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Der chinesische Transformationsprozess

März 2005

Die VR China hat in den zurückliegenden 25 Jahren einen wirtschaftlichen Aufschwung genommen, den zuvor niemand für möglich hielt. Das können selbst jene politischen Kräfte nicht leugnen, die einer sozialistischen Entwicklungsrichtung dieses Landes entgegenwirken und den chinesischen Transformationsprozess in Richtung Kapitalismus umzulenken bestrebt sind.

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung haben sich in der Volksrepublik zugleich überaus ernste gesellschaftliche Probleme entwickelt. Sie haben ihre Ursache sowohl in der Politik der KPCh wie im permanenten Druck des internationalen Kapitals.

Der bisherige Transformationsprozess in der VR China hat in der materiellen Sphäre noch keine Elemente, Beziehungen und Strukturen hervorgebracht, die die qualitativ höhere Entwicklungsstufe des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus verkörpern würden. Im zurückliegenden Jahrzehnt haben sich zudem zunehmend Elemente und Kräfte entwickelt, die der sozialistischen Entwicklung des Landes entgegenstehen oder gar entgegenwirken.

Am Beispiel der VR China tritt damit eine Thematik in den Vordergrund, die in der internationalen Arbeiterbewegung seit der Russischen Oktoberrevolution umstritten ist – die nichtkapitalistische Entwicklung mehr oder weniger vorkapitalistischer Länder zum Sozialismus. Bekanntlich hat es in der bisherigen Geschichte noch kein Land gegeben, in dem dieser Weg bis zu Ende beschritten werden konnte. Es ist daher auch nicht erwiesen, dass ein solcher Weg überhaupt gangbar ist.

Charakter und Entwicklung des chinesischen Transformationsprozesses

Der chinesische Transformationsprozess vermittelt zwei wesentliche Erkenntnisse: Zum einen ist eine reale und umfassende Einschätzung der historischen Ausgangsbedingungen für die Transformation von erheblichem Einfluss auf ihren Verlauf. Mao Zedong und damit die KP Chinas hatten beispielsweise unter dem Einfluss Stalins den Grad der Kapitalisierung in der chinesischen Gesellschaft am Vorabend der Gründung der Volksrepublik Chinas überschätzt[1] und zugleich die Festigkeit der feudalen Zivilisation unterschätzt. Dieses Herangehen an die chinesischen Realitäten sollte gravierende Auswirkungen haben. Sie können an den Ereignissen der Jahre 1958-61 und 1966-1976 abgelesen werden. In den letzten Jahren hat diese Problematik im Zusammenhang z.B. mit Erscheinungen des Patriarchalismus unter den Parteikadern in China vermehrt Aufmerksamkeit gefunden.

Zum anderen ist die Überwindung der feudalen Zivilisation mit einer mehrtausendjährigen Geschichte gerade in großen Ländern wie China ein besonders langwieriger und komplizierter Prozess. Dabei geht es nicht nur um die Überwindung der ökonomischen Rückständigkeit, wie ursprünglich im Grunde auch von der KP Chinas gesehen. Es geht vielmehr um einen umfassenden und tiefgreifenden Sprung im Zivilisationstyp.[2]

Aus den bisher vorliegenden Erfahrungen praktischer nichtkapitalistischer Entwicklung wissen wir auch, dass dieser Prozess einher gehen muss mit der kritischen Aneignung der Fortschritte der materiellen wie geistigen Zivilisation der Menschheit im Kapitalismus. Es ist ein Verdienst vor allem Deng Xiaopings, dieses dialektische Herangehen an den Kapitalismus aus dem Erbe Lenins[3] wieder aufgegriffen und in die Reform- und Öffnungspolitik der KP Chinas eingeführt zu haben.

Aus meiner Sicht hat sich bisher in der VR China eine gesellschaftliche Transformation aus weitestgehend vorkapitalistischen und kolonial deformierten Verhältnissen zum Sozialismus unter Umgehung der kapitalistischen Gesellschaftsformation vollzogen. Theoretische Überlegungen von Marx und Engels sowie die Theorie und Praxis der NÖP Lenins vermitteln die Überlegung, dass ein solches Land ohne eine entsprechende progressive Unterstützung von außen die mittelalterliche Rückständigkeit in sozialistischer Richtung schwerlich überwinden kann. Diesen Faktor verkörperte für China in den Anfängen des Transformationsprozesses im wesentlichen die UdSSR. Dieser Faktor wirkte jedoch eingeschränkt. Ökonomisch förderte er maßgeblich die Schaffung des Kernstücks der chinesischen Industrie. Für die neue politische und geistige Zivilisation in China vermochte er jedoch aufgrund der eigenen Begrenztheit keine wegweisenden Impulse zu geben. Dennoch beeinträchtigten der Wegfall dieses Faktors und die Konfrontation mit der UdSSR und fast allen anderen sozialistischen Ländern den weiteren Verlauf des chinesischen Transformationsprozesses erheblich. Auf die alte Zivilisation zurückgehende Elemente drängten sich in den Vordergrund der Politik der KPCh. Zugleich vergrößerte sich nicht nur die wirtschaftliche Kluft zwischen der VR China und der kapitalistischen Welt. Auch der ökonomische Abstand Chinas zu einer Reihe Entwicklungsländer nahm wieder zu.

Die Lage änderte sich mit dem Übergang der KP Chinas zu einer Reform- und Öffnungspolitik. Zwei wesentliche Momente sind hier hervorzuheben – der Kurs auf Anpassung der Produktionsverhältnisse an den realen Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Produktivkräfte und der Kurs auf Nutzung des Kapitals. Wie in der NÖP Lenins musste die KP Chinas nun versuchen, vornehmlich das internationale Kapital als „Vehikel“ (Lenin) für die Überwindung der wirtschaftlichen Rückständigkeit zu nutzen und auf diesem Wege eine bedeutende Steigerung der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivität zu erreichen.

Facetten des chinesischen Formationswechsels

Der chinesische Transformationsprozess hat viele Seiten. Sie greifen ineinander und beeinflussen sich gegenseitig.

a) Wandel von der traditionellen Agrargesellschaft zu einer modernen Industriegesellschaft

Von grundlegender Bedeutung im Transformationsprozess ist der Wandel von der dörflichen Ackerbaugesellschaft zur städtischen Industriegesellschaft.

Sein primärer Indikator ist die Industrialisierung des Landes. Nach chinesischen Einschätzungen befindet sich der Industrialisierungsprozess heute, 55 Jahre nach Gründung der Volksrepublik, für das gesamte Land gesehen in seiner mittleren Phase. Diese Entwicklung ist nach Regionen und Zweigen höchst ungleichmäßig verlaufen. Beispielsweise ist die Industrialisierung in der entwickeltsten Region des Landes, im Yangtse-Dreieck (Shanghai, Jiangsu, Zhejiang), weitgehend abgeschlossen und bereits mit der High-Tech-Industrie verbunden. Von diesem Niveau sind viele Gebiete in Mittel- und vor allem in Westchina noch weit entfernt.[4] Und die Industrialisierung der Landwirtschaft ist bisher noch gar nicht in Sicht. Dieser Zweig der Volkswirtschaft entwickelt sich nach wie vor fast ausschließlich auf der Grundlage manueller Tätigkeit in kleinen Familienbetrieben. Die KP Chinas hat sich nun wieder ein hohes Ziel gesetzt: Das Land soll im Jahre 2020 industrialisiert sein. Die konkreten Kriterien, an denen die Erfüllung dieser Aufgabe gemessen werden soll, sind mir nicht bekannt. Die Erfahrungen zeigen jedoch, dass sich die KPCh für die Modernisierung des Landes wiederholt unrealistische Ziele setzte. So scheint mir auch die unter dem früheren Generalsekretär des ZK der KPCh Jiang Zemin gestellte Aufgabe nicht erfüllbar, bis zum Jahre 2010 das sozialistische Dorf zu schaffen. Im marxistischen Verständnis hieße das, bis zu diesem Zeitpunkt eine vergesellschaftete und mechanisierte Großlandwirtschaft aufzubauen. Überaus schwierig dürfte es auch sein, die Industrialisierung in Mittel- und Westchina stärker voranzubringen. Ungeachtet dieser Orientierung vollzieht sich weiterhin eine Abwanderung von qualifizierten wie unqualifizierten Arbeitskräften und Kapital aus diesen Gebieten in das marktwirtschaftlich fortgeschrittene Ostchina.

Ein weiterer Indikator für den Wandel von der traditionellen Agrargesellschaft zur einer Industriegesellschaft ist die Urbanisierung. Typisch für den bisherigen gesellschaftlichen Wandel ist das auffällige Zurückbleiben der Urbanisierung hinter der Industrialisierung. Die entscheidende Ursache für diese Kluft war die Abschottung der Stadt gegenüber dem Dorf nach dem Beispiel der sowjetischen Industrialisierungspolitik unter Stalin. Diese Trennung in der Entwicklung von Stadt und Land begann mit der Einführung einer dualistischen Wirtschaft- und Sozialstruktur am Vorabend des „großen Sprunges nach vorn“. Sie erstreckte sich auf 14 für Leben und Produktion maßgebliche Bereiche[5], in denen die Stadt durch Subventionen und niedrigere Preise privilegiert wurde. Die ländliche Bevölkerung hingegen wurde davon nicht nur ausgeschlossen. Sie hatte zudem bis in die unmittelbare Gegenwart auch die Hauptlast der Industrialisierung des Landes und der regionalen Ausgaben (Bewässerungswirtschaft, Infrastruktur, Bildungswesen u.a.) zu tragen.[6] In dieser dualistischen Struktur hatte der Dörfler so gut wie keine Chance, Stadtbewohner zu werden. Im Ergebnis dieser Differenzierung bildet sich eine Lage heraus, in der eine für China moderne städtische Zivilisation und rückständige arme ländliche Gebiete nebeneinander bestehen. Städtische Bürger erhielten eine für chinesische Verhältnisse gute Bildung, während auf dem Dorfe Analphabetentum und niedriges Bildungsniveau verbreitet blieben. Die Dörfler waren ihrer ökonomischen, sozialen und juristischen Lage nach Bürger zweiter Klasse. Eine Entsendung auf das Dorf glich im Grunde einer Art Verbannung.

Unter dem Einfluss der Marktwirtschaft in den ökonomisch fortgeschrittenen Regionen des Landes und der damit erforderlichen Mobilität der Arbeitskräfte begann dieses dualistische System mehr und mehr zu bröckeln. Schließlich ging auch die Administration dazu über, dieses System einzuschränken und abzubauen. Die nun beschleunigte Urbanisierung ist zu einem wesentlichen Faktor geworden, der einen neuen Wirtschaftsboom ausgelöst hat. 98 Millionen so genannte Bauern-Arbeiter (nongmin-gong) sind derzeit aus den Dörfern unterwegs, um als billige Arbeitskräfte in den Städten Ostchinas anzuheuern. Sie arbeiten dort vielfach unter faktisch rechtlosen und menschenunwürdigen Bedingungen. Obendrein wurde vielen von ihnen der sauer verdiente Lohn vorenthalten. Die Gesamtsumme der in den zurückliegenden Jahren nicht ausgezahlten Löhne überstieg 100 Milliarden Yuan.[7] Die Zentralregierung sah sich deshalb zu entschiedenen Maßnahmen veranlasst, damit die bislang vorenthaltenen Löhne bis 2006 ausgezahlt werden. Dieser Lohn macht einen bedeutenden Anteil des Einkommens der bäuerlichen Familien aus.

b) Wandel vom traditionell „gesetzlos“ (willkürlich) regierten Staat zu einem modernen Rechtsstaat

Chinesische Juristen bezeichnen diese Veränderung auch als Übergang von der Herrschaft der alten Sitten und Gebräuche zur Herrschaft der Rechtsprinzipien. Mit Sitten und Gebräuchen sind hier wohl vor allem die Regeln des Konfuzianismus im Leben der Familie wie des Staates gemeint, ausgelegt und durchgesetzt durch die jeweils Herrschenden. Im alten China gab es kein Recht im modernen Sinne und folglich auch kein Rechtsbewusstsein. Nach dem Sturz des Kaiserreiches und in der Chinesischen Republik kam es zwar zu einigen legislativen Fortschritten. An der traditionellen Praxis änderte sich dadurch so gut wie nichts. Progressive Ansätze zu einem modernen Recht gab es hingegen in den Befreiten Gebieten, ohne jedoch die analphabetisierten „Massen ergreifen“ zu können. In der Praxis dominierte die „Weisung“ (zhi-
shi) der Parteiführung bzw. sehr bald Mao Zedongs als Vorsitzendem der Partei. Daran änderte sich auch nach der Gründung der Volksrepublik nicht viel. Über die Legislative bestimmte im Grunde die engere Parteiführung, in der Mao das letzte Wort hatte. Bezeichnend war, dass – wie im Falle des Gesetzes über die nationale Autonomie – die Ausführungsbestimmungen viele Jahre auf sich warten ließen. Die einzige Art und Weise der Führung wurde die Kampagne, durch eine „oberste Weisung“ ausgelöst und durchgeführt. Ein typisches Beispiel dafür war die „Kulturrevolution“. Hier wurden auf Weisungen Mao Zedongs die geltenden Gesetze der Volksrepublik nicht nur außer Kraft gesetzt, sondern es wurde auch massiv gegen diese verstoßen.

Vor allem die Erfahrungen der „Kulturrevolution“ veranlassten die KP Chinas, mit der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik künftig solchen „gesetzlosen Zuständen“ vorzubeugen. Ich glaube mich daran zu erinnern, dass in den 1980er Jahren auch begonnen wurde, sich der Verbreitung eines modernen Rechtsbewusstseins im Volke zuzuwenden.[8] 1996 verkündete Generalsekretär Jiang Zemin den Kurs, das Land gestützt auf Gesetze zu regieren und einen sozialistischen Rechtsstaat (Fazhi-guojia) aufzubauen. Dem wirkte jedoch vor allem die verstärkte Konzentration der Macht in den Händen der „Ersten“ in den Regionen, der Parteisekretäre, entgegen. Sie vereinigten in ihrer Person das Recht auf die letztliche Entscheidung in allen wichtigen Fragen ihres Machtbereichs, auf die Exekutive und die Kontrolle innerhalb wie außerhalb der Partei. In ihrem Bereich bestimmten sie von ihren Interessen aus, was Gesetz ist bzw. wie bestehende Gesetze auszulegen sind. „Die regionale Macht verwandelte sich damit in die Macht bestimmter Personen. Und diese absolute Macht wird zur Quelle der Korruption.“[9] So setzte sich die Praxis fort, dass bestehende Gesetze in den Regionen nicht befolgt werden, wenn sie den regionalen oder den persönlichen Interessen der „Ersten“ zuwiderlaufen. Auf den Dörfern herrschte häufig nicht das geschriebene Recht, sondern Beamtenwillkür vor. In den 1990er Jahren zwangen z.B. Partei- und Staatsfunktionäre in den Dörfern der Provinz Anhui den Bauern immer wieder neue Abgaben auf. Widersetzten sich die Bauern dieser Willkür, wurden sie geschlagen und sogar in illegale örtliche Gefängnisse verschleppt, die nicht wenige nur als Leichen wieder verließen.[10]

Nach seiner Wahl zum Generalsekretär des ZK der KP Chinas und zum Vorsitzenden der VR China begann Hu Jintao, Partei und Regierung auf eine verstärkte Einhaltung und Durchsetzung der beschlossenen Gesetze zu orientieren. In den Mittelpunkt seiner Bemühungen rückte die Stärkung der Autorität der Landesverfassung. So fordert er, dass sich alle Parteien, Organisationen und Personen dem Grundgesetz der VR China unterzuordnen haben. In den Führungskreisen scheint es aber nach wie vor maßgebliche Kräfte zu geben, die dies im Interesse ihrer Macht und Privilegien für die KPCh nicht akzeptieren wollen.[11] Mit der Entwicklung der Marktwirtschaft sind vielfältige Interessengruppen entstanden, in denen politische und ökonomische Macht vereint sind; auch sie kennen nur das Recht, das ihnen nutzt. Im Volk ist das Rechtsbewusstsein nach wie vor erst schwach und höchst ungleichmäßig entwickelt. Es ist noch selten, dass ein Bürger seine Rechte gegenüber dem Beamten bzw. dem Staat einklagt. Offensichtlich steht die VR China bei der Schaffung eines Rechtsstaates noch am Anfang ihres Weges.

c) Wandel von einer stark zentralisiert geplanten und gesteuerten Staatswirtschaft[12] zur Marktwirtschaft

Die Volksrepublik China begann ihre Entwicklung auf einem noch wesentlich rückständigeren Entwicklungsniveau als Russland zur Zeit der Oktoberrevolution. Unter diesen Bedingungen war das stark zentralisierte System der Wirtschaftslenkung[13] in der ersten Entwicklungsphase der VR China ausgesprochen effektiv. Es ermöglichte die Mobilisierung aller verfügbaren Kräfte und Mittel, um schnell die Kriegsschäden zu überwinden, die Produktion auf die Lösung der entscheidenden Probleme der Gesellschaft zu konzentrieren, die Industrialisierung des Landes einzuleiten und Naturkatastrophen zu begegnen. In seinem Wesen widersprach dieses System jedoch dem historischen Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte. Mit der forcierten Vergesellschaftung des Eigentums an Produktionsmitteln begann dieser Widerspruch hervorzutreten und in den Jahren der „drei roten Banner“[14] erstmals nachhaltig in Erscheinung zu treten.

Mit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik ging die KP Chinas dazu über, dieses System der Wirtschaftsleitung im Ergebnis anhaltender Auseinandersetzungen stufenweise zu reformieren. Im Wesen ging es dabei um das Verhältnis von Plan und Markt und um die Anpassung des Systems an die sich neu herausbildende vielfältige Eigentumsstruktur. 1990/1991 setzte sich in der Frage, wie die Entwicklung der Wirtschaft beschleunigt werden könnte, die Orientierung auf die Marktwirtschaft gegenüber der Position „Verbindung von Plan- und Marktwirtschaft“ durch. Pragmatisch abgesegnet wurde diese neue Orientierung durch Deng Xiaoping im Frühjahr 1991 in Shanghai.

Deng begründete seine Auffassung wie folgt: Plan und Markt, beides gäbe es sowohl im Sozialismus wie im Kapitalismus. Planwirtschaft und Marktwirtschaft seien nur verschiedene Methoden zur Entwicklung der Produktion, die beide sowohl im Kapitalismus wie im Sozialismus angewendet werden könnten. In China hieße das (durch die Dominanz des Gemeineigentums) „sozialistische Marktwirtschaft“. Auf dieser gedanklichen Konstruktion beruht seither die offizielle Position der KP in dieser Frage. Dazu habe ich drei Anmerkungen. Erstens fehlt mir das logische Verständnis für die faktische Gleichsetzung von Plan und Panwirtschaft bzw. Markt und Marktwirtschaft. Zweitens ist die Marktwirtschaft aus meiner Sicht keine Methode, sondern ein System, in dessen Rahmen sich die Wirtschaft bewegt und realisiert. Einer Methode sind keine ökonomischen Gesetzmäßigkeiten immanent, einer Marktwirtschaft hingegen schon. Drittens dürfte heute von einer Dominanz des Gemeineigentums in der Wirtschaft der VR China kaum noch die Rede sein (darüber unten mehr).

Werfen wir schließlich einen Blick auf die reale Marktwirtschaft im heutigen China: Obwohl sie erst in den Anfängen entwickelt ist, können wir doch bereits an ihren Auswirkungen erkennen, dass sie den gleichen ökonomischen Gesetzen wie im Kapitalismus unterliegt (Wirtschaftszyklen, Herrschaft des Profits, erbarmungslose Konkurrenz, Ursache der sozialen Polarisierung, kein ökologisches „Gewissen“ usw.).

Mit dem Übergang zur Marktwirtschaft 1992 begann ein neuer Abschnitt in der Reform- und Öffnungspolitik der KP China. Schritt für Schritt entstanden formell fast alle Institutionen einer Marktwirtschaft. Diese Marktwirtschaft war von Anfang an darauf gerichtet, für die Modernisierung Chinas in wesentlich größerem Umfang als zuvor internationales Kapital ins Land zu holen. In diesem Prozess sind sowohl die Bereiche, in denen dieses Kapital zugelassen ist, ständig erweitert als auch die Bedingungen für die Realisierung des Kapitals ständig günstiger gestaltet worden. Obwohl auch das neue einheimische Kapital hier mit einbezogen worden ist, geht es der KPCh primär um die Nutzung des internationalen Kapitals, insbesondere des Kapitals der Multis.

Als China Ende 2001 der WTO beitrat, war die chinesische Marktwirtschaft in ihrer Ausbildung immer noch nicht über bestimmte Rahmenbedingungen hinausgekommen. Die Funktionen der Regierung waren der Marktwirtschaft nicht angepasst. Institutionen und Methoden der bisherigen hochzentralisierten Wirtschaftsleitung schränkten die Funktionsweise einer Marktwirtschaft merklich ein. Die entscheidenden Teile des staatlichen Sektors waren noch nicht in die Marktwirtschaft entlassen worden (z.B. keine Trennung von Regierung und Unternehmen). Die Bedingungen für die Aufnahme der VR China in die WTO zwangen nun die chinesische Führung, das Tempo für eine volle Ausbildung der chinesischen Marktwirtschaft in Übereinstimmung mit ihren Zusagen gegenüber der WTO zu beschleunigen.

Darauf richteten sich die ersten Schritte der neuen Partei- und Staatsführung unter Hu Jintao. Die 3.Tagung des 16. ZK der KPCh im Oktober 2003 hat mit ihrem „Beschluss über einige Fragen der weiteren Entwicklung der sozialistischen Marktwirtschaft“ darauf orientiert, die noch bestehenden größeren „Systemhindernisse“ grundlegend zu beseitigen. Offenbar geht es darum, die chinesische Marktwirtschaft bei gleichzeitiger Verstärkung der staatlichen Makroregulierung und -kontrolle durch eine Anpassung an die internationale (kapitalistische) Marktwirtschaft voll funktionsfähig zu machen.

d) Wandel aus einer nach außen hin relativ abgeschlossenen
zu einer nach außen hin offenen Gesellschaft

Die Entwicklung der Volksrepublik vor und nach Einleitung der Reform- und Öffnungspolitik beweist, dass China nach wie vor eines äußeren „Vehikels“ bedarf, um den Übergang von der traditionellen Agrargesellschaft zu einer modernen Industrie- und weiter zu einer von der neuen wissenschaftlich-technischen Revolution geprägten Gesellschaft vollziehen zu können. Wie in der NÖP Lenins ist die Nutzung des Kapitals auch in China objektiv eine besondere Form des Klassenkampfes. Sie schließt Zusammenarbeit und Auseinandersetzung, Möglichkeiten und Risiken für den Sozialismus ein. Die Frage ist letztlich, welche der beiden Seiten in diesem Prozess obsiegt. Im Unterschied zu Lenin vermeidet es die KP Chinas jedoch, hier von einem Klassenkampf zu sprechen.

Öffnung des Landes bedeutet im heutigen Stadium der ökonomischen Globa-lisierung in erster Linie Öffnung gegenüber dem internationalen Finanzkapital mit seinen Institutionen Weltbank, IWF und WTO und Öffnung gegenüber den internationalen Multis. Im Vergleich zur NÖP Lenins hat die Zusammenarbeit mit diesem Kapital völlig neue Dimensionen und Wirkungen. Das ausländische Kapital spielt heute eine unverzichtbare und wesentliche Rolle im Produktions- und Reproduktionsprozess des Landes. Es reißt Mauern ein, die der Bildung eines einheitlichen nationalen Marktes entgegenstehen („Öffnung nach innen“). Ausgehend von seinen Interessen nimmt es maßgeblichen Einfluss auf die Ausformung der chinesischen Marktwirtschaft. Von den internationalen Multis erwartet die chinesische Regierung, dass sie einen großen Teil der umgerechnet etwa 400 Milliarden US-Dollar für die Modernisierung der staatlichen Unternehmen aufbringen. Mit der Verlagerung von produzierendem Gewerbe nach China hat das Kapital nicht nur die Industrialisierung des Landes – allerdings häufig in der Art des Manchester-Kapitalismus – beschleunigt. Es hat mit seinen Investitionen auch maßgeblich dazu beigetragen, China enger und fester an die kapitalistische Weltwirtschaft anzubinden. 55 Prozent des chinesischen BIP werden heute über seine Außenwirtschaft realisiert. Ein bedeutender Teil des chinesischen Ex- und Imports hängt von Bedürfnissen und Interessen des ausländischen Kapitals in China ab. Auf dieser Grundlage und befördert durch die moderne Informationstechnologie hat sich der internationale Kapitalismus damit auch völlig neue Möglichkeiten geschaffen, seine Konsumtions- und Lebensart, seine Kultur, seine Ideologie und seine Werte in entscheidende Teile der chinesische Gesellschaft hineinzutragen.

Ausdruck der Öffnung Chinas nach außen ist das Bemühen der KP Chinas, sich die Fortschritte der geistigen Zivilisation der Menschheit seit der Französischen Revolution anzueignen. Führende kapitalistische Mächte sind dabei bestrebt, die heutigen bürgerlichen Werte, Auffassungen und Kategorien als angebliche Verkörperung dieser Fortschritte zu vermitteln.

Im Ergebnis der Öffnung nach außen tritt die VR China heute als eine eigenständige Kraft in der Weltarena auf, die mit ihren nationalen Interessen auch Verantwortung für die internationale Entwicklung zu übernehmen bereit ist.

Nichtkapitalistische Entwicklung Chinas aus heutiger Sicht

Chinas Wirtschaft boomt und belebt damit die Weltwirtschaft. In China herrscht die Auffassung vor, dass das Land seit zwei bis drei Jahren in eine neue Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs eingetreten sei. Bei einer konsequenten Makroregulierung und -kontrolle und einer Abschwächung der ökonomischen und sozialen Widersprüche könne auf längere Sicht ein gesundes, schnelles und anhaltendes Wachstum der Wirtschaft von acht bis neun Prozent gesichert werden. Dadurch würden die gestellten Hauptziele erreichbar – Abschluss der Industrialisierung des Landes, nochmalige Vervierfachung des BIP und allseitiger Aufbau der „Gesellschaft des kleinen Wohlstandes“ bis 2020, grundlegende Modernisierung des Landes bis Mitte des 21. Jahrhunderts. Gleichermaßen konkrete Angaben über den Aufbau des „Sozialismus chinesischer Prägung“ ließen sich in den mir zugänglichen Quellen nicht auffinden.

Einige Faktoren sprechen für die Möglichkeit einer solchen Entwicklung. Die KP Chinas hat schließlich in den ersten zwei Jahrzehnten bis zur Wende in das neue Jahrhundert das BIP des Landes vervierfachen und damit einen grundlegenden Wandel der chinesischen Gesellschaft einleiten können. Die Volksrepublik ist mit dieser Entwicklung dem absoluten BIP nach auf den 3. Platz in der Welt nach den USA und Japan vorgerückt, wenngleich sie gemessen am BIP p.c. noch hinter dem 100. Platz in der Welt liegt. China ist in einigen Bereichen der Forschung inzwischen in die Weltspitze vorgestoßen. Die KP Chinas verfügt heute über reiche Erfahrungen in der Reform- und Öffnungspolitik. Sie hat seit den 1990er Jahren gezeigt, dass sie imstande ist, ökonomische Krisen durch „eine weiche Landung“ zu überwinden. Nicht zuletzt lassen die von der neuen Partei- und Staatsführung eingeleiteten Kurskorrekturen[15] erkennen, dass die Partei weiterhin imstande ist, bestimmte Fehlentwicklungen zu erkennen und entsprechende Änderungen vorzunehmen. Schließlich hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten die internationale Stellung der VR China deutlich gefestigt und ihr weltweiter Einfluss merklich erhöht. Dennoch rechne ich damit, dass die künftige Entwicklung des Landes wesentlich schwieriger und komplizierter verlaufen wird als bisher. Was spricht für eine solche Überlegung?

Die VR China ist noch weit von einer tatsächlich sozialistischen Gesellschaft entfernt. Deng Xiaoping soll Anfang des Jahres 1985 in einer Rede vor Partei- und Staatsfunktionären in Tianjin davon gesprochen haben, dass die VR China in ihrer Entwicklung noch 40 bis 50 Jahre hinter dem Kapitalismus zurückliege.[16] Betrachten wir das Land insgesamt, so dürfte sich daran bis heute nichts Entscheidendes geändert haben. In der Volksrepublik sind noch keine sozialistischen Elemente, Beziehungen und Strukturen herangewachsen, die dem Ansturm des internationalen Kapitals in der heutigen Welt unter allen Umständen standhalten könnten.

Die allgemeine Orientierung auf Mischeigentum an Produktionsmitteln und Umgestaltung der Unternehmen in Aktiengesellschaften zeigen an, dass sich die ökonomische Basis für die Weiterführung des Transformationsprozesses weiterhin grundsätzlich verändert. Offensichtlich ist das bisherige Gemeineigentum in seiner Gesamtheit hinsichtlich Effektivität, Qualität, Management und Organisation der Produktion dem internationalen Kapital und in einigen dieser Kriterien sogar dem einheimischen Privatkapital unterlegen. Der Staat hat augenscheinlich weder die Mittel noch die Kraft, das bisherige Gemeineigentum als Ganzes international konkurrenzfähig zu machen. Damit ist dem Kapital der Weg geöffnet, die ökonomische Basis der chinesischen Gesellschaft weitgehend zu durchdringen. Das betrifft auch den Sektor der Banken und Versicherungen. Erste Privatbanken bestehen bereits, und 2006 werden die ausländischen Banken in der Volksrepublik in den Geschäftsbedingungen den chinesischen gleichgestellt sein.

Trotz Gegenmaßnahmen der Regierung entwickeln sich bisher die unrationellen Strukturen im ökonomisch-sozialem Bereich weiter. Das betrifft vor allem die Beziehungen zwischen Akkumulation und Konsumtion, zwischen dem 2. und 3. Sektor der Wirtschaft, die Erweiterung der Kluft in der Entwicklung von Stadt und Land, zwischen den Regionen und zwischen den Wirtschaftszweigen. Das Zurückbleiben des 3. Sektors in seiner Entwicklung z. B. vermindert die Möglichkeit, das weitere Anwachsen der hohen Arbeitslosigkeit in den Städten aufzuhalten. Die Konsumtion bleibt in ihrer Entwicklung weiter erheblich hinter dem Wachstum des BIP zurück. Das steht der Vergrößerung der effektiven Binnennachfrage entgegen und belässt die chinesische Wirtschaft in der gegenwärtigen Abhängigkeit vom Zyklus der kapitalistischen Weltwirtschaft. Hinzu kommt das extreme Ausmaß der sozialen Polarisierung durch die Kluft in der Einkommensentwicklung zwischen den verschiedenen Bevölkerungsschichten. Es muss erwartet werden, dass sich die ökonomischen und sozialen Widersprüche mit der vollen Ausprägung der chinesischen Marktwirtschaft nach den Forderungen der WTO[17] in der nächsten Zeit weiter verschärfen werden.

Die jetzige Partei- und Staatsführung stellt mit allem Nachdruck die Aufgabe, die Wachstumsweise der Volkswirtschaft grundlegend zu verändern und zu einem ressourcesparenden und ökologisch verträglichen Wachstum überzugehen. Es geht dabei im Schwerpunkt um den sparsamen Umgang mit Energie, Wasser, Erdöl und generell um die komplexe Nutzung der knappen natürlichen Ressourcen des Landes. Für diese Umstellung im Wachstum der Wirtschaft müssen allerdings erst einmal die Voraussetzungen in der Wirtschaft und in den Haushalten geschaffen werden. Das schließt auch ein Umdenken in der breiten Masse der Bevölkerung ein. Deshalb wird die Lösung dieses dringlichen Problems kostenintensiv, schwierig und langwierig sein.

Bereits heute importiert China ein Drittel seines Verbrauchs an Erdöl. Es muss für seine wachsende Wirtschaft sogar schon Kohle einführen, obwohl es das Land mit der höchsten Kohleförderung in der Welt ist. Das bekräftigt meine These, dass die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft künftig noch stärker als bisher von äußeren Faktoren abhängig sein wird.

Die jahrzehntelange extensive Bewirtschaftungsweise auf Kosten der Umwelt zeigt heute ihre Auswirkungen auf die Wirtschaft wie auf das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung. Häufigkeit und Ausmaß der Naturkatastrophen in China haben seit den 1950er Jahren deutlich zugenommen. „Die gegenwärtige Umweltsituation ist im gesamten Lande ernst.“[18] Betrachten wir diese Problematik am Beispiel der Ressource Wasser. Für die Flussläufe im Norden besteht die Gefahr, dass sie austrocknen, und im Süden sind die Flussläufe allgemein verdreckt. Von über 600 Städten im Lande mangelt es in über 400 an Wasser. Das Wasser in über 90 Prozent der Städte ist ernsthaft verschmutzt. 40 Prozent der Wasserquellen können bereits kein Trinkwasser mehr liefern. Auf den Dörfern leiden immer noch 65 Millionen Menschen an Wassernot. Schon dieses Beispiel zeigt: China wird künftig auch in diesem Bereich erheblich mehr als bisher an Mitteln und Kräften aufwenden müssen. Nur dann wird es möglich sein, eine ökologisch gesunde und nachhaltige Wirtschaft zu entwickeln und die Gesundheit seiner Bevölkerung zu schützen. China wird sich auch mit seinen Nachbarländern über die Nutzung der grenzüberschreitende Gewässer verständigen müssen. Derzeit wird z. B. durch die Zurückhaltung von Wasser des Mekong in der Provinz Yunan das Leben der Fischer in Kambodscha und der Reisbauern in Südvietnam gefährdet.

Nicht minder große Anstrengungen wird China weiterhin bei der Bekämpfung von Aids und gegen die Verbreitung von Drogen unternehmen müssen. Die Zahl der Menschen, die in China mit HIV infiziert sind, beträgt bereits über eine Million. Nach Schätzungen der UNO könnte diese Zahl bis 2010 auf zehn Millionen angewachsen sein.

Nichtkapitalistische Entwicklung unter den Bedingungen Chinas bedarf einer starken politischen Macht, die vor allem in den Arbeitern und Bauern verankert ist und bei der Nutzung des Kapitals die sozialistische Ausrichtung des Transformationsprozesses abzusichern vermag. Die NÖP zeigt, wie Lenin unter den Bedingungen des jungen Sowjetrussland an diese Problematik heranging. Seiner Ansicht nach würde das Wesen des proletarischen Staates nur dann unverändert bleiben, wenn „die Entwicklung des Kapitalismus nur bis zu einem gewissen Grade zu(ge)lassen“ wird. Das hinge „nicht nur von der Staatsmacht ab, sondern noch mehr vom Reifegrad des Proletariats und der werktätigen Massen im allgemeinen...“. Lenin betonte die entscheidende Rolle der Gewerkschaften in der NÖP bei „der sozialistischen Organisierung der Industrie und der Leitung der staatlichen (Industrie)“[19] und die Bedeutung, die der Organisierung des Bündnisses der Arbeiterklasse mit den Bauern zukam. Diese Grundzüge der NÖP dürften von allgemeiner Bedeutung für eine nichtkapitalistische Entwicklung sein.

Ein grundlegendes Problem der Volksrepublik China sehe ich in der überaus schwachen Verankerung der politischen Macht in der Arbeiterklasse und der werktätigen Bauernschaft. Das Bündnis der Arbeiter und Bauern ist im Grunde nur Deklaration. Arbeiter wie werktätige Bauern hatten bisher im Unterschied z.B. zur Bourgeoisie keine Möglichkeit, ihre Klasseninteressen gegenüber dem Kapital und dem Staat selbständig zu artikulieren, wahrzunehmen und zu verteidigen. Die chinesische Führung geht heute jedoch gegen die verbreitete massive Verletzung der „legalen“ Rechte und Interessen der Werktätigen vor. Im Unterschied dazu bewegt sich in den oben genannten politischen Grundfragen bisher nichts. Im politischen Machtapparat bleiben Arbeiter und Bauern weiterhin völlig unterrepräsentiert.

Das System und die Struktur der politischen Macht haben sich in China seit den 1950er Jahren nicht wesentlich verändert. Die hochzentralisierte Macht verhindert ihre wirksame Kontrolle und bedingt die Schwäche der Demokratie in Partei und Staat. Überdies hat die Marktwirtschaft in Partei und Staat die Institution der Interessengruppe hervorgebracht, die ihre jeweiligen Ziele in der Politik zu verwirklichen trachtet. Das beeinträchtigt z.B. die effektive Nutzung der Makropolitik zur Steuerung des Marktes. Mit der Marktwirtschaft wurde der Partei- und Staatsapparat auch zum Hauptangriffspunkt für Korruption. Verletzung der Parteidisziplin und der Gesetze entwickelte sich zu einer allgemeinen Erscheinung unter den Führungskadern (den „Ersten“ der jeweiligen Region oder Einheit). Auch am Vorabend des 83. Jahrestages der Gründung der KP Chinas musste das ZK einschätzen wie viele Parteikomitees von der Ebene des Gebiets bis hinunter zum Dorf nicht imstande sind, die ihnen zugedachte Rolle auszuüben. Ihre „Reorganisierung“ stehe deshalb auf der Tagesordnung. Für sich spricht auch die ständig wiederholte Forderung an Parteimitglieder und -kader, die Einheit der Partei unter Führung des ZK mit seinem Generalsekretär herzustellen und zu wahren. Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit die Maßnahmen der neuen Parteiführung zur innerparteilichen Kontrolle der Führungskader auf der Grundlage der Entwicklung der innerparteilichen Demokratie und zur Hebung des theoretischen Niveaus in der Partei Veränderungen bewirken werden. Der Marxismus scheint im tatsächlichen Leben der Partei weit weniger als offiziell dargestellt präsent zu sein.

Fragen wirft für mich auch die Orientierung der Partei auf, „für das Volk zu regieren“. Dabei soll der „Wille der Partei zum Gesetz erhoben“ werden. Diese Orientierung hat z.B. dazu geführt, dass drei Viertel aller Abgeordneten in dem höchsten legislativen Organ des Staates, dem Nationalen Volkskongress, Mitglieder der KP Chinas sind. Sicherlich in diesem Sinne wurde auf Provinzebene auch die Funktion des Parteisekretärs mit der des Vorsitzenden des Volkskongresses vereint. Schritte wie diese zielen nicht auf die Entwicklung von Demokratie, von denen bisher in offiziellen Dokumenten die Rede war. Sie führen vielmehr zu einer weiteren Zentralisierung der politischen Macht und der weiteren Verselbständigung der Partei gegenüber dem Volk. Sie sind kontraproduktiv für die grundlegende Reform des alten politischen Überbaus aus den 1950er Jahren, die seit langem auf der Tagesordnung steht. Die heutige Führung des Landes hat sich dieser Aufgabe gestellt. Die demokratische Umgestaltung der Partei soll die Voraussetzung und das Beispiel für eine Demokratisierung der gesellschaftliche Verhältnisse schaffen.

Quo vadis?

China durchläuft gegenwärtig eine entscheidende Phase seines gesellschaftlichen Wandels. Die KP Chinas ging für eine beschleunigte Modernisierung des Landes außerordentlich weitgehende Kompromisse gegenüber dem internationalen Kapital ein. Das widerspiegelt sich auch im politischen Alltagsleben der chinesischen Gesellschaft. Mit der Integration in den Prozess der ökonomischen Globalisierung gewinnt die VR China nicht nur neue Möglichkeiten für ihre Entwicklung. Es nehmen auch die Möglichkeiten für das internationale Kapital zu, unmittelbar auf die innere Entwicklung Chinas einzuwirken.

Die von der neuen Führungsspitze eingeleiteten Maßnahmen könnten manches Bedenkliche in der gegenwärtigen Entwicklung des Landes ausräumen. Sie könnten die Gesellschaft für die Fortführung des Reform- und Öffnungspolitik stabilisieren und der Demokratisierung von Partei und Staat einen starken Impuls geben. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die Partei sich in diesem Prozess demokratisieren kann, damit zu neuer Führungsstärke finden und die kapitalistischen Elemente auf den Boden der geltenden Gesetze gezwungen werden.

Die Chance, die Modernisierung des Landes für die Schaffung der materiellen Voraussetzungen einer sozialistischen Gesellschaft über diese Zwischenetappe hinaus zu nutzen, hat sich seit den 1990er Jahren unzweifelhaft verschlechtert. Ich sehe sie jedoch noch nicht vertan. Die bisherige Politik der chinesischen Führung unter Hu Jintao bestärkt mich darin. Gesellschaftliche Veränderungen in einem so großen Land mit einer solch bedeutenden Kultur, ob in dieser oder jenen Richtung, vollziehen sich nicht von heute auf morgen. Die Entwicklung des Landes in den nächsten 3-5 Jahren wird erkennen lassen, ob die KP Chinas unter den gegebenen äußeren Bedingungen den nichtkapitalistischen Entwicklungsweg des Landes zum Sozialismus offen zu halten vermag oder nicht.

Anhang
Nichtkapitalistischer Entwicklungsweg[20] und die
Volksrepublik China (Thesen)

1. Über einen nichtkapitalistischen Weg zum Sozialismus, seine Bedingungen und seine Möglichkeiten entwickelten sich unterschiedliche marxistische Auffassungen. Sie artikulieren sich hauptsächlich in den Überlegungen von Marx/Engels und Lenin.

Marx und Engels betrachteten das Vorhandensein einer sozialistischen Gesellschaft in einigen ehemals entwickelten kapitalistischen Ländern als Voraussetzung für einen nichtkapitalistischen Weg mittelalterlicher Gesellschaften zum Sozialismus. Die bereits existierende sozialistische Gesellschaft sollte ihnen als „Beispiel“ dienen.

Lenin hielt es unter den Bedingungen Sowjetrusslands hingegen für möglich und notwendig, das (fortgeschrittene) internationale Kapital als „Vehikel“ für die Überwindung des Mittelalters und eine gewaltige Hebung der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivität auszunutzen. Für ihn war das eine neue Form der Klassenauseinandersetzung „wer-wen?“, die eine feste Verankerung der politischen Macht in der Arbeiterklasse und im Bündnis der Arbeiter und Bauern voraussetzte. Offen blieb dabei jedoch bis heute vor allem, ob und wie auf diesem Wege der feudale Einfluss im Bereich der geistigen Zivilisation überwunden werden kann.

Beiden Auffassungen gemeinsam ist die Betonung eines bestimmten äußeren Faktors als einer unumgänglichen Bedingung für die nichtkapitalistische Entwicklung. Bei Marx und Engels ist es der ideale Faktor, bei Lenin notgedrungen der einzig verfügbare. Lenin setzte dabei auf die Solidarität vor allem der internationalen Arbeiterklasse mit Sowjetrussland und auf das Zusammengehen der proletarischen Weltbewegung mit den national-revolutionären Bewegungen in den kolonialabhängigen Ländern.

2. Der Sozialismus im wissenschaftlichen Verständnis kann nur auf der Grundlage der in der Geschichte bisher erreichten Entwicklungsstufe der menschlichen Zivilisation geschaffen werden.

Das bedeutet einerseits, dass der Sozialismus nicht unmittelbar an vorkapitalistische Verhältnissen anknüpfen kann. Das bedeutet andererseits, dass in Vorbereitung des Sozialismus eine umfassende und kritische Aneignung der Fortschritte der menschlichen Zivilisation, die mit dem Kapitalismus verbunden sind, ein wesentlicher Inhalt des nichtkapitalistischen Entwicklungsweges sein muss.

3. Nichtkapitalistische Entwicklung ist ein vielschichtiger, komplizierter und langwieriger Sprung im Zivilisationstyp.

Sie umfasst die kritische Aneignung der Fortschritte nicht nur der materiellen, sondern auch der geistigen Zivilisation im Kapitalismus. Sie erfordert zugleich die Aufnahme aller progressiven Elemente der eigenen Kultur (im weitesten Sinne des Wortes) in die Zivilisation des Sozialismus. Je größer die Rückständigkeit eines Landes ist, desto mehr Zwischenstufen werden in diesem Prozess erforderlich sein (Lenin).

4. Die „Eigentümlichkeiten“ (Lenin, chines. tese) der nichtkapitalistischen Entwicklung eines Landes resultieren primär aus seinen historisch-gesellschaftlichen und den natürlichen Gegebenheiten.

Grundlegend sind hierbei die historisch-gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen des Landes – die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Gegebenheiten. Sie widerspiegeln Charakter, Entwicklungsstand, Struktur und nationale Besonderheiten der alten materiellen und geistigen Zivilisation des betreffenden Landes. Den natürlichen Gegebenheiten sind vor allem die Größe und geografische Struktur des Landes, seine Ressourcen und seine geostrategische Lage zuzuordnen; sie verdeutlichen, unter welchen natürlichen nationalen Bedingungen sich die historische Entwicklung des betreffenden Landes vollzieht.

5. Die chinesische Gesellschaft vor 1949 hatte im wesentlichen einen vorkapitalistischen und kolonial deformierten Charakter. Das waren typische Bedingungen für eine nichtkapitalistische Entwicklung zum Sozialismus.

Selbst Mao Zedong schätzte einmal ein, dass sich noch rund 90 Prozent aller ökonomischen und sozialen Verhältnisse des damaligen China „im Altertum“ befanden (2. ZK-Tagung 1949). Die Anfänge „moderner“ Wirtschaft, vor allem in den Einfallsgebieten der Kolonialmächte konzentriert, stellten keine sich selbst tragende kapitalistische Wirtschaft dar. Die materielle und noch stärker die geistige Zivilisation der chinesischen Feudalgesellschaft, in mehreren tausend Jahren gewachsen und verwurzelt, hatte der Kolonialisierung weitgehend standgehalten. Angesichts dessen sprechen manche chinesischen Historiker sogar von einem „Übergang des Landes von der Feudalgesellschaft zur sozialistischen Gesellschaft“.

6. Die Theorie Mao Zedongs über die Neue Demokratie ging von den Auffassungen Stalins über China und die chinesische Revolution aus. Ihr Wesen besteht in einer Negierung des nichtkapitalistischen Entwicklungsweges für China und in der Orientierung des Landes auf einen unmittelbaren Übergang zum Sozialismus.

Als Mao Ende 1939 seine Theorie über die Neue Demokratie zu entwickeln begann, charakterisierte er die dem Wesen nach antifeudale und antikoloniale chinesische Revolution unter direkter Berufung auf Stalin als neuartig bürgerlich-demokratisch und damit als Teil der proletarisch-sozialistischen Weltrevolution. Seinerzeit war in der kommunistischen Bewegung bekanntlich die Ansicht verbreitet, dass die Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution „im Vorübergehen“ zu lösen wären. Auf diesem Hintergrund betrachtete Mao auch seine Neue Demokratie letztlich nur als eine „Phase des Übergangs zur Beendigung der kolonialen, halbkolonialen und halbfeudalen Gesellschaft und des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft, als Prozess der neudemokratischen Revolution“, der 1919 begonnen hätte („Die chinesische Revolution und die KP Chinas“). Dieser Auffassung wurzelte bei ihm wie zuvor schon bei Stalin in einer Unterschätzung der feudalen Elemente und in einer Überschätzung des Entwicklungsstandes des Kapitalismus im damaligen China („halbfeudal“ = halbkapitalistisch).

Diese Aussagen Maos stehen neben anderen, die die Industrialisierung des Landes unter Einbeziehung der (schwachen) nationalen Bourgeoisie als Aufgabe der neudemokratischen Phase zuordneten und damit die Langfristigkeit dieser Phase betonten. Hierfür scheinen vielfach politisch-taktische Überlegungen maßgebend gewesen zu sein. Typisch für Mao ist aber auch eine bestimmte Widersprüchlichkeit in seinen Grundaussagen. Für meine Einschätzung spricht, dass Mao Zedong kurz nach dem Sieg der Revolution im Jahre 1949 die Partei unmittelbar auf den Übergang zum Sozialismus orientierte.

7. Die KP Chinas konzipierte den unmittelbaren Übergang des Landes zum Sozialismus nach dem sowjetischen Modell unter Stalin. In der Praxis begann Mao Zedong jedoch schon bald, dieses Modell durch die Entwicklung seines eigenen gleichmacherischen Gesellschaftsideals zu modifizieren.

Die grundsätzliche Übernahme des genannten sowjetischen Modells widerspiegelt sich schon in der etwa gleichlautenden Zielsetzung, in einem Zeitraum von 15 Jahren oder etwas länger die sozialistische Umgestaltung und die Industrialisierung Chinas zu verwirklichen, im Aufbau einer stark zentralisierten politischen und ökonomischen Leitung des Landes, in der nahezu absoluten Macht des Führers der Partei und in der einseitigen Konzentration auf die Entwicklung einer Schwerindustrie. Bereits in den ersten Jahren hatte Mao Zedong begonnen, seine Linie zu verwirklichen, durch eine vorgezogene Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse die wirtschaftliche Entwicklung beschleunigen zu wollen.

Einen ersten Einblick in das Gesellschaftsideal Mao Zedongs vermittelte dann 1958 die militärisch organisierte Volkskommune als staatlich-administrative und zugleich ökonomische Grundeinheit der angestrebten Gesellschaft („groß und öffentlich“). Weiter ausgeführt finden wir diese Überlegungen Mao Zedongs in seiner „Weisung vom 7. Mai“ 1967 (Brief an seinen Stellvertreter Lin Biao) sowie in einigen seiner Weisungen aus den Jahren 1974/75.

Wesentliche Aspekte dieses Gesellschaftsbildes waren: Mit der Aufhebung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sollte sich der Mensch allseitig entwickeln, indem er gleichzeitig Arbeiter wie Bauer, im zivilem wie im militärischem Bereich tätig war. In der angestrebten Gesellschaft sollten die drei großen Unterschiede überwunden sein, jedermann sollte körperlich wie geistig arbeiten. Um diese Gesellschaft errichten zu können, sollten Warenproduktion und Geld abgeschafft, das Prinzip der Verteilung nach der Arbeit wie jegliches „bürgerliches Recht“ und materielle Interessiertheit bekämpft werden.

Für Mao Zedong war das Volk ein „weißes (= unbeschriebenes) Blatt Papier“, auf das er die Schriftzeichen seines Gesellschaftsideals pinseln wollte. Am „positiven Beispiel“ sollte das Volk lernen, wie ein Schräubchen in einem Getriebe zu sein bzw. wie ein Soldat ihm auch blindlings zu folgen. Kräfte, die sich gegen sein Gesellschaftsideal wandten, wurden als „Revisionisten“ bekämpft und „liquidiert“ („Klassenkampf“).

Damit wandte sich Mao Zedong nicht allein gegen die Aneignung der Fortschritte der menschlichen Zivilisation im Kapitalismus. Er befand sich zugleich in einem generellen Widerspruch zu den objektiven Erfordernissen des nationalen Aufbaus des Sozialismus in der VR China.

Die Einschätzung Deng Xiaopings auf dem 12. Parteitag der KP Chinas 1982, die Partei wäre mit ihrer Strategie des Übergangs zum Sozialismus gescheitert, weil sie dem Modell eines anderen Landes (nämlich dem von Stalin geprägten Modell der Sowjetunion) gefolgt wäre, ist deshalb einseitig. Gescheitert war vielmehr der Versuch, auf direktem Wege eine Art von egalitärem (Kriegs)Kommunismus zu verwirklichen, der in einigen Grundelementen (hochgradig zentralisierte politische Macht und Steuerung einer Mangelwirtschaft, Missachtung der Fortschritte der menschlichen Zivilisation im Kapitalismus u. a.) mit dem genannten sowjetischen Modells übereinstimmte.

8. Mit ihrer Reform- und Öffnungspolitik trat die KP Chinas einen strategischen Rückzug an, der in seiner Ursache mit dem Übergang Sowjetrusslands zur NÖP vergleichbar ist (Scheitern des direkten Übergangs zum Sozialismus). Die Partei orientierte nun darauf, in mehreren Zwischenetappen einen „Sozialismus chinesischer Prägung“ aufzubauen. Dem Wesen nach glich das dem Einschwenken auf einen nichtkapitalistischen Entwicklungsweg.

Die These der KP Chinas, dass mit dem wesentlichen Abschluss der „sozialistischen Umgestaltung“ Mitte der 1950er Jahre in China eine sozialistische Gesellschaft geschaffen worden wäre, ist politisch motiviert, wissenschaftlich jedoch nicht begründbar.[21] Ende der 1970er Jahre befand sich die VR China, gesellschaftlich schwer angeschlagen, nach wie vor am Anfang ihres historischen Transformationsprozesses.

Wesentliche Merkmale der seit Ende der 1970er Jahre erfolgten Umorientierung der KP Chinas und damit des eingeschlagenen nichtkapitalistischen Entwicklungsweges wurden: Wiederherstellung einer vielfältigen Eigentumsstruktur (einschließlich des Eigentums der neu entstandenen Bourgeoise); vorrangige Nutzung des internationalen Kapitals als „Vehikel“ für die Überwindung der Rückständigkeit, für die erforderliche Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivität und damit verbunden erster Veränderungen im Verhältnis von Plan und Markt; Aneignung des zivilisatorischen Fortschritts der Menschheit im Kapitalismus; Aufarbeitung der präkapitalistischen Zivilisation des eigenen Landes.

Die KP Chinas erkannte jedoch nicht an und bereitete sich und das Volk nicht darauf vor, dass die Nutzung des Kapitals „eine besondere Form des Klassenkampfes“ sein wird. Sie unternahm selbst in diesem Zusammenhang keine Schritte, um ihre Klassenbasis in der Arbeiterklasse zu festigen und das Bündnis der Arbeiter und Bauern wieder herzustellen. Trotz einiger Ansätze in den 1980er Jahren wurde die ökonomische Reform nicht mit einer politischen Reform verbunden. Die KP Chinas blieb in ihrem Wesen eine Partei Stalinschen Typs (ähnlich der früheren KPdSU und den damaligen Regierungsparteien anderer sozialistischer Länder). Politischer Pragmatismus prägte weiterhin das Herangehen an die Geschichte der Partei und der Volksrepublik

.9 . Nach dem Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ in der UdSSR und in den osteuropäischen Ländern leitete die KP Chinas eine neue Phase in ihrer Reform- und Öffnungspolitik ein. In den Vordergrund rückte das Ziel, die „entwickelten Länder“ gemessen am absoluten Bruttoinlandsprodukt bis Mitte des 21.Jahrhunderts zu überholen. Dieser Kurs beschleunigte zwar den Prozess der Modernisierung des Landes, stellte aber zugleich die sozialistische Orientierung des Landes infrage.

Wesentliche Merkmale dieser Strategie und ihrer Umsetzung wurden: Übergang zu einer „sozialistischen“ Marktwirtschaft; Umorientierung vom ostasiatischen Modell der Entwicklung auf die Auswertung der Erfahrungen der führenden kapitalistischen Länder, vor allem der USA; „strategische Regulierung und Reorganisierung“ der staatlichen Wirtschaft“ (Rückzug aus den meisten Zweigen der Industrie, Reduzierung der Zahl der Unternehmen, Neupositionierung des staatlichen Eigentums), Bildung von Mischeigentum und Aktiengesellschaften, verstärkte Kapitalanlage im Ausland und Entwicklung eigener Multis, Beibehaltung des dualistischen Wirtschafts- und Sozialsystems (wesentliche Ursache für die Zurückbleiben des Dorfes seit Mitte der 1950er Jahre), Konzentrierung der Macht auch in den Regionen und Einheiten in der Hand des „Ersten“ und die pragmatisch auslegbare politische Leitlinie der Partei in Gestalt der „dreifachen Vertretung“ (Entwicklung moderner Produktivkräfte und fortschrittlicher Kultur, Wahrnehmung der Interessen breiten Massen).

Das Kapital wurde zu einer wesentlichen und einflussreichen Kraft für die Modernisierung des Landes. Es erhielt die Möglichkeit, sich – bis auf einzelne Bereiche – in staatliche Großunternehmen einzukaufen.

Die KP Chinas orientierte zur Umsetzung ihrer Strategie auf soziale Schichten und Gruppen, die ihrer Meinung nach über die größten Ressourcen für eine Beschleunigung des Modernisierungsprozesses verfügen (politische Führungsschicht, Manager von Großunternehmen, Privatunternehmer, hochqualifizierte Fachkräfte). Am Ende einer sozialen Zehner-Wertungsskala fanden sich die Produktionsarbeiter, Bauern und Arbeitslose wieder. Kapitaleigner wurden nicht nur als herausragende „Erbauer des Sozialismus chinesischer Prägung“ anerkannt und konnten Mitglieder der KP werden. Sie erhielten auch die Möglichkeit, Funktionen von Partei und Regierung auf den unteren Ebenen einzunehmen.

Die anhaltend hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten schienen zunächst die Strategie der KPCh unter Jiang Zemin zu bestätigen. Die damit verbundenen Probleme und Widersprüche destabilisierten jedoch zunehmend die Entwicklung des Landes: Zurückbleiben weiter Bereiche der Gesellschaft (Landwirtschaft, Bildung, Gesundheitswesen u.a.), zunehmende Verschmutzung der Umwelt, Vergrößerung der Unterschiede zwischen Stadt und Land und zwischen den Regionen, soziale Polarisierung, massive Verstöße im Partei- und Staatsapparat gegen geltende Gesetze, grobe Verletzungen legitimer Interessen großer Teile des Volkes, Aufleben eines feudalen Patriarchalismus, Vernachlässigung des Prinzips der sozialen Gerechtigkeit, jährliches Verschwinden von Milliarden Yuan ín privaten Taschen, Ausbreitung von Korruption, Kriminalität, Prostitution und Drogen u.a.m. Verfügung über Geld und Einfluss begannen die gesellschaftliche Stellung des Einzelnen zu bestimmen. Teile der Intelligenz verbreiteten aktiv neoliberale und andere bürgerliche Theorien. Auch der Sprachgebrauch veränderte sich, aus dem „Genossen Leiter“ wurde der „Chef“ und „Arbeitgeber“, aus dem Werktätigen der „Arbeitnehmer“.

10. Die auf dem 16. Parteitag (November 2002) gewählte Führung unter Hu Jintao grenzt sich konsequent von der einseitigen Orientierung auf die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts ab. Ihre Strategie beruht auf einer „wissenschaftlichen Auffassung über die Entwicklung“. Die sozialistische Orientierung des historischen Transformationsprozesses soll durch die Entwicklung einer von der KP Chinas geführten rechtsstaatlich-demokratischen Gesellschaft wieder auf eine feste Grundlage gestellt werden.

Wissenschaftliche Auffassung über die Entwicklung bedeutet im heutigen Verständnis der Partei, dass der Mensch mit seinen Interessen und seiner allseitigen Entwicklung Ausgangs- und Endpunkt jeglicher Politik sein muss. Sie bedeutet zweitens eine abgestimmte gesellschaftliche Entwicklung 1.von Stadt und Land (nachholende Entwicklung der Landwirtschaft, des Dorfes und des Bauern entscheidet über den allseitigen Aufbau einer Gesellschaft des kleinen Wohlstands), 2. aller Regionen (forcierte Entwicklung Westchinas), 3. von Wirtschaft und sozialem Bereich (forcierte Entwicklung des Bildungswesens, des Gesundheitswesens, der sozialen Grundsicherung der Bürger u.a.), 4. von Mensch und Natur (Betonung der Ökologie und des Prinzips der Nachhaltigkeit) und 5. von innerer und äußerer Entwicklung (friedlicher Aufbau und gleichberechtigte Zusammenarbeit, Integration, Nutzung internationaler Ressourcen u.a.). Die Rolle des staatlichen Eigentums an Produktionsmitteln zur Beherrschung der Kommandohöhen der Wirtschaft und für die Gewährleistung der ökonomischen Sicherheit des Staates wird hervorgehoben. Einen hohen Stellenwert haben die Makrowirtschaft zur Regulierung und Kontrolle der marktwirtschaftlichen Entwicklung, das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit und der gemeinsame Wohlstand aller Bürger erhalten.

Gesetzlichkeit und Demokratie sind zwei weitere Grundpfeiler des heutigen Kurses der Partei. Ziel ist, dass ohne Ausnahme alle Parteien, Organisationen, Institutionen, Führungskader wie der einfache Bürger in Übereinstimmung mit der Landesverfassung und den geltenden Gesetzen handeln und sie ihre legitimen Rechte und Interessen allein in diesem Rahmen wahrnehmen. Das betrifft auch die neue Schicht der einheimischen Bourgeoisie als Teil des Volkes. Besonderes Augenmerk richtete die chinesische Führung in den zurückliegenden Monaten auf die Unterstützung der legitimen Interessen der Bauernschaft und auf die Wiederherstellung der Rechte der Arbeiterklasse in den Unternehmen einschließlich des ausländischen Kapitals. Die eingeleitete Demokratisierung der Partei wird als Voraussetzung und Beispiel für die Demokratisierung des Staates angesehen.

In der Strategie der heutigen Führung korrespondiert die Modernisierung der Gesellschaft mit dem „friedlichen Aufstieg“ des Landes zu einer Weltmacht.

[1] Einige Jahre später ging Mao Zedong sogar davon aus, dass sich in der VR China ein Übergang „vom Kapitalismus zum Sozialismus“ vollziehen würde. Siehe: Mao Tsetung, Ausgewählte Werke, Bd.V, Peking 1978, S.263.

[2] Vergl. Li Qingxia/Guan Jian, Der wichtige Gedanke von den „drei Vertretungen“ und der Typ des gesellschaftlichen Wandels im gegenwärtigen China. In der Zeitschrift „Shijie yu Shehuizhuyi“ (Die Welt und der Sozialismus), Jg. 2004, H.2, S.38 ff.

[3] Lenin bezeichnete den Kapitalismus als Segen gegenüber dem Mittelalter und als Übel gegenüber dem Sozialismus.

[4] Angaben der Chinesischen Volksbank über das durchschnittliche BIP p.c. für 2002: Ostchina höher als das Doppelte des Landesdurchschnitts, Mittelchina 12% unter dem Landesdurchschnitt, Westchina 30% unter dem Landesdurchschnitt. In: Renmin Wang v. 27.10.03.

[5] Haushaltsregistrierung, Wohnungswesen, Getreideversorgung, Versorgung mit anderen Lebensmitteln und mit Brennstoffen, Versorgung mit Produktionsmitteln, Bildungswesen, medizinische Betreuung, Altersversorgung, Arbeitsschutz, Heiratssystem u.a.

[6] Von 1952 bis 1995 sollen 60% des staatlichen Vermögens durch die Bauern geschaffen worden sein. Siehe: Nanfang Zhoumo v. 15.4.04, nach: Nanfang Baoye Wang

[7] Ebd.

[8] Der 5. März wurde zum Tag für die Verbreitung der Gesetze erklärt.

[9] Zitiert aus einem Beitrag von Professor Li Qiang, Institut für Soziologie der Qinghua-Universität. In: Renmin Wang v. 26.8.03.

[10] Vgl. die erschütternde „Untersuchung über die Bauern Chinas“ von Chen Guidi und Chun Tao, Beijing 2004, chines.

[11] Diese Situation erinnert an den Ausspruch der österreichischen Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach, dass „der größte Feind des Rechts das Vorrecht (ist)“.

[12] Ich vermeide hier den auch in China allgemein gebräuchlichen Begriff der Planwirtschaft. Für eine Planwirtschaft im Marx’schen Sinne fehlten bisher entscheidende ökonomische und andere gesellschaftliche Voraussetzungen.

[13] Dieses System wurde damals in Anlehnung an das sowjetische Modell mit Unterstützung sowjetischer Spezialisten entwickelt.

[14] Die „drei roten Banner“: großer Sprung nach vorn, Volkskommune und die neue Generallinie „Mobilisieren wir die Kräfte, um den Oberlauf des Flusses zu erreichen und den Sozialismus mehr, besser, sparsamer und schneller aufzubauen“.

[15] Gemeint sind hier vor allen die Korrekturen durch die Orientierung auf „Der Mensch als Maß aller Dinge“ (yi ren wei ben) und „wissenschaftliche Entwicklung“ durch „umfassende Planung“ (tongchou jiangu).

[16] Zitiert von Li Ruihuan in einer Rede vor den stellvertretenden Vorsitzenden der PKKCV Ende November oder Anfang Dezember 2002. In: Cheng Ming, Jg.2003, H.1, S.13

[17] Das betrifft z.B. die Forderung nach gleicher Behandlung und gleichen Konkurrenzbedingungen für alle Eigentumsformen.

[18] Einschätzung des Dr. Liu Shijin, Leiter des Büros beim Zentrum für Entwicklungsforschung des Staatsrates. In: Shichang Bao v. 30.01.04.

[19] Lenin, Werke, Bd. 33, Berlin 1966, S.170-171.

[20] Der Begriff „nichtkapitalistischer Entwicklungsweg“ wird im folgenden auf Länder angewendet, die aus mehr oder weniger vorkapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen heraus unter Führung von kommunistischen Parteien den Übergang zum Sozialismus anstrebten bzw. anstreben, ohne das Stadium der kapitalistischen Gesellschaftsformation zu durchlaufen.

[21] Nach der Version Maos, an der die KP China auch heute noch festhält, wäre die Übergangsperiode zum Sozialismus mit dem wesentlichen Abschluss der so genannten sozialistischen Umgestaltung des Eigentums an Produktionsmitteln abgeschlossen. Was damals tatsächlich erfolgte, war eine künstlich beschleunigte formale Vergesellschaftung dieses Eigentums auf der Grundlage historischer Rückständigkeit. Anzumerken ist, dass das auf diesem Wege gebildete so genannte staatliche Eigentum tatsächlich Eigentum der Zentralregierung war (der gleiche Status wie unter der Guomindang-Regierung vor 1949). Es besteht bis heute, allerdings 2003 in Eigentum der Zentralregierung und der örtlichen Regierungen aufgeteilt.