Diskussion - Kritik - Zuschriften

Was machen wir mit dem Klassenbegriff?

Replik auf Lothar Peter (Z 81)

Juni 2010

Seit etwa 250 Jahren (beginnend mit den schottischen Moralphilosophen, den Ökonomen der Klassik und den französischen Aufklärern) wird in den Sozialwissenschaften über den Begriff der „sozialen Klasse“ als einer zentralen Kategorie der Gesellschaftstheorie und der Sozialstrukturanalyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft diskutiert. Die Geschichte der Soziologie könnte als fortwährende – offene oder verdeckte – Debatte um diesen Begriff, seine Begründung/Befürwortung, Ablehnung, Modifikation, Erweiterung/Verengung oder Umdeutung geschrieben werden.

Die Konjunkturen der Ablehnung oder Verabschiedung dieses sozialwissenschaftlichen Grundbegriffs wechselten immer wieder mit solchen seiner Wiederentdeckung und Aufwertung ab (Bader u.a.1998; Ritsert 1998). Nachdem in der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren der Schicht-Begriff zur fast einhellig akzeptierten Grundkategorie der Analyse gesellschaftlicher Gliederung avanciert war, erlebte der (marxistisch interpretierte) Klassen-Begriff in den 1970er Jahren – im Kontext verstärkter sozialer Kämpfe und Unruhe (Studierende, Arbeiter, Intelligenz) – eine bemerkenswerte Renaissance, um dann insbesondere seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wieder durch die Konzepte der „sozialen Milieus“, der „Lebensstile“ und der „Lebensläufe“ als grundlegender und „zeitgemäßer“ Kategorien der Sozialstrukturanalyse – zumindest in den dominanten Strömungen der Soziologie – abgelöst zu werden. Mit den durch die neoliberalen Politiken forcierten sozio-ökonomischen Polarisierungsprozessen in praktisch allen entwickelten kapitalistischen Gesellschaften entfaltete sich seit Beginn der gerade zu Ende gegangenen Dekade wieder eine vereinzelte und zaghafte Wiederaufnahme des Klassenbegriffs. Sogar auf den letzten Soziologenkongressen durfte wieder über Klassen diskutiert werden.

In diese Konstellation fällt nun überraschenderweise der Beitrag von Lothar Peter (LP), eines renommierten und bekannten Soziologen (nicht zuletzt als langjähriger und brillanter Z-Autor), der die im Titel der Replik genannte Frage nicht nur rhetorisch stellt, sondern zugleich auch im Sinne der Verabschiedung des Klassenbegriffs beantwortet, da dieser die aktuellen empirischen Tendenzen der Gesellschaft nur unzureichend (oder sogar falsch) abbilde.[1] Hierbei stützt er sich auf Beobachtungen und Argumente, die seit langem bekannt sind und die von Soziologen des Mainstreams (wie U. Beck, P. Berger, St. Hradil) vorgetragen wurden, die allerdings dabei von einem mehr oder minder mangelhaften Verständnis des marxistischen Theorieansatzes ausgingen. Genau letzteres kann bei LP nicht unterstellt werden, und daher stellt sein Artikel eine besondere Herausforderung dar.

Was sind nun LPs Hauptargumente?

Nach der Präsentation einer dreiseitigen Klassendefinition (gemeinsame sozio-ökonomische Lage, soziale Lebensweise und symbolisch-subjektive Dimension) betont er insbesondere, dass von Klassen nur gesprochen werden sollte, wenn und insoweit diese drei Elemente der Definition auch voll erfüllt sind und entsprechende Großgruppen als kollektive soziale Akteure dauerhaft auftreten. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts seien diese drei Definitionselemente weitgehend erfüllt gewesen. Seither begannen sie auseinanderzudriften, vor allem innerhalb der (weiter oder enger gefassten) Arbeiterklasse. Neue Mobilitätserfahrungen (nach oben), materielle Wohlstandssteigerung, aber auch zunehmend differierende Lebensweisen und Lebensstile führten zu einer derartig hohen Fragmentierung und sogar Atomisierung dieser Großgruppe, dass die Qualität, kollektiver Akteur zu sein (bzw. sein zu können) völlig abhanden gekommen sei. LP betont indes immer wieder, dass die „Linien der sozialen Spaltung“ (gleichzeitig) schärfer hervortreten (139), vor allem zwischen dem unteren und dem oberen Rand der Gesellschaft, die „von der überwältigenden Mehrheit der Gesellschaft abgekoppelt zu sein scheinen“ (ebd.) Dennoch bzw. gerade deswegen: „Die gegenwärtige Gesellschaft in Deutschland und anderen westlichen Ländern weist nicht mehr alle konstitutiven Merkmale einer Klassengesellschaft auf. Zwar steht eine zahlenmäßig kleine herrschende Minorität einer in mehrfacher Hinsicht abhängigen Bevölkerung in schroffem Antagonismus gegenüber, aber diese Majorität zerfällt ihrerseits in eine schwer überschaubare Gemengelage von ökonomischer Konkurrenz, Ungleichheitsrelationen, Statuskämpfen und kulturellen Konflikten einander entfremdeter sozialer Gruppen und Segmente.“ (142f.) Entsprechend den von LP zugrunde gelegten hohen Anforderungen an die Realität (Relevanz) von Klassen hält er auch für die Zukunft eine Wiederbelebung der Klassenwirklichkeit für unwahrscheinlich. Autoren wie Fülberth, Seppmann, Castel, Dörre u.a., die in der einen oder anderen Form eine Re-Aktualisierung von Klassenbildungsprozessen begründen wollen, zeiht er – unter Verweis auf die empirisch vorherrschende Entkollektivierung und Atomisierung – der „Nähe (zu) einer Begriffsmythologie“ (145). Auch gegenüber Konstrukten wie „globale Unterklassen“ (Roth) äußert sich LP sehr skeptisch. Seiner Schlussfolgerung, dass die Linke sich angesichts der offenbar andauernden Gegenläufigkeit von sozio-ökonomischer Polarisierung einerseits, wachsender sozialer Atomisierung und Entsolidarisierung andererseits besonderen Schwierigkeiten gegenüber sieht, und sie versuchen müsse, „gemeinsame Schnittmengen, Berührungspunkte, Vernetzungsmöglichkeiten und Übereinstimmungen zwischen all denjenigen herauszuarbeiten, die, so sehr sich ihre materiellen und ideellen Lebensbedingungen im Einzelnen unterscheiden mögen, gemeinsam unter der Herrschaft des modernen Kapitalismus und anderen Unterdrückungsverhältnissen zu leiden haben“ (147), kann indes durchaus zugestimmt werden.

LP hat m. E. mit seinem Artikel einen interessanten, provokativen und anregenden Beitrag für die aktuelle theoretische und politische Orientierungsdebatte der Linken geliefert. In vielen Punkten ist ihm zuzustimmen: seine Beobachtungen der empirischen Tendenzen sind m. E. völlig zutreffend, bestimmte Dilemmata (wie die im Zitat zuletzt genannten) sind zweifellos vorhanden. Dennoch leidet der Artikel unter der zentralen Schwäche, den Klassenbegriff einerseits allzu empirisch (oder empiristisch) zu fassen, andererseits ihm gegenüber allzu hoch gespannte (und wenig wahrscheinliche) Erwartungen auszudrücken. LP erwartet vom Klassenbegriff zuwenig und zuviel zugleich. Kernpunkt ist sicherlich der epistemologische Status und Stellenwert des Klassenbegriffs. M. E. werden seine Reichweite und sein Anspruch verkürzt, wenn er sich nur auf kollektive Akteure gewissermaßen in ihrem kompakten und voll entfalteten Klassenhandeln bezieht. Der Klassenbegriff ist ja nicht nur oder gar ausschließlich ein empirischer Begriff, der vor allem Klassen als kollektive Akteure sozusagen in actu beschreibt oder abbildet, sondern er ist auch – und vielleicht sogar vor allem – ein analytisch-theoretischer und heuristischer Begriff, der die objektive „Spaltung“, „Verelendung“ und den „Antagonismus“ in den Herrschaftsverhältnissen – Begriffe, die LP selbst benutzt – verständlich und besser analysierbar machen soll. Gerade an dieser Stelle wäre zu hinterfragen, ob LP diese sowohl Erkenntnis leitenden wie Erkenntnis resümierenden Kategorien überhaupt verwenden könnte, ohne selbst zumindest implizit einen Klassengegensatz zugrunde zu legen (bzw. mitzudenken). Dasselbe gilt für die zitierte Schlussfolgerung, wo er von „gemeinsamen Schnittmengen“ und „Berührungspunkten“ von allen „gemeinsam unter der Herrschaft des modernen Kapitalismus“ leidenden Gruppen der Gesellschaft spricht.

Die sozio-ökonomische Dimension des Klassenbegriffs und die damit eng verkoppelte Herrschaftsproblematik wird zu gering gewichtetet oder sogar weitgehend ausgeblendet, wenn in die Klassendefinition nur die drei Elemente, die LP benennt, aufgenommen werden. Die – bei ihm nicht angesprochene – Aneignung fremder Mehrarbeit (vulgo: Ausbeutung), die sich über verschiedene Ausbeutungsketten und Intensitätsgrade in komplexen kapitalistischen Gesellschaften – wie der gegenwärtigen – vollzieht, konstituiert die zentrale, theoretisch und empirisch zu ermittelnde Achse der Klassenspaltung, ganz unabhängig davon, in welchem Umfang und mit welcher Intensität diese als solche wahrgenommen wird. Sie ist eine objektive Realitätsebene, eine in den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen der auf Lohnarbeit gründenden Gesellschaft verwurzelte objektive Struktur. Man kann davon ausgehen, dass in einer bürgerlichen Gesellschaft der Prozess der Kapitalakkumulation gewissermaßen das Rückgrat aller weiteren gesellschaftlichen Verästelungen und Differenzierungen bildet und an der Kapitalakkumulation die diversen gesellschaftlichen kleineren und größeren Gruppen in aktiv-anleitender, in vermittelnder oder eher ausführend-passiver Form beteiligt sind bzw. diese auf asymmetrische Weise tragen. Die Analyse der damit verbundenen Kräfte- und Magnetfelder, die sich zwischen „oben“ und „unten“, zwischen Herrschenden und Beherrschten jeweils unterschiedlich strukturieren und verschiedene Segmente und Untereinheiten mit differierender Entfernung zum jeweiligen zentralen Pol enthalten, sind m. E. der eigentliche Gegenstand der Klassentheorie und der empirischen Klassenanalyse. Beide – Klassentheorie und Klassenanalyse – sind notwendige Elemente einer kritischen Sozialstrukturanalyse, weder das eine noch das andere ist verzichtbar oder aufeinander reduzierbar. Zwischen beiden Dimensionen bestehen notwendigerweise Spannungen, die sich aus der geschichtlichen Entwicklung des Kapitalismus, aus Produktivkraftsprüngen, wechselnden Kräftekonstellationen, beständigen Restrukturierungen der Klassen und Klassensegmente ergeben. Anders wäre Klassenanalyse ein einfaches Rechenexempel, das bloß mechanische Handlungsabläufe ermittelt. Gerade die Diskrepanz zwischen objektiven Strukturen und subjektiven Deutungen sowie daraus resultierenden Handlungen, deren Ursachen und Vermittlungsebenen (seien sie auf technologischer, arbeitsorganisatorischer, auf habitueller oder kultureller Ebene angesiedelt) zu ermitteln und zu erforschen, ist die komplexe, jeweils neu vorzunehmende Aufgabe der Klassenanalyse, wenn sie zu aussagekräftigen und womöglich auch handlungsanleitenden Ergebnissen kommen möchte. In der Unterscheidung zwischen einem „abstrakten Klassenverhältnis“ und den daraus hervorgehenden „konkreten empirischen Klassen“ (R. Kreckel) oder zwischen objektiven Klassenpositionen („Klassen auf dem Papier“) und unterschiedlichen habituellen Formen und Milieus innerhalb und noch mehr zwischen unterschiedlichen Klassenlagen (P. Bourdieu, M. Vester) wird versucht dieses vielfältige Spannungsverhältnis zu überbrücken. Diese Ansätze, die eine sich verändernde Realität fassen sollen, mögen nicht voll ausgereift sein und offene Fragen implizieren, aber sie weisen meiner Ansicht nach in eine Richtung, die weiter zu verfolgen sich lohnen würde (Herkommer 2005). Überflüssig zu sagen, dass diese Diskrepanzen und Widersprüche bei Marx (und Engels) selbst Thema sind und dass sie sich in der Geschichte der Arbeiterbewegung in immer neuen Formen gezeigt haben und zeigen.

Eine völlige und dauerhafte Kongruenz von Klassenlage und Klassenhandeln zu postulieren (und dies sogar zur Bedingung für die Brauchbarkeit des Klassenbegriffs zu machen), dürfte nicht nur eine Überforderung der Klassenanalyse sein, sondern verlangt auch extrem Unwahrscheinliches, da soziales Handeln von Gruppen von differierenden Faktoren bestimmt wird, die keineswegs immer gleich gerichtet sein müssen und sich nur unter bestimmten historischen Konstellationen in eine Richtung verdichten. „Das Besondere an Klassenverhältnissen im Kapitalismus besteht ja gerade darin, dass die sozialen Gruppierungen, die man als Klassen bezeichnen könnte, sich nicht einfach als Gruppierungen darstellen, die man einfach an statistischen Kriterien katalogisieren könnte, sondern dass Individuen in spezifischer Weise in den gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess einbezogen werden, und eben durch diese Art der Einbezogenheit Voraussetzungen für ihr Handeln geschaffen werden, die von ihnen in allerdings unterschiedlicher Weise genutzt werden können.“ (Thien 2010:15)

Die Auflösung des Klassenbegriffs (als taugliche Analysekategorie) in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verlegen, erscheint vergleichsweise willkürlich zu sein. Das Auftreten von Fragmentierung, Atomisierung, teilweiser Entsolidarisierung – aufgrund ethnischer, qualifikationsmäßiger, genderbedingter oder sonstiger Kriterien – hat es in der Geschichte des Kapitalismus bzw. der der Arbeiterbewegung immer gegeben. Die Annahme einer neuen Qualität dieses Spannungsverhältnisses für einen bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung des Kapitalismus müsste besser ausgewiesen werden.

Ohne Klassenbegriff droht Gesellschaftsanalyse m. E. tendenziell entökonomisiert und entpolitisiert zu werden, da der Klassenbegriff mit den zentralen Spaltungslinien der Gesellschaft zugleich die maßgeblichen Konflikte und die daraus resultierenden Entwicklungstendenzen zumindest in groben Umrissen anzuzeigen beansprucht. Die tieferen Ursachen, die Strukturierung sowie Dynamik und strukturelle Stabilität sozialer Ungleichheitsverhältnisse müssen ohne Zugrundelegung von Klassenbarrieren letztlich unbegriffen bleiben.

Bei der Diskussion der herrschenden Klassen, die LP aufgrund seiner sich selbst verordneten Abstinenz gegenüber dem Klassenbegriff etwas soziologisch gedrechselt in „herrschende Besitz- und Machtgruppen“ umtauft, wird relativ deutlich, dass hier LPs Anforderungen an einen aktuell anwendbaren Klassenbegriff eigentlich erfüllt sind, was er auch selbst einräumt („Dagegen trifft der Klassenbegriff heute vielleicht am ehesten auf diejenigen zu, die sich am obersten gesellschaftlichen Rand konzentrieren“, 139).

Die starke Auffächerung und Segmentierung der subordinierten und subalternen Klassengruppierungen, insbesondere die sich verstärkenden Differenzierungsprozesse zwischen völlig Marginalisierten (Überzähligen und Ausgeschlossenen), der Zone der prekär Beschäftigten, der vom Abstieg auf den Prekariats-Status Bedrohten und der scheinbar gesicherten Stammarbeiter, das Auftreten von Formen „sekundärer Ausbeutung“ zwischen diesen Segmenten (Dörre 2010) bilden selbstverständlich Probleme für die Klassenanalyse, aber keinen Anlass, diese als untauglich zu verwerfen. Die theoretisch fundierte und empirisch gesättigte Nachzeichnung unterschiedlicher Teile subalterner Klassengruppierungen oder von Mittelklassensegmenten ermöglicht auch für die aktuelle politische Orientierung Resultate, die es keineswegs nahelegen, den Klassenbegriff in den Orkus zu verweisen.

Literatur

Bader, Veit M. u.a. (Hg.) (1998): Die Wiederentdeckung der Klassen, Hamburg (Argument –Sonderband)

Herkommer, Sebastian (2005): Zur Aktualität marxistischer Klassentheorie, in: Kaindl, Christina (Hg.): Kritische Wissenschaften im Neoliberalismus, Marburg, S.85-106

Ristert, Jürgen (1998): Soziale Klassen, Münster

Thien, Hans-Günter (Hg.) (2010): Klassen im Postfordismus, Münster , Einleitung, S.7-2 (eine Besprechung dieses wichtigen Sammelbandes erfolgt in der nächsten Z-Nummer)

Dörre, Klaus (2010): Landnahme und soziale Klassen. Zur Relevanz sekundärer Ausbeutung, In: Thien, Hans-Günter (Hg.), a.a.O., S.113-151

[1] Lothar Peter, Was machen wir mit dem Klassenbegriff? In: Z 81, März 2010, S. 133-148.