Armut - Reichtum - Gesundheit

Disproportionen in der ärztlichen Versorgung in Deutschland

Zur Entwicklung der ärztlichen Versorgung im Bundesgebiet

Dezember 2005

Bereits 1998 hatte das Kammerblatt der Bundesärztekammer (BÄK), das „Deutsche Ärzteblatt“, erstmalig auf Versorgungsengpässe besonders in der hausärztlichen Versorgung in einigen ostdeutschen Bundesländern aufmerksam gemacht und die These von der „Ärzteschwemme“, die jahrelang nach der Wende 1989 im bundesdeutschen Blätterwald kolportiert wurde, am konkreten Beispiel widerlegt. Diese Hinweise auf eine zunehmend schlechtere Versorgung an der Basis in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und besonders Brandenburg wurde weder von den Medien noch von der Politik ernsthaft aufgegriffen und kommentiert. Man sah dabei nur die Gesamtzahl der Ärzte in Deutschland, die bis heute ein steigendes Niveau aufweist.

Statistische Übersicht

Im Bundesgebiet waren 2004 – ohne die 87.997 nicht ärztlich Tätigen mit medizinischer Ausbildung – insgesamt 306.435 Ärztinnen und Ärzte aktiv. Dies waren wiederum 2.318 mehr als im Vorjahr. Während aber in den vergangenen Jahren der jährliche Zuwachs noch mehrere Prozente betragen hatte, wurde er von Jahr zu Jahr geringer. Für 2004 betrug er noch 0,8 Prozentpunkte.[1] Schon etwas differenzierter stellt sich die Situation nach den Zahlen der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung für die einzelnen Bereiche dar. Bei den im Krankenhaus tätigen Ärztinnen und Ärzten ist der Anteil an der Gesamtzahl Berufstätiger von 47,8 Prozent auf dem Niveau des Vorjahres geblieben, und der Zuwachs betrug 0,6 Prozent. Damit halbierte er sich gegenüber dem Vorjahr. Die Zahl der ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte stieg 2004 in Deutschland um 0,8 Prozent.

Mit dieser Summenstatistik werden aber die Probleme der deutschen Ärzteschaft nicht nur unsichtbar, sondern es wird geradezu eine positive Entwicklung suggeriert. Schon der Vergleich der Ärztedichte der einzelnen Bundesländer zeigt die differenzierte Situation in der Versorgung. Bis auf ein Bundesland liegen die ostdeutschen Länder am Ende der Ärztedichte-Werte. Schlusslicht ist Brandenburg mit 341 Einwohnern je berufstätigen Arzt. Aber auch Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt gehören neben Niedersachsen zu den Ländern mit der relativ geringsten Ärztedichte in Deutschland.

Betrachtet man die ambulante Versorgung in Deutschland, so weist die Statistik der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte bundesweit einen akuten Mangel an jungen Ärzten aus. Lediglich 1,08 Prozent der Allgemeinmediziner und Praktischen Ärztinnen und Praktischen Ärzte, die die Masse der Hausärzte stellen, sind bis unter 35 Jahre alt, während 3,09 Prozent über 65 Jahre und weitere 53,63 Prozent sich in den Altergruppen der 50- bis 65-Jährigen befinden.[2]

Trotz des Zugangs von Tausenden von Ärzten kommt nur ein sehr geringer Teil von ihnen wirklich in der kurativen Versorgung an. Weil es am ausreichenden Nachwuchs fehlt, ist das Durchschnittsalter der Krankenhausärzte, aber besonders der Vertragsärzte deshalb seit Jahren ständig steigend. Zwischen 1993 und 2003 stieg es bei den Krankenhausärzten von 38,1 auf 40,4 Jahre und bei den Vertragsärzten von 46,8 auf 50,1 Jahre. Nach der Statistik der KBV-BÄK aus dem Jahr 2004 waren 1993 noch 688 Vertragsärzte 60 Jahre und älter, im Jahr 2002 waren es bereits 4293. Eine grundlegende Besserung ist weder in den Krankenhäusern noch in den Arztpraxen Deutschlands in Sicht.

Besonders gravierend stellt sich die Situation in der hausärztlichen Versorgung in den neuen Bundesländern dar. Aus der Abbildung 2, die der neuen Studie der BÄK und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) entnommen ist, wird die hohe Überalterung der Hausärzte im Osten der Bundesrepublik sichtbar. Ein Drittel aller Hausärzte finden wir in den Altergruppen der 60-Jährigen. In den nächsten Jahren müssen tausende Ärztinnen und Ärzte ersetzt werden. Heute schon sind viele, vor allem ländliche Praxen, nicht mehr zu besetzen.

Ursachen für den Ärztemangel

Die Gründe für diese Entwicklung sind sehr vielgestaltig und können hier nur summarisch und in gebotener Kürze dargestellt werden. Außerdem fehlen gründliche Studien zu einzelnen Ursachen. Der Arztberuf hat in Deutschland viel von seiner historischen Attraktivität verloren. Schlechte Bezahlung, ausufernde, meist nicht bezahlte Überstunden auf Station, eine gnadenlose Selbstausbeutung vieler Hausärzte und ihre Folgen, Burnout-Syndrom und andere Krankheiten, die zunehmende Bürokratisierung und Ökonomisierung der Medizin, dazu nahezu tägliche Medienschelte und juristische Verfolgung, aber auch Mängel im Studium u. a. haben offenbar nicht nur bei jungen Menschen zu einem Sinneswandel über diesen Beruf geführt.

Das lässt sich nachweisen an sinkenden Bewerberzahlen und Studierenden für den Arztberuf. Hatte man 1993 rund 90.600 Studierende der Medizin in Deutschland gezählt, waren es 2002 nur noch rund 77.300. Selbst unter den Studierenden kommt es zu erheblichen „Verlusten“ während des Studiums. Von 12.106 Studierenden im Erstsemester 1996 legten nur 8.886 das Examen ab, und nur 6.675 wurden als Zugang im Praktikum, also in der kurativen Medizin, registriert.[3] Die Standesvertretungen der Ärzte BÄK und KBV sehen die Ursache im Verhalten der angehenden Mediziner, wenn sie formulieren: „Der Ärztemangel ist nicht durch eine massenhafte Flucht von Ärzten aus dem System bedingt, sondern durch die mangelnde Bereitschaft junger Mediziner, in der kurativen Patientenversorgung tätig zu werden.“[4]

Diese pauschale Verurteilung der angehenden Ärzte berücksichtigt nicht, dass nach Schätzungen heute bereits zwischen 6.000 und 12.000 vorwiegend junge deutsche Ärzte in Großbritannien und den skandinavischen Ländern tätig sind – Tendenz steigend. Für 10.000 sei noch Platz, locken britische Personalagenturen für ein vorwiegend staatliches und nicht auf Profit ausgebautes Gesundheitssystem.[5]

Tab. 1: Sozialversicherungspflichtige beschäftigte Ärzte und Ärztinnen in „nichtkurativen Beschäftigungsfeldern“ (2003)

Veterinärwesen

119

Organisationen der freien Wohlfahrtspflege

200

KfZ-Industrie

114

Pharma-Handel

316

Büromaschinen, DV- Gerät. U. Medizintechnik

166

Gesetzliche Krankenversicherungen

942

Heime (ohne Erholungs- und Ferienheime)

903

Organisationen des Gesundheitswesens

396

Techn., physik. U. chem. Untersuchung

186

Kultur- und Forschungsorganisationen

153

Erwachsenenbildung, Weiterbildung

157

Weiterführende Schulen

157

Rechtsschutz

132

Technische Untersuchung und Beratung

140

Universitäten ohne Hochschulkliniken

1324

Unternehmensberatungen

352

Die Finanznot der Krankenkassen, Krankenhäuser und Kassenärztlichen Vereinigungen bildet ein weiteres Bündel von Ursachen für den komplizierten und teils sehr widersprüchlichen Rückgang von Ärzten in den kurativen Bereichen der Medizin. Niederlassungswillige Ärzte können nicht angestellt werden, so berichten Zeitungen, weil Besetzungsrichtwerte dies verhindern, Krankenhäuser entlassen Ärzte, obwohl sie dringend gebraucht werden, weil die Finanzmittel nicht ausreichen und am leichtesten bei den Personalkosten zu kürzen ist. Die Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht periodisch in ihren Arbeitsmarkt-Informationen u. a. Hinweise, wo sozialversicherungspflichtige beschäftigte Ärzte und Ärztinnen sich in „nichtkurativen Beschäftigungsfeldern“ befinden (vgl. Tab. 1).[6]

Natürlich ist die Aussage nur für eine kleine Gruppe von Medizinern von 3,6 Prozent aller sozialversicherungspflichtig beschäftigten Ärztinnen und Ärzte gültig. Nach der gleichen Quelle gab es in Deutschland im Juli 2004 insgesamt 6.367 arbeitslos gemeldete Humanärzte mit einem Frauenanteil von 60,4 Prozent, obwohl sie nur knapp 38 Prozent der Berufstätigen ausmachen.

Damit scheint die Arbeitslosigkeit in erster Linie auf Probleme der Frauen hinzuweisen, die nach Meinung der Bundesagentur auf Grund stärkerer sozialer und familiärer Bindungen regional weniger mobil sind und bei der Arbeitszeit eher familienfreundliche Lösungen anstreben.

Spezielle Probleme der neuen Bundesländer

Für die neuen Bundesländer spielen weitere Ursachen eine Rolle. Einmal, weil in der DDR die ärztliche Versorgung nach dem 13. August 1961 mit Macht verbessert werden sollte und deshalb sehr starke Jahrgänge geplant und gelenkt in die Grundbetreuung kamen, die nun aber ersetzt werden müssten. Zum weiteren sind nach der Wiedervereinigung viele, besonders junge Leute aus der DDR wegen besserer Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten in die alten Bundesländer verzogen. Darunter auch viele Ärzte und Ärztinnen. Damit haben sich die bereits vorher vorhandenen Unterschiede in der allgemeinen Arztdichte zwischen den Bundesländern weiter vertieft. Wie die Arbeitsverwaltungen nachweisen, werden viele Absolventen der Medizin von Universitäten in den neuen Bundesländern in ihren Ländern nicht tätig, weil sie eine Arbeitsaufnahme an Rhein und Donau bevorzugen. Auch hier spielen Vergütungs- und Lebensbedingungen die ausschlaggebende Rolle.

Die Bundesagentur für Arbeit formuliert unter dem Titel „Junge Ärzte meiden den Osten“ hierzu: „Der Verdienst jedes Facharztes ist begrenzt, und das Budget im Osten ist wesentlich geringer. Im Vergleich zu Fachärzten verdienen die Ostärzte rund ein Fünftel weniger. Dies führt dazu, dass eine Praxisgründung im Westen wesentlich lukrativer ist: weniger Arbeit, mehr Geld. Deswegen gilt für junge Ärzte wie für einfache Jobsuchende: Wer kann, geht in den Westen.“[7]

Die Ursache liegt in einer zu geringen Bemessung des Budgets 1992, als sich das ambulante Versorgungssystem in den neuen Bundesländern formierte. Nach dem Gesetz kann das Budget nur wachsen, wenn die Durchschnittslöhne steigen. Da im Westen die Einkommen höher waren und schneller stiegen als im Osten, hatten die Ärzte im Westen immer mehr Geld zur Verfügung als ihre Kollegen im Osten.

Der Einigungsvertrag legte nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 fest, dass in den neuen Bundesländern (Ostdeutschland) vergleichbare politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale Verhältnisse wie in den alten Bundesländern (Westdeutschland) anzustreben seien. Das Gesundheitswesen war von dieser Umstrukturierung gleichfalls betroffen. Insbesondere in der ambulanten ärztlichen Betreuung der Bevölkerung, die heute allgemein Versorgung genannt wird, vollzog sich ein radikaler Umbruch; eine radikale Rückkehr zu Verhältnissen, wie sie vor 1945 vorhanden waren. Die ehemals hauptsächlich mit angestellten Ärzten und Zahnärzten in Polikliniken, Ambulatorien, staatlichen Arztpraxen und wenigen Ärzten in eigener Niederlassung organisierte staatlich geleitete ambulante Versorgung wurde zerschlagen und das Versorgungssystem nach westdeutschem Muster etabliert. In allen neuen Bundesländern entstanden nach dem Beispiel der alten die so genannten selbstverwalteten, vertragsärztlichen Organisationsstrukturen mit Kassenärztlichen Vereinigungen auf der einen und Krankenkassen auf der anderen Seite. Dieser „Prozess der Umstellung“, wie er in zahlreichen Publikationen verharmlosend genannt wird, ist nicht unser Thema. „Rund 15.000 ehemals staatlich angestellte Ärzte entschieden sich ‑ mit Unterstützung ihrer Kassenärztlichen Vereinigungen ‑ innerhalb einer kurzen Zeitspanne von 1 - 2 Jahren für die Gründung einer eigenen Arztpraxis“. Sie gingen mit der Praxisgründung ‑ in einem meist höheren Lebensalter als ihre westdeutschen Kollegen ‑ durch die nicht unbeträchtlichen Investitionen in die medizinische Praxisausstattung, die Anmietung von Praxisräumen und die Anstellung von Personal als Arbeitgeber ein ungewohntes wirtschaftliches Risiko ein. Das Vertrauen auf ein dem Westen in Struktur und Niveau vergleichbares Honorarsystem, das die laufenden Praxiskosten abdecken und ein angemessenes Einkommen ermöglichen würde, unterstützte die notwendige Risikobereitschaft zur Praxisgründung. Die Umstrukturierung des ostdeutschen ambulanten Gesundheitssystems wurde dank dieser Motivation ostdeutscher Ärzte und der Unterstützung ihrer Kassenärztlichen Vereinigungen ein voller Erfolg. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass sich die Umstellung des Gesundheitssystems vollzog, ohne dass Engpässe bei der medizinischen Versorgung der Bevölkerung eingetreten sind.“[8] Nach Berechnungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung fehlen heute bereits in den ländlichen Gebieten der neuen Bundesländer bereits 631 Fachärzte, allein in Sachsen-Anhalt 212.[9]

Reaktionen

Wer gedacht hatte, es werde nun von verantwortlicher Seite ein umfangreicher Aktionskatalog beschlossen, sah sich getäuscht. Der Präsident der Bundesärztekammer, Dietrich Hoppe, beklagte in seiner Stellungnahme das Paradoxon, dass es bei zunehmenden Ärztezahlen einen Ärztemangel gebe und forderte eine bessere Bezahlung der Ärzte, das Ende der Ausbeutung und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Der (damalige) Erste Vorsitzende der KVB, Manfred Richter-Reichhelm, konstatierte einen dringenden Handlungsbedarf. Auch er forderte, man müsse den Arztberuf wieder attraktiv machen. Zudem forderte er eine angemessene Vergütung und Arbeitszeit sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Er verlangte die Einstellung der Diffamierungen gegen Ärzte. Das bestehende (Versorgungs-)System dürfe nicht schlechtgeredet werden. Nun sei die Politik gefordert.[10]

Aus dem Bundesministerium für Gesundheit und Soziales war zunächst nur wenig zu hören. Erst als ein in Auftrag gegebenes Gutachten über die Flucht aus der kurativen Medizin in Deutschland vorlag, appellierte die Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt im Februar 2005 an junge westdeutsche Ärzte, doch ihre Tätigkeit in den neuen Bundesländern aufzunehmen.

Auf dem 108. Deutschen Ärztetag in Berlin Anfang Mai 2005 distanzierten sich die Vertreter der deutschen Ärzteschaft erstmalig vom Profitdenken im Gesundheitswesen auf Kosten von Qualität und Solidarität. Man wird sehen, ob den Worten auch Taten folgen. In einer Entschließung forderten die Delegierten die Politik auf, den Arztberuf wieder attraktiver zu machen, von wuchernder Bürokratie zu befreien und die finanziellen Rahmenbedingungen zu verbessern. Die Bundesgesundheitsministerin räumte ein, für das Problem des Ärztemangels noch keine befriedigende Antwort gefunden zu haben.

[1] Homepage der Bundesärztekammer: Ergebnisse der Ärztestatistik zum 31.12.2004. Auswertung der statistischen Zahlen; siehe www.bundesaerztekammer.de

[2] Berechnet nach Tabelle 8 der „Ergebnisse der Ärztestatistik zum 31.12.2004. Auswertung der statistischen Zahlen.“ vom 03.05.2005.

[3] Alle Zahlen aus der Studie der KBV und BÄK von 2003. Siehe www.bundesaerztekammer.de

[4] Analyse der BÄK und der KBV vom August 2004. Siehe www.bundesaerztekammer.de

[5] Ärztezeitung vom 7. April 2005.

[6] Bundesagentur für Arbeit. Zentralstelle für Arbeitsvermittlung: Arbeitsmarkt-Information. Ärztinnen und Ärzte. Facharztmangel droht. Bonn 2004, S. 82.

[7] Ebenda, S. 7.

[8] „Gesundheitszustand und ambulante medizinische Versorgung der Bevölkerung im Ost-West-Vergleich“. Band 56 der Publikationen der wissenschaftlichen Reihe des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2000.

[9] Ebenda S. 7.

[10] Die Stellungnahmen sind auf der Homepage der BÄK nachzulesen.