Editorial

Juni 2005

Ist Kapitalismuskritik wieder im Kommen? Die taktischem Kalkül geschuldeten kritischen Bemerkungen von SPD-Chef Müntefering zu Auswüchsen des Shareholder-Value-Kapitalismus haben eine unerwartete Resonanz in den Medien und der öffentlichen Meinung ausgelöst. Zu Recht ist auf ihren moralisierenden Charakter, auf ihre praktische Folgenlosigkeit und auf den Umstand hingewiesen worden, dass es die SPD-geführte Bundesregierung selbst war, die den Unternehmern gewaltige Steuergeschenke gemacht, hochspekulative Fonds zugelassen und Produktionsverlagerung ins Ausland anrechnungsfähig gemacht hat, also die „Heuschrecken“ gerade angelockt hat, deren Gefräßigkeit sie nun beklagt. Auffallend bleiben die breite öffentliche Zustimmung, die zeitweilige Öffnung der Medien für den „Streit über Kapitalismus“ und die offenkundige Sorge vor einer Eigendynamik der Kritik, die zu massiven Interventionen der sich ertappt fühlenden Unternehmerverbände und dem Bemühen des SPD-Chefs selbst mit dem Ziel führten, das Thema zu „versachlichen“ und in eine andere Richtung zu lenken. Aber die Debatte belegt, dass die real erlebten Erfahrungen mit Massenarbeitslosigkeit, sinkenden Realeinkommen und Sozialstaatsabbau nicht nur Resignation, Perspektivlosigkeit und Entpolitisierung hervorbringt, sondern auch einen Resonanzboden für eine Kritik, die sich als Kapitalismus-Kritik artikuliert. Das sollte auch als Chance für marxistische, auf das Gesellschaftssystem zielende Kapitalismuskritik verstanden werden, die den Aktivisten in linken Wahlalternativen und Parteien, sozialen und betrieblichen Bewegungen und sonstigen „Meinungsträgern“ auf der Linken zuarbeiten will. Dem ist speziell der erste Themenblock dieses Heftes gewidmet.

In den Aufsätzen von Lothar Peter und Hans Günter Bell werden neuere Studien zum heutigen Kapitalismus vorgestellt. Peter untersucht Stärken und Schwächen der Studie von Boltanski/Chiapello über den „neuen Geist des Kapitalismus“, in der es um die Anpassungsfähigkeit des modernen Kapitalismus am Beispiel Frankreichs geht. Bells Interesse gilt neueren Untersuchungen zur betrieblichen Lage, zu Arbeitsverhältnissen und Lebensstilen von Arbeitern (Untersuchungen aus Frankreich und der Bundesrepublik) sowie ihren klassentheoretischen Implikationen. Kai Eicker-Wolf setzt sich mit dem zentralen Unternehmerargument auseinander, die Bundesrepublik sei ein für die Unternehmen unattraktiver Standort wegen angeblich zu hoher Arbeitskosten, zu teurer Sozialsysteme, eines überregulierten Arbeitsmarktes und fortschreitender Überalterung. Der Betriebsratsvorsitzende des Bochumer Opel-Werkes, Rainer Einenkel, gibt eine nüchterne Bilanz des Arbeitskampfes bei Opel und verweist besonders auf den Zwang zu gemeinsamem Handeln der Belegschaften der verschiedenen Konzernbetriebe im In- und Ausland.

Stefan Kalmring und Andreas Nowak eröffnen den zweiten Themenblock „Peripherie und Imperialismus“ mit Anmerkungen zur Marx’schen Auseinandersetzung mit Afrika: Ausführungen zur „afrikanische Produktionsweise“, zur Einbindung Afrikas in den kapitalistischen Weltmarkt und Notizen aus den Kovalevskij-Exzerpten zu Algerien werden auf Anknüpfungspunkte für die entwicklungstheoretische Diskussion befragt. Horst Heininger gibt eine Re-Interpretation der Kautskyschen Imperialismustheorie mit Blick auf den historischen Kontext (Theoriegeschichte) wie die geschichtliche Erfahrung der imperialistischen Entwicklung im 20. Jahrhundert. Um die Aktualität von Imperialismustheorie insbesondere nach dem Ende der „bipolaren Welt“ und unter dem Eindruck des neuen imperialistischen Interventionismus gehtes auch in dem Literaturbericht von Karl Unger. Gregor Schirmer untersucht das politisch brisante Thema des Rechts auf bewaffneten Widerstand in Abgrenzung zu terroristischer (und staatsterroristischer) Gewalt, wobei der Irak nur den unmittelbar aktuellen Bezugspunkt darstellt.

Zur „Kritik der Postmoderne“ äußern sich im dritten Themenblock Thomas Metscher, Jan Müller/Michael Weingarten und Patrick Eser mit sehr unterschiedlichen Ansätzen, Ansichten und Einsichten. Wir führen damit die schon in früheren Heften gegebene Vorstellung postmoderner Autoren und z.T. sehr kontrovers geführte Diskussion um die Methodik einer marxistischen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Richtungen postmoderner Theorie und Ideologie fort, deren Einfluss auf zeitgenössische Gesellschaftstheorie auch im Umfeld des Marxismus (sh. z.B. Hardt/Negris „Empire“) unübersehbar ist. Handelt es sich dabei, soweit es um den „Kernbestand“ der Postmoderne geht, ausnahmslos um anti-rationalistische Ideologie, eine Philosophie des Neoliberalismus und Neubelebung des klassischen Irrationalismus? Enthalten postmoderne Theorien – etwa Foucaults Macht- und Gouvernementalitäts-Analysen – Momente, die eine marxistische Analyse kritisch aufnehmen muss, wenn sie der Realität heutiger Macht- und Herrschaftsausübung gerecht werden will? Lässt sich aus der unterschiedlichen Aneignung von vorfindlichem Wissen und Realität durch Marxismus und postmoderne Philosophie etwas lernen? Das sind Fragestellungen, mit denen die Autoren sich ihrem jeweilige Gegenstand nähern und zu weitergehenden Beiträgen provozieren wollen.

Der sechzigste Jahrestag der Befreiung vom Faschismus war Auslöser zahlreicher Publikationen zu Faschismus und faschistischer Herrschaft. Neben neuer Apologetik monopolistischer Herrschaft – Eberhard Czichon hatte dies im letzten Heft anhand von Lothar Galls Abs-Biographie kommentiert – stehen Veröffentlichungen, die das Problem der Korrumpierung und „sozialpolitischen“ Einbindung weiter Teile der deutschen Bevölkerung in das faschistische Herrschaftssystem thematisieren. Hierüber berichten Thomas Ewald-Wehner und Manfred Weißbecker. Dabei geht es nicht nur um die Aufhellung des historischen Sachverhalts, sondern auch um ideologische Implikationen der Geschichtsdarstellung, wie Weißbeckers Kritik an Götz Alys Verständnis von nazistischer Sozialpolitik und „Volksstaats“-Ideologie in dessen neuem Buch „Hitlers Volksstaat“ zeigt.

Hinzuweisen bleibt auf eine Tagung zur „Aktualität der marxistischen Klassentheorie“ am 22. Oktober in Köln, die von „Z“ mit getragen wird. Eine Anmeldekarte liegt diesem Heft bei.