zu lassen“ (Niess 1984: 40). Eine derartige Interpretation ist vom Beginn des 20. Jahrhunderts aus gesehen, als die USA unter Berufung auf eine modifizierte Monroe-Doktrin ihre Herrschaft über Mittelamerika und die Karibik errichteten, nahe liegend. Dabei wird jedoch ignoriert, dass das ökonomische Interesse der USA an ihren südlichen Nachbarn in den 1820er Jahren und auch noch Jahrzehnte später gering war. Die Wirtschaft der Vereinigten Staaten war auf den sich rasch erweiternden Binnenmarkt ausgerichtet, nicht auf die Eroberung von Auslandsmärkten. Von den erzeugten Gütern führten die Vereinigten Staaten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts weniger als 10 % aus. Es handelte sich überwiegend um landwirtschaftliche Erzeugnisse, um Baumwolle, die Europas Textilfabriken in Gang hielt, und um Lebensmittel zur Ernährung der rasch anwachsenden Industriebevölkerung Westeuropas. Nach Europa gingen 1870 fast 80 %, nach Südamerika nur 4 % der amerikanischen Ausfuhr (Faulkner 1957: 556, 663). Das für fast das gesamte 19. Jahrhundert charakteristische geringe wirtschaftliche Interesse der USA an Lateinamerika sollte sich jedoch nach 1890 grundlegend ändern.

2. Entwicklung und Realisierung der „Big Stick Policy“ der USA gegenüber Lateinamerika

„Das Schicksal hat uns unserer Politik vorgeschrieben, der Welthandel muss und wird uns gehören.“ Mit diesen Worten brachte 1897 Albert Beveridge, einer der Ideologen der amerikanischen Außenexpansion, die neue „Berufung“ der USA auf den Punkt. Über den Hintergrund des Gesinnungswandels in der amerikanischen Geschäftswelt, schreibt Faulkner, „dass um 1900 die industrielle Entwicklung in den Vereinigten Staaten auf den Stand gelangt war, bei dem ein Überfluss an Fertigwaren und Mineralien für die Ausfuhr vorhanden war, und das trieb Amerikas Kapital und Erzeugnisse auf die Auslandsmärkte“ (Faulkner 1957: 564). In den europäischen Markt aber konnten die US-amerikanischen Industrieerzeugnisse gegen die starke Konkurrenz der europäischen Produkte nur langsam vordringen. Da bot sich die Erschließung der wirtschaftlich bisher wenig beachteten Gebiete südlich des Rio Grande del Norte geradezu an.

Gegen die in der Monroe-Doktrin artikulierten traditionellen Grundlagen der amerikanischen Außenpolitik hatte sich bereits 1893 einer der eifrigsten politischen Vertreter des entstehenden amerikanischen Imperialismus, Senator Orville Platt gewandt: „ Eine Politik der Isolation war ganz richtig als wir eine Embryo-Nation waren. Heute aber ist die Lage eine andere. Wir sind die fortgeschrittenste und mächtigste Nation der Welt. Unsere Zukunft macht die Abschaffung dieser Isolationspolitik erforderlich“ (vgl. O’Callaghan 2005: 84).

Den wirtschaftlichen Expansionsprozess in den Süden des Doppelkontinents zu tragen, begriffen die US-Administrationen zunehmend als Aufgabe. Zum Protagonisten dieser Entwicklung wurde der republikanische Präsident Theodore Roosevelt (1901-1909).

Die neu gewonnene Einstellung machte in den Augen der amerikanischen Regierung eine Neuinterpretation der Monroe-Doktrin notwendig. Sie sollte erstens natürlich weiter gelten, soweit sie sich gegen die Einmischung europäischer Staaten in Lateinamerikas Angelegenheiten richtete. Zweitens aber wollten die USA in jenen Ländern, für die seitens US-amerikanischer Fabrikanten, Außenhändler und Investoren ein lebhaftes Interesse bestand, zur Politik der Intervention und Kontrolle der jeweiligen Regierungen übergehen können. Roosevelt ergänzte 1904 die Monroe-Doktrin dementsprechend. Der den Geist des amerikanischen Imperialismus zum Ausdruck bringende Zusatz des Textes von 1822 wurde in der internationalen Diplomatie unter dem Begriff Roosevelt Corollary (Ergänzung) bekannt. Der Zusammenhang mit der eigentlichen Monroe-Doktrin wurde argumentativ dadurch hergestellt, dass die US-Regierung behauptete, wenn sie selbst in Lateinamerika für Frieden und Stabilität sowie für die Einhaltung der Verpflichtungen dieser Staaten gegenüber dem Ausland sorge, dann bestünde für die europäischen Mächte überhaupt kein Grund mehr einzugreifen (ebd. 85).

Gewissermaßen im Vorgriff auf die Roosevelt Corollary hatten die Vereinigten Staaten nach dem 1898 von ihnen provozierten Spanisch-Amerikanischen Krieg das unabhängig gewordene Kuba 1901 veranlasst, acht Artikel über das Verhältnis der Antillenrepublik zu den USA in seine Verfassung aufzunehmen, die bestimmten, dass die Antillenrepublik keinen Vertrag mit einer fremden Macht abschließen würde, der geeignet ist, die Interessen der Vereinigten Staaten auf Kuba zu beeinträchtigen. Weitere Bestimmungen verpflichteten Kuba, keine öffentliche Verschuldung einzugehen, die nicht durch ordentliche Einkünfte abgedeckt werden könnte, Interventionen der Vereinigten Staaten „zur Wahrung der kubanischen Unabhängigkeit und Aufrechterhaltung einer Regierung, die Leben, Eigentum und Freiheit des Einzelnen zu schützen vermag“, zuzustimmen und den USA Land für einen Marinestützpunkt (Guantanamo) zu verpachten bzw. zu verkaufen. „Damit wurde Kuba“, urteilt der US-amerikanische Wirtschaftshistoriker Harold U. Faulkner, „in die Stellung eines amerikanischen Schutzgebietes gedrückt, ein wiederholtes Einschreiten auf der Insel ermöglicht und die Bahn für eine gründliche wirtschaftliche Durchdringung frei“ (Faulkner 1957: 580).

Die USA zögerten nicht, von dem von Senator Platt initiierten „Amendment“ (Zusatz) zur kubanischen Verfassung Gebrauch zu machen. Im Jahre 1906 setzte Theodore Roosevelt auf Kuba eine Militärregierung ein, die die Republik bis 1909 regierte. 1912, 1917 und 1921 wurden erneut amerikanische Marinetruppen auf die Karibikinsel geschickt, um das Land im Sinne Washingtons zu „stabilisieren“ ( O’Callaghan 2005: 86-87).

Sich auf die Roosevelt Corollary berufend mischten sich die USA mit bewaffneter Macht mit ähnlicher Begründung wie auf Kuba auch in Nikaragua und auf Santo Domingo ein: Die Dominikanische Republik hatte 1904 bankrott gemacht und konnte die Zinsen für ihre Staatsschuld nicht mehr aufbringen. Im Jahre 1905 wurde mit den Vereinigten Staaten ein Vollzugsabkommen getroffen, wonach US-Behörden die Zollverwaltung übernahmen und überwachten, dass die Regierung in Santo Domingo 55 % ihrer Zolleinnahmen für die Bezahlung ausländischer Forderungen reservierte und sich bemühte, mit den verbleibenden 45 % die laufenden Staatsausgaben zu bestreiten. Die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Dominikanischen Republik intensivierte sich, als der amerikanische Präsident 1912 die Abdankung des dominikanischen Präsidenten erzwang. Sie erreichte ihren Höhepunkt mit der Invasion von US-Marinesoldaten im Jahre 1916. Von da an bis 1924 verblieb Santo Domingo unter einer von den Vereinigten Staaten installierten Militärregierung bis zur endgültigen Abzahlung der Schulden aus dem Jahre 1904 im Jahre 1924 (Niess 1984: 583). Die Interventionspolitik der USA wurde von ihren Kritikern, die sich auf eine entsprechende Äußerung von Theodore Roosevelt bezogen[2], vielfach als „Big Stick Policy“, als Politik der Disziplinierung der lateinamerikanischen Staaten „mit dem großen Stock“ bezeichnet. Der britische Wirtschaftshistoriker Bulmer-Thomas hat diese Politik der USA in der Karibik als „kolonialistisch bis auf die Verwendung des Begriffs“, (Bulmer-Thomas 2003: 47). charakterisiert. „Big Stick Policy“ erwies sich als beste Voraussetzung für die wirtschaftliche Durchdringung des betroffenen Landes, was immer zweierlei bedeutete: Veräußerung des attraktivsten Teils der nationalen Wirtschaften an US-amerikanische Konzerne und Verdrängung der europäischen Handelskonkurrenz. Dafür war die US-Administration gern bereit, den finanziellen Aufwandes für die begleitenden Militäraktionen zu tragen. Während die USA die Finanzgeschäfte der Dominikanischen Republik überwachten, brachten sie gleichzeitig ein Drittel des wichtigsten Exportzweiges des Landes, der Zuckerindustrie, in ihre Hand. Für Nikaragua wurden die USA bis 1913 zum wichtigsten Handelspartner, auf sie entfielen 1913 35 % der Einfuhr und 56 % der Ausfuhr des Landes (Faulkner 1957: 584). Auf Kuba entfielen unmittelbar nach dem Spanisch-Amerikanischen Krieg mehr als dreimal soviel US-Exporte wie zuvor. 1906, als die USA sich auf Kuba direkt einzumischen begann, waren es sogar sechs Mal mehr. Ähnlich rasch vermehrten sich die US-Kapitalanlagen auf der Karibikinsel: Hatten die Direktinvestitionen 1896 nur 50 Mill. Dollar ausgemacht,so waren es 1906 bereits 120 Millionen. Im Jahre 1913 belief sich das US-Kapital dann auf 220 Mill. Dollar (Niess 1984: 109). Der größte Teil der Investitionen floss in den Zuckerrohranbau und in die Zuckerverarbeitung. 1905 hatten US-amerikanische Firmen die Hälfte ihrer auf Kuba investierten Dollars im Zucker und im Tabak angelegt, ein weiteres Viertel im Bahnbau, wobei die Mehrzahl der neu gebauten Eisenbahnlinien die Zuckerfabriken unmittelbar mit den Häfen verband.

Das Beispiel Kubas veranschaulicht, dass die USA mit ihrer „Big Stick Policy“ verhinderten, dass sich in den mittelamerikanischen und Karibik-Staaten eine nationale Volkswirtschaft entwickeln konnte, die auf der bestmöglichen Nutzung der vorhandenen Rohstoffreserven und des Arbeitskräftepotenzials zugunsten eines an den Bedürfnissen des Landes ausgerichteten Binnenmarkts und ihn ergänzenden Exportmarkts beruht hätte. Mittelfristig gesehen war dies wohl der größte Schaden, den die USA in Lateinamerika, besonders aber in Mittelamerika und im Karibikraum mit ihrer imperialistischen Politik anrichteten.

3. Widerstand gegen die „Big Stick Policy“ und deren Krise

Wenn sich die USA-Invasoren auch gern als Retter oder Heilsbringer darstellten, ließen sich die betroffenen Völker nicht täuschen. Die „Gringos“, die die Arroganz der Macht gar nicht erst zu verbergen suchten, waren bei der Masse der Bevölkerung unbeliebt, ja verhasst. Die Voraussetzungen für antiimperialistischen Widerstand auf breiter Basis schienen insofern in Lateinamerika günstig. Gegen die Politik des „großen Stocks“ ernsthaft Widerstand zu leisten, gestaltete sich jedoch de facto schwierig. Auch wenn die Zahl der Kriegsschiffe bzw. Landungstruppen, die die USA zur Durchsetzung bzw. Wahrung ihrer Interessen im jeweiligen Land einsetzten, in der Regel zahlenmäßig gering war, konnten sie aus dem „Mutterland“ jederzeit aufgestockt werden, wenn es dem Militär nicht gelang, antiimperialistische Aktionen zu stoppen. Darüber hinaus gelang es den USA immer dann, wenn Teile der herrschenden Oligarchie gegen die USA-Interessen opponierten und mit antiimperialistischen Losungen Unterstützung im Volke fanden, konkurrierende Gruppierungen in der einheimischen Oligarchie zu mobilisieren, militärisch auszurüsten und den Sturz der sich gegenüber den USA nicht mehr loyal verhaltenden Regierungen zu erreichen.

Nach diesem Strickmuster wurde z. B. 1903 gegen Kolumbien vorgegangen. Als die Vereinigten Staaten im Januar mit Vertretern der kolumbianischen Regierung einen Vertrag ausgehandelt hatten, der den USA beim Kanalbau und in der Kanalzone außerordentliche Rechte einräumte, ging ein Aufschrei der Empörung durch Kolumbien, sobald der Vertragsinhalt allgemein bekannt wurde. Im März 2003 stimmte der US-amerikanische Senat dem Vertrag – wie zu erwarten war – zu. Der kolumbianische Kongress seinerseits schob zunächst die Annahme des Vertrages, den die öffentliche Meinung in Kolumbien einhellig verdammte, Monat für Monat hinaus. Im August, nachdem der US-Kongress das kolumbianische Parlament unmissverständlich zu einer endgültigen Stellungnahme aufgefordert hatte, lehnte der Kongress in Bogota den Vertragstext als gegen die legitimen Interessen Kolumbiens verstoßend ab. Daraufhin mobilisierten die USA die seit Jahren vor sich hindümpelnden panamesischen Separatisten (und auch ein Kanonenboot) und inszenierten am Isthmus von Panama eine „Revolution“. Die Unabhängigkeit Panamas wurde erklärt. Die USA erkannten am 3. November die panamesische „Revolutionsregierung“ an. Bereits am 10. November legten die Amerikaner dieser den Text eines Kanalvertrages vor. Die USA räumten sich darin „auf ewig“ die Kontrolle über eine zehn Meilen breite Kanalzone, in der sie schalten und walten durften ganz so „als wären sie der Souverän des Territoriums“ und eine Art Oberaufsicht über die neugeschaffene Republik ein. Die panamesische Seite war vor die Wahl gestellt, entweder von den USA erobert oder von Kolumbien zurückerobert zu werden. Der Kanalvertrag wurde von den USA und Panama am 18. November unterzeichnet. Er trat am 24. Februar 2004 in Kraft (König 2006: 554-556).

Selten stießen die USA mit ihrer „Big Stick Policy“ auf länger andauernden hartnäckigen Widerstand. In Nikaragua war es August César Sandino, der sich US-amerikanischer Kontrolle und Besatzung des Landes widersetzte. Mit wenigen Getreuen begann er den ersten modernen Guerillakrieg gegen die Nordamerikaner und ihre einheimischen Verbündeten in Nikaragua. Da er in der Provinz Nueva Segovia unter Landarbeitern und Kleinbauern über einen starken sozialen Rückhalt verfügte, war er mit seinen Leuten beweglich und schlagkräftig genug, um den US-Marines ungeachtet deren erdrückender waffentechnischen Überlegenheit empfindliche Verluste beizubringen. Erst nach der Ermordung des Rebellenführers Sandino gelang es den USA mit Hilfe der von ihnen ausgerüsteten „Nationalgarde“ von Anastasio Somoza, dem antiimperialistischen Widerstand in Nikaragua ein Ende zu bereiten (Rey 2010: 8).

Es war dann nicht der mehr oder minder ausgeprägte Kampf gegen den amerikanischen Imperialismus in diesem oder jenen lateinamerikanischen Land, der die „Big Stick Policy“ Anfang der 1930er Jahre in die Krise geraten ließ, sondern die Weltwirtschaftskrise. Sie traf die Länder Lateinamerikas ausnahmslos durch Preisverfall und Absatzprobleme für ihre Rohstoffe in den Vereinigten Staaten (Roesler 2010a: 60-61). Der Grund: Die USA waren von der Krise als erstes kapitalistisches Hauptland sehr stark betroffen. Sinkende Produktion und schrumpfende Kaufkraft in den USA zogen eine Reduzierung der Einfuhr nach sich. Das Jahr 1929 als 100 genommen, sanken die US-amerikanischen Importe 1930 auf 70 % und bis 1932 auf 30 % (Roesler 2009: 101). Der stark verminderte Bedarf an Rohstoffen, Materialien und das fast gänzliche Aufhören der Investitionstätigkeit bei der Erschließung der mineralischen und organischen Rohstoffe ließen das US-amerikanische Engagement in Lateinamerika während der Krise in anderem Lichte erscheinen. Der Süden verlor als Rohstofflieferant an Wert, Investitionen in diese Region, zumal bei rasch sinkenden Rohstoffpreisen, lohnten sich kaum mehr. Die USA verloren für die lateinamerikanischen Staaten als Absatzmarkt noch mehr an Bedeutung, nachdem der 1930 zum Schutz der amerikanischen Wirtschaft beschlossene „Smoot-Hawley-Tariff“ die Zölle auf die meisten Hauptexportprodukte Lateinamerikas drastisch erhöhte (Faulkner 1957: 668).

Vor dem veränderten wirtschaftlichen Hintergrund sah die US-Regierung die ständige aufwendige Einmischung in die inneren Angelegenheiten der lateinamerikanischen Staaten zur Sicherung amerikanischer Außenmärkte und Kapitalinvestitionen vor allem als eine finanzielle Last und als moralische Bürde, die das Ansehen der USA in der Weltöffentlichkeit schädigte. Militärinterventionen, die gewissermaßen das Rückgrat der „Big Stick Policy“ bildeten, wurden nunmehr selbst von Teilen des US-amerikanischen Establishments für überflüssig weil für zu teuer bzw. überhaupt für widersinnig gehalten, da sie im betroffenen lateinamerikanischen Staat gewöhnlich politische Gegenaktionen hervorriefen, die zu neuen Unruhen führten, der den niedergelassenen amerikanischen Firmen den normalen „Gang der Geschäfte“ erschwerte.

Die Politik des Aussitzens der Wirtschaftskrise durch den amerikanischen Präsidenten Herbert Hoover (1929-1932) ließ jedoch nach innen wie nach außen eine Änderung der bisherigen Politik nicht zu (Roesler 2010b: 8). So schwelte auch auf Kuba die Krise in den Beziehungen der Antillenrepublik zu den USA. Die Unzufriedenheit der kubanischen Bevölkerung mit dem von den USA gestützten Präsidenten erhielt immer neue Nahrung durch ausfallende Exporte der allein auf den amerikanischen (Zucker-)markt ausgerichteten Wirtschaft des Landes. 1933 belief sich der Wert der US-Importe aus Kuba, der 1924 bei 362 Millionen US-Dollar gelegen hatte gerade noch auf 57 Mill. Dollar. 1933 brach „eine Massenrevolution, vorwiegend auf dem Lande, gegen die Zuckerstrukturen aus“ (Zeuske 2010: 26,27). Der Diktator Machado, eine amerikanische Marionette, konnten das verelende Land kaum noch unter Kontrolle halten. Ob es unter diesen Umständen gelingen würde, Kuba auf gewohnte Art, d. h. durch die erneute Auswechslung des Präsidenten mit Hilfe einer anderen US-hörigen Person aus der Oligarchie, zu beruhigen, war fraglich geworden. Die kubanische Krise war das wichtigste Argument, warum sich Präsident Franklin D. Roosevelt, der im März 1933 sein Amt antrat, vor allen anderen außenpolitischen Fragen dem Verhältnis der USA zu Lateinamerika zuwandte.

4. Roosevelts „Good Neighbor-Policy“

In seiner Inauguraladresse, die hauptsächlich dem New Deal, der Strategie eines Auswegs aus der Wirtschaftskrise, gewidmet war (Schlesinger Jr. 2003: 1-23), umriss Franklin D. Roosevelt auch bereits den neuen Kurs gegenüber Lateinamerika und gab ihm den programmatischen Namen „Politik der guten Nachbarschaft“. Wie im Falle der Wirtschaftsreform zögerte der amerikanische Präsident nicht, sofort mit der Verwirklichung seiner außenpolitischen Vorstellungen zu beginnen. Bereits im April 1933 entsandte er Sumner Welles als Sonderbotschafter ins brodelnde Kuba. Zu ihm, dem Angehörigen der Lateinamerika-Abteilung des State Department, hatte Roosevelt seit 1927 Kontakt. Mit Amtsübernahme wurde Welles Präsidentenberater und in den nächsten Jahren zum Architekten der US-amerikanischen Lateinamerika-Politik während der Ära Roosevelt (Gellman 1964: 166).

Die kubanische Krise konnte im Frühjahr 1934 beendet werden. Ungewöhnlich an der geschaffenen Lösung war nicht, dass ein neuer Präsident – wiederum mit Zustimmung der USA – eingesetzt wurde, sondern dass dies ohne einen Einmarsch der Marines abging. Ungewöhnlich war auch, dass die Regelung der amerikanisch-kubanischen Beziehungen durch den Costignan-Jones Act vom Mai 1934 nicht nur Kuba verpflichtete, seine als Reaktion auf den Smoot-HawleyAct seit 1930 erhöhten Importzölle für eine größere Zahl amerikanischer Produkte wieder aufzuheben, sondern dass die USA ihrerseits den Zoll für Kubas wichtigstes Ausfuhrgut Zucker um mehr als die Hälfte, von 2 Cents auf 0,9 Cents, senkte. Am deutlichsten aber demonstrierte die Roosevelt-Administration die Wende in US-Lateinamerikapolitik mit der Aufhebung des Platt-Amendments, das seit der Gründung der Republik Kuba 1902 jede Intervention der USA in der Antillenrepublik gerechtfertigt hatte (Niess 169).

In Kuba war damit Wirklichkeit geworden, was Roosevelt auf seiner Lateinamerika-Reise, der ersten Auslandsreise, die der amerikanische Präsident unternahm, versprochen hatte: Das Ende der „Big Stick Policy“.

Bei Kuba blieb es nicht. Der Regierung von Haiti wurde der Abzug amerikanischer Truppen zugesagt und bis August 1934, drei Monate früher als im Jahr zuvor angekündigt, vollendet. Ganz im Sinne der außenpolitischen Wende verzichtete die Roosevelt Administration im „Freundschafts- und Kooperationsvertrag“ mit Panama vom März 1936 auf das Interventionsrecht außerhalb der Kanalzone und erklärte sich zur einer Erhöhung der Pachtzahlungen um 72 % an die drei Jahrzehnte zuvor geschaffene mittelamerikanische Republik bereit (ebd. 172).

Zur Nagelprobe für die „Good Neighbor Policy“ sollte jedoch der Konflikt zwischen amerikanischen Ölkonzernen und der mexikanischen Regierung im Jahre 1938 werden. In Mexiko standen einander zunächst die Gewerkschaften der Ölarbeiter und die amerikanischen Ölkonzerne, geführt von der Standard Oil Co. of New Jersey Group, konfrontativ gegenüber. Die Gewerkschaften hatten sich 1936 zusammengeschlossen und Forderungen gegenüber den Arbeitgebern erhoben, die von höheren Löhnen über einen 8-Stunden-Tag bis zu angemessener Überstundenvergütung und bezahltem Urlaub reichten. Die Ölgesellschaften wiesen diese Forderungen brüsk zurück, worauf die Gewerkschaft im Mai 1937 mit einem Generalstreik im Erdölgebiet drohte. Beide Konfliktparteien riefen nach dem Staat, nach „ihrem“ Staat jeweils.

In Mexiko ging die Bitte der Gewerkschaften um Hilfe an Präsident Lázaro Cárdenas. Gestützt auf die nach der mexikanischen Revolution von 1910 im Jahre 1917 verabschiedete, in den 20er Jahren aber kaum zur Richtschnur der Politik gediehene Verfassung, traf er in den 1930er Jahren eine Reihe von Entscheidungen, mit denen er den Weg für die Abkehr von der einseitigen außenwirtschaftlichen Abhängigkeit von den USA zugunsten der Entwicklung des mexikanischen Binnenmarktes ebnete. Die Regierung Cárdenas setzte eine Expertenkommission ein, die den amerikanischen Ölkonzernen vorrechnete, dass sie durchaus über die Einnahmen verfügten, um den Forderungen der Gewerkschaften nachzukommen (König 2006: 718).) Als die Ölfirmen sich weigerten, dem Schiedsspruch nachzukommen, wurden sie verstaatlicht. Standard Oil entfachte zunächst in den USA eine Pressekampagne gegen das „sozialistische“ Mexiko – Cárdenas hatte einen „Sechsjahrplan für ein neues Mexiko“ auf den Weg gebracht – um dann von der Regierung in Washington zu verlangen, dass sie – ganz in der Traditionen der „Big Stick Policy“ – Truppen gegen die Nachbarn in Marsch setzen solle, um die „rechtmäßigen“ Eigentümer wieder in ihre Rechte einzusetzen.

Roosevelt, der auf einer gesamtamerikanischen Konferenz in Buenos Aires im Dezember 1936 das Prinzip der Nichtintervention als Basis der „Good Neigbor Policy“ noch einmal ausdrücklich betont hatte (Niess1984: 174), weigerte sich, dem Drängen der der Ölmultis nachzugeben. Der amerikanische Präsident konnte es sich auch nach seinem zweiten Wahlsieg (1936) gestatten, auf seine politischen Gegner im Lande wenig Rücksicht zu nehmen. Die Konservativen und Big Business hätten zu gern gesehen, dass Marinetruppen nicht nur die mexikanischen Erdölfelder besetzt hätten, sondern dass bei der Gelegenheit auch Cárdenas gestürzt worden wäre, der amerikanische Industriewaren mit hohen Zöllen belegt und 1937 die von amerikanischem und britischen Kapital beherrschten Banken und Eisenbahngesellschaften Mexikos zwangsweise aufgekauft hatte.

Doch Roosevelt war bestrebt, den Konflikt zwischen der mexikanischen Regierung und den Ölgesellschaften auf dem Wege der Verhandlungen zu lösen. Roosevelt gestand der mexikanischen Regierung in aller Form das Recht zu, ausländischen Besitz in Nationaleigentum zu überführen. Als Gegenleistung erklärte sich die Regierung Cárdenas bereit, die Ölkonzerne für ihre Verluste zu entschädigen. Die Höhe der Entschädigung festzulegen überließen beide Regierungen einem Expertengremium. Die Rückzahlungen erfolgten nach 1943 (ebd. 176-177). Die US-amerikanischen Konzerne und Konservativen mussten akzeptieren, dass die Zeiten des „Big Stick“, während der die US-Regierung sich in den Jahren vor dem Eintreten der USA in den Ersten Weltkrieg wiederholt mit Strafexpeditionen in den mexikanischen Bürgerkrieg eingemischt hatte, vorbei waren. Und die Lateinamerikaner lernten am Beispiel Mexikos, dass organisierter Widerstand gegen die wirtschaftliche Beherrschung des Kontinents durch die USA unter den Bedingungen der „Good Neighbor Policy“ nicht nur möglich war, sondern auch zum Erfolg führen konnte.

5. Dekorations- oder Paradigmenwechsel? Zur Einschätzung der „Good Neighbor Policy“

Anhand der Analyse des Ölkonfliktes zwischen Mexiko und den USA ist der Politologe und Lateinamerika-Kenner Frank Niess zu dem Schluss gekommen, „dass die ‚Good Neighbor Policy’ zwar nicht als eine durch und durch andere Politik den Imperialismus vergangener Tage ablöste, dass sie aber auch keine bloße Phrase war“. Hat demnach in der US-amerikanischen Außenpolitik unter Roosevelt ein Paradigmenwechsel stattgefunden? Niess schränkt ein: „Bildlich ausgedrückt: die amerikanischen Politiker vertauschten im Umgang mit den Nachbarn südlich des Rio Grande den ‚Big Stick’ mit Glacéhandschuhen, ohne dass sie aber durch diesen Wechsel der außenpolitischen Utensilien die Kontrolle über Lateinamerika aus der Hand gegeben hätten“ (Niess 1984: 178). Das klingt mehr nach Dekorationswechsel.

Eine derartige Einschätzung, die Niess vor allem mit der sich auch in den 1930er Jahren fortsetzenden Außenhandelsbindung der lateinamerikanischen Staaten an die USA, nunmehr auf der Basis des 1935 zwischen den USA und ihren südlichen Nachbarn abgeschlossenen „Reciprocal Trade Agreements“ (Niess 178-201) begründet, scheint mir doch zu apodiktisch. Sie übersieht, dass sich in Auswertung der Weltwirtschaftskrise und befreit von US-amerikanischen Interventionsdrohungen nicht nur in Mexiko sondern in fast allen größeren Staaten Lateinamerikas[3] seit den 1930er Jahren eine Abkehr vom so genannten Export-Import-Modell vollzog, das die Länder südlich des Rio Grande zu Lieferanten von Rohstoffen und zu Absatzmärkten für Industriewaren der USA[4] gemacht hatte (Boris 2009: 18-26). An dessen Stelle trat in den größeren Staaten des Kontinents die Politik der Importsubstitution. Geschützt durch Zollschranken, durch Kontingentierung (d. h. mengenmäßigen Begrenzung) der Importe von Erzeugnissen der verarbeitenden Industrie aus den USA und Europa, begünstigt auch durch die Abwertung der nationalen Währungen, konnte sich ein einheimischer Industriesektor entwickeln. Die am stärksten von der Importsubstitution erfassten Industriezweige waren die Textilindustrie, die Bekleidungs-, die Nahrungsmittel- und die Baumaterialienindustrie so wie die Möbelindustrie. Artikel des täglichen Bedarfs der breiten Massen mussten nicht mehr importiert werden, die Abhängigkeit der Gesamtwirtschaft vom Export von mineralischen Rohstoffen und Produkten der Landwirtschaft, mit denen die Importe von Produkten der verarbeitenden Industrie zu bezahlen waren, sank.

Insgesamt trat nach der Krise eine deutliche Erholung der lateinamerikanischen Wirtschaften ein. Die größten Länder (Argentinien, Brasilien, Mexiko und Kolumbien) konnten zwischen 1929 und 1939 eine höhere durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes (BIP) registrieren als sie die USA vorweisen konnte. Im Durchschnitt erreichten Mexiko und Argentinien im Jahrzehnt 1929-1939 ein Wachstum von 2 %, Brasilien und Kolumbien eines von 4 %. In diesen Ländern lagen die Zuwachsraten des industriellen Sektors über dem der Gesamtwirtschaft (von 3 % in Argentinien bis 8 % in Kolumbien) und erwiesen sich als Motor der Wirtschaft (Boris 2009: 31).

Dies alles kann als Beweis dafür gewertet werden, dass sich in Lateinamerikas Wirtschaft – jedenfalls in den Ländern, die sich die Importsubstitutionspolitik zu Eigen gemacht hatten – mit den 1930er Jahren ein qualitativer Wandel zu vollziehen begann. Bis zu einem gewissen Grade konnten sich die lateinamerikanischen Wirtschaften, soweit sie sich der Importsubstitution verschrieben, vom Konjunktur- bzw. Krisenzyklus der USA und der imperialistischen Hauptländer abkoppeln.

Dadurch war auch die Voraussetzung für eine stärke politische Unabhängigkeit von den USA gegeben. Cárdenas in Mexiko ebenso wie Getúlio Vargas in Brasilien als auch Juan Domingo Perón in Argentinien betrieben eine Politik, die das nationale Interesse betonte und sich gegen den imperialistischen ausländischen Einfluss und die mit den USA traditionell verbundenen einheimischen Oligarchien richtete. Die Politik der modernen Caudillos konnte auf die Unterstützung der städtischen Massen rechnen, die sich in starken Gewerkschaften organisierten (Roesler 2009: 121-127).

Die Importsubstitutionspolitik hatte sich Schritt für Schritt in dem Maße entwickelt, wie erkennbar wurde, dass das Export-Importmodell nicht aus der Wirtschaftskrise herausführen konnte. Sie wurde erst nach 1945 durch Raúl Prebisch als Dependencia (Abhängigkeits)-Theorie zum wirtschaftstheoretischen Konzept entwickelt.[5] In ihrem Mittelpunkt stand die Beseitigung der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Länder der „Peripherie“ (z. B. die Länder Lateinamerikas) von der „Zentrale“ (kapitalistische Industrieländer) und erwies sich in ihrem Kern als dezidiert antiimperialistisch (Prebisch 1950). In den Jahren der Herausbildung der Importsubstitutionspolitik aus dieser oder jener krisenbedingten Notmaßnahme heraus und ihrer Weiterentwicklung zu einem halbwegs geschlossenen Programm war es wichtig, dass die lateinamerikanischen Staaten dank der „Good Neighbor Policy“ Roosevelts bei ihren wirtschaftlichen Experimenten nicht mit ständiger Einmischung der Vereinigten Staaten rechnen mussten, während in den Jahrzehnten zuvor unter den Bedingungen der „Big Stick Policy“ Versuche, eine vom Eigeninteresse der lateinamerikanischen Staaten geleitete Wirtschaftsentwicklung einzuleiten, mit einer Kombination von militärischen, ökonomischen und politischen Mitteln in der Regel bereits im Keime erstickt worden waren.

Nicht wegen ihrer Rhetorik und Gesten, sondern wegen ihrer Wirkungen, wegen des größeren Spielraums, den die „Good Neighbor Policy“ den lateinamerikanischen Regierungen einräumte, ist es m. E. für die Roosevelt Ära gerechtfertigt, von einem Paradigmenwechsel der US-amerikanischen Außenpolitik gegenüber Lateinamerika zu sprechen.[6] Unzweifelhaft ist, dass die durch die Importsubstitutionspolitik eingeleitete Industrialisierung in Mexiko und Südamerika auch durch die spätere Abkehr von ihr zwischen Mitte der 1980er und Ende der 1990er Jahre (Boris 2009: 78-90) nicht mehr vollständig rückgängig gemacht werden konnte. Wenn heute – gerade in der jüngsten Weltwirtschaftskrise – viel von Brasilien, einem der sogenannten BRIC-Staaten[7] als zukünftiger wirtschaftlicher Großmacht die Rede ist, dann gehen die Anfänge dieser Entwicklung auf die Wirtschaftspolitik von Präsident Getúlio Vargas und seiner der Importsubstitutionspolitik verpflichteten Nachfolger zurück, die zunächst die Leichtindustrie und später auch Erzbergbau, Metallverarbeitung und Chemische Industrie im größten Land Lateinamerikas förderten. Indirekt hatte an dieser Entwicklung auch Roosevelts „Good Neighbor Policy“ ihren Anteil, die bewirkte, dass die USA mit Brasilien im Februar 1935 als erstem lateinamerikanischem Staat ein „Reciprocal Trade Agreement“ auf Basis der Gegenseitigkeit abschlossen.

Die Entwicklung der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Lateinamerika während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt die Schlussfolgerung zu, dass imperialistische Politik nicht unbedingt gleich imperialistischer Politik sein muss, und dass diese nicht nur bezüglich ihrer Rhetorik und bezogen auf die angewandten Methoden, sondern auch hinsichtlich der Bedingungen für den antiimperialistischen Kampf bedeutende Unterschiede aufweisen kann. Der antiimperialistische Kampf war zwar in der Phase der „Good Neighbor Policy“ weniger heroisch als in der Periode des „Big Stick“, konnte aber größere und dauerhafte Erfolge bei der Durchsetzung der landeseigenen wirtschaftlichen Interessen der lateinamerikanischen Staaten gegenüber denen der USA verbuchen.

Literatur

Boris, Dieter (2009): Lateinamerikas Politische Ökonomie. Aufbruch aus historischen Abhängigkeiten im 21. Jahrhundert? Hamburg

Bulmer-Thomas, Victor (2003): The Economic History of Latin America since Independence, Cambridge

Faulkner, Harold U. (1968): Geschichte der amerikanischen Wirtschaft, Düsseldorf

Gellman, Irwin F (1979): Good Neighbor Diplomacy. United States Policies in Latin America 1933-1945, Baltimore/London.

König, Hans-Joachim (2006): Kleine Geschichte Lateinamerikas, Bonn

Kossok, Manfred (2000): Kolonialgeschichte und Unabhängigkeitsbewegung in Lateinamerika. Ausgewählte Schriften Bd. 1, Leipzig

Niess, Frank (1984): Der Koloss im Norden. Geschichte der Lateinamerikapolitik der USA, Köln 1984

O’Callaghan, Bryn (2005): An Illustrated History of the USA, Harlow

Prebisch, Raul (1950): The Economic Development of Latin America and its Principal Problems, Lake Succes, N.Y

Rey, Romeo (2010): Die Linke in Lateinamerika, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 41-42/2010, S. 6-11.

Roesler, Jörg (2009): Kompakte Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas vom 18. bis 21. Jahrhundert, Leipzig

Roesler, Jörg (2010a): Lateinamerikas Auswege aus der Weltwirtschaftskrise nach 1929 – auch für heute gültig? in: Zeitschrift für Weltgeschichte 1/2010, S. 55-80.

Roesler, Jörg (2010b): Der schwierige Weg in eine solidarische Wirtschaft. Historische Erfahrungen aus Weltwirtschaftskrise und New Deal, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 9/2010.

Schlesinger Jr., Arthur M. (2003): The Coming of the New Deal 1933-1935, Boston/New York.

Zeuske, Michael (2010). Traditionen, Gegenwart und Zukunft der kubanischen Revolution, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 41-42/2010, S. 25-31.

[1] Brasilien hatte sich von Portugal friedlich und einvernehmlich getrennt.

[2] Die bekannt gewordene Politikempfehlung von Theodore Roosevelt, auf die bei der Namensgebung für seine Lateinamerikapolitik durch die Presse Bezug genommen wurde, lautete „Speak softly and carry a big stick“.

[3] Die Substitution von Industriewarenimporten beschränkte sich zunächst auf die großen Flächenstaaten. In den zentralamerikanischen Ländern und auf den Karibikinseln begann die Substitution von Industriewarenimporten in nennenswertem Umfang erst in den 1950er und 1960er Jahren.

[4] In den Jahrzehnten zwischen den Unabhängigkeitserklärungen der lateinamerikanischen Staaten und dem Ersten Weltkrieg war das Export-Import-Modell vorrangig auf Großbritannien, in geringerem Maße auch auf Frankreich ausgerichtet.

[5] Prebisch stand 1949-1963 der „Wirtschaftskommission der UN für Lateinamerika“ (CEPAL) vor. Die Dependencia-Theorie wird deshalb auch als CEPALISMO bezeichnet.

[6] Dass danach, in der Zeit des Kalten Krieges und des „Kreuzzugs gegen den Kommunismus“ der „Big Stick“ – beginnend mit der Invasion in Guatemala 1954 – von verschiedenen US-Administrationen wieder hervorgeholt wurde, kann im Rahmen dieses Beitrages nicht behandelt werden.

[7] Gemeint sind Brasilien, Russland, Indien und China.