Demokratie – Herrschaft der Eliten?

Politische Eliten – Wem gehört die EU?

März 2007

Die Frage, wem die EU gehört, kann und muss auf verschiedenen Ebenen beantwortet werden. Zunächst einmal, und das entspricht dem gegenwärtigen Stand des Eindringens in diese Problematik, geht es um die Frage der Vermögenskonzentrationen, seit der europäische Integrationsprozess so richtig in Gang gekommen ist.[1] Die Reichen sind immer reicher geworden und dafür gibt es eine Fülle von empirischen und statistischen Indizes, auch wenn sie bislang in keiner Weise zureichend systematisch erschlossen und analysiert worden sind und auch wenn hinsichtlich der Frage, was Eigentum – und sogar Geld - unter den heutigen Bedingungen ist, Klärung aussteht.[2]

Zweitens geht es um das klassentheoretische Problem, also um die Frage, ob sich in Europa eine (neue) herrschende Klasse auf der Grundlage dieser Akkumulationsprozesse herausbildet. Hier finden sich die unterschiedlichsten Erklärungsansätze und noch bei weitem kein Konsensus unter den kapitalismuskritischen Beobachtern – und vornehmlich in diesem Milieu wollen wir uns im Folgenden bewegen.

Drittens schließlich geht es um eine epochen- oder formationsspezifische Bestimmung dieses historisch einmaligen Akkumulationsprozesses. Wir werden versuchsweise von einer kapitalismusbasierten High-Tech-Refeudalisierung Europas sprechen, in deren Kern sich eine ‚transkapitalistische’ Konzentration von Geldmacht durch Privatisierung (wealth condensation) vollzieht.

Im Zentrum unseres Interesses steht, wie gesagt, die zweite Ebene, die klassentheoretische Frage, also die Frage nach dem ‚Wer’ bzw. nach dem ‚Wer wen’. Nach unserer Auffassung ist die Postulierung einer europäischen ‚herrschenden Klasse’ verfrüht bzw. auch nach anderthalb Jahrhunderten marxistischer und nicht-marxistischer Klassenanalyse noch den Gefahren der Vereinfachung und Mythologisierung ausgesetzt. Wir werden versuchen, die Akteure und Profiteure der kapitalismusbasierten High-Tech-Refeudalisierung Europas als ein komplexes Netzwerk teils kooperierender, teils konkurrierender Eliten darzustellen und dabei typisierende und analytische Momente miteinander verbinden.[3] Um dieses Netzwerk sozusagen vorurteilsfrei zu erkunden, verwenden wir einen neuen Begriff: Geldmachtapparat.

In diesem ‚Geldmachtapparat’ genannten Netzwerk beginnen sich verschiedene, per se höchst interessante Gruppen heimisch zu machen: teils in Gestalt eines über Generationen vererbten Reichtums, teils in Gestalt alten oder neuen europäischen Adels, teils in Gestalt eines mithilfe technischer, finanzpolitischer oder marketingmäßiger Innovationen zusammengerafften Neureichtums, teils in Gestalt eines durch korrupte Privatisierungspraktiken erzeugten Oligarchentums, teils in Gestalt von Mafia-Milliardären.

Politische Eliten im „Geldmachtapparat“ der EU:
Das Geschäft der ‚gerechten’ Verteilung

Zigtausende Europäerinnen und Europäer sind in Parteien, in Parlamenten und Exekutiven auf allen Ebenen als Profis oder als Amateure daran beteiligt, den gesellschaftlichen Reichtum ‚gerecht’ oder im Interesse bestimmter Klientele zu verteilen. Unter ihnen gibt es Zehntausende, deren Namen in den Medien erwähnt werden und die in ihren politischen Organisationen wohlbekannt sind, die aber nicht die Spitze der politischen Pyramide erreicht haben. Schon um sie, aber vor allem um die ‚hochrangigen’ Politikerinnen und Politiker ranken sich weitere Gruppen, die mit Verteilungsfragen zu tun haben: Lobbyisten, Verbandsfunktionäre, Rechtsanwälte, politische Beamte, Medienleute usw.

Im Zentrum dieser Netzwerke finden wir Strukturen, die man als Partei-Oligarchien oder ‚politische Direktorate’ bezeichnet hat.[4] Inzwischen lässt sich möglicherweise sogar von einem globalen Zentrum dieser Art, einem Unified Global Command[5] sprechen. Strukturell bestehen diese ‚Direktorate’ aus kleinen Gruppen von Personen, welche letztlich die exekutiven Entscheidungen treffen. In Wahlkämpfen geht es immer um die Besetzung dieser Schlüsselpositionen, die auch in und zwischen den Eliten, bis in die Geldelite hinein, heiß umkämpft sind.

Hat sich ein solches Direktorat dann erst einmal stabilisiert, bildet es eine zentrale – wenngleich nicht unbedingt die wichtigste – Stütze des Geldmachtapparats. Albrecht Müller beschreibt eine solche Konfiguration für Deutschland: „Was für Leute sind das an der Spitze? Horst Köhler, Angela Merkel und Josef Ackermann von der Deutschen Bank, Martin Kannegiesser von den Metall- und Elektroarbeitgebern und Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, Jürgen Thumann und Michael Rogowski, der amtierende und der frühere Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Stefan Aust und Gabor Steingart vom Spiegel, Friede Springer und Mathias Döpfner von Springer, Jürgen Kluge von McKinsey und Roland Berger, Bert Rürup, Hans-Werner Sinn, Klaus Zimmermann, Bernd Raffelhüschen und nahezu der ganze Rest der Wirtschaftsprofessoren, Arnulf Baring und Lord Dahrendorf, Paul Nolte, Meinhard Miegel, Warnfried Dettling und Werner Weidenfeld, Liz und Reinhard Mohn, die Bertelsmann Stiftung samt deren Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) und dem Bertelsmann-Centrum für Hochschulforschung (CHE), die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft mit ihren Kuratoriumsvorsitzenden Hans Tietmeyer und ihren ‚Botschaftern’ und über ein Dutzend Nachahmer-Initiativen, Franz Müntefering, Edmund Stoiber, Matthias Platzeck, Friedrich Merz, Guido Westerwelle und die jungen Netzwerker aller Parteien – und so weiter ... Sie und noch viele, viele andere, die hier nicht genannt werden, sind die Köpfe und Institutionen, die als Treibende und Getriebene den neoliberalen Strom ausmachen. Sie bilden die Elite, von der hier die Rede ist.“[6]

Es gibt inzwischen zumindest in Westeuropa einen Markt für Bücher wie die von Albrecht Müller, Jürgen Roth, Thomas Leif usw.[7], auch wenn die analytische Durchdringung dieser Netzwerke erst am Anfang steht. Investigativer Journalismus deckt für die Bundesrepublik die Rolle der ‚Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft’ und der Bertelsmann-Stiftung auf.[8] Ideelle Korruption in der Wissenschaft, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in den Parteien wird zum Thema. Und immer deutlicher erscheinen hinter den kleinlichen politischen ‚Streitereien ums Geld’ die großen Verteilungsfragen und werden grundsätzlicher diskutiert. Privatisierung ist nicht mehr das Zauberwort der Transformationsprozesse im Osten und des ‚Freiheits’-Diskurses überall. Public-private partnerships werden als das erkannt, was sie sind: Operationen des Geldmachtapparats zur Verschiebung der Werte in die Hände der HNWIs und vor allem der UHNWIs. Die Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme, vor allem der gesetzlichen Rente, erweist sich als ein gewaltiges Umverteilungsgeschäft, das z.B. in der Bundesrepublik der Versicherungswirtschaft einen jährlichen Umsatzgewinn von 15 Mrd. Euro bringen wird.[9] Nur die politischen Eliten erkennen das alles nicht. Warum?

Vielleicht gibt es eine sozialpsychologische Erklärung. Einmal in eines der wichtigeren europäischen Parlamente gewählt, ob auf nationaler Ebene oder in Brüssel/Straßburg, wird auch das schlichteste Parlamentsmitglied auf sehr sinnfällige Weise in die Lebenswelt des Geldmachtapparats einbezogen. Auf einmal verfügt es, zumindest ansatzweise, über luxuriöse Fahr- und Flugzeugparks, persönliches und allgemeines Hilfspersonal, Zugang zu ‚exklusiven’ formellen und informellen Veranstaltungen aller Art. Lobbyisten öffnen soziale und kulturelle Räume und damit sonst der Geldelite vorbehaltene Perspektiven. Eines der prominentesten Beispiele bot vor einiger Zeit Kommissionspräsident José Manuel Barroso, als er eine Einladung zu einer Schiffsreise durch einen Industriellen mit massiven wirtschaftlichen Interessen an bestimmten EU-Maßnahmen ohne jedes Verständnis für die Problematik rechtfertigte, mit Details zu der Reise viel zu spät herausrückte und trotzig betonte, er werde derartige Einladungen auch in Zukunft annehmen.[10]

Wichtiger aber ist die Frage, wie die politische Elite mit der Tatsache umgeht, dass durch ihre Aktivitäten die Reichen zwar immer reicher werden, sie selbst aber pekuniär vergleichsweise bescheiden davon profitiert. Nach einer Aufstellung des Spiegel[11] gab es im Jahre 2002 in Deutschland 4.000 Personen mit einem liquiden Vermögen von über 30 Mio. Euro, 15.600 mit einem Vermögen zwischen 3 Mio. und 30 Mio., weitere rund 165.000 Millionäre sowie rund 460.000 Personen mit einem liquiden Vermögen zwischen 300 Tsd. und 750 Tsd. Euro. In Westeuropa waren Reiche (ab 300 Tsd. Euro Vermögen) wie folgt verteilt: Skandinavien 114.000, Spanien 247.000, Italien 412.000, Großbritannien 571.000, Frankreich 586.000. Demgegenüber erscheinen Politikereinkommen in der EU[12] nicht gerade beeindruckend:

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Andererseits liegen diese Einkommen weit über den Durchschnittseinkommen der jeweiligen Länder. In der Bundesrepublik bezieht die Regierungschefin ein monatliches Gehalt von 15.830 Euro, ein Bundesminister erhält 12.860 Euro, ein MdB oder MdEP 7.000 Euro. ‚Landesfürsten’ und Landtagsabgeordnete sind z.T. ähnlich ausgestattet. Doch auch über Nebenverdienste kommt die politische Elite bestenfalls in die unteren Einkommensränge des Geldmachtapparats. Gleichwohl ist die öffentliche Diskussion hierüber heftig, und zu Recht. Denn mit ihrem sie letztlich legitimierenden Auftrag, für Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen, kann die politische Elite gar nicht allein der neoliberalen Maschine dienen.

Dennoch klagen derzeit neun MdBs gegen die Transparenzvorschriften, die der Bundestag im Juni 2005 beschlossen hat. Ein von Bundestagspräsident Lammert bestelltes Gutachten greift die neue Vorschrift des Abgeordnetengesetzes an, nach der die Mandatsausübung ‚im Mittelpunkt der Tätigkeit eines Mitglieds des Bundestages’ stehen muss. Das Gutachten argumentiert, diese Vorschrift sei nicht etwa ‚quantitativ’, sondern ‚qualitativ’ zu verstehen. Nicht ‚zeitliche Beanspruchung’ oder ‚Höhe der Einkünfte’ könnten den ‚Mittelpunkt der Tätigkeit’ definieren, sondern einzig eine Gewissensprüfung, die der einzelne Abgeordnete an sich vorzunehmen habe.[13] In dieser Situation kommt es nicht von ungefähr, dass Josef Ackermann höhere Politikergehälter fordert. „So würden mehr Menschen aus der Wirtschaft in die Politik kommen und könnten dort ihre Kompetenz einbringen.[14] Der Domestikenstatus der politischen Elite innerhalb des Geldmachtapparats bleibt brüchig.

Vollständige Willfährigkeit könnte in der Tat nur erreicht werden, wenn sich auch in den politischen Strukturen – wie im Schau- und Sportgeschäft – das Ranking und die Winner Takes All-Mentalität voll entfalten könnten – wie das in den USA, etwa im Millionärskabinett von George Bush oder im von Millionären wimmelnden US-Senat, der Fall ist. Forbes Magazine hatte das längst begriffen, als es vor den Kongresswahlen 2002 eine Liste der zehn reichsten Politiker der USA veröffentlichte: Michael R. Bloomberg (4,8 Mrd.$), Winthrop Rockefeller (1,2 Mrd.$), B. Thomas Golisano (1,1 Mrd.$), John Kerry (550 Mill.$) usw. Der Kommentar lautete:

„Viel zu lange ist Politik eine Spielwiese der Juristenklasse gewesen. Tatsächlich wärmen mehr Rechtsanwälte als Angehörige irgendeines anderen Berufs die Sessel der drei Zweige der Bundesregierung. Seit kurzem aber beginnen Wirtschaftsführer – die schließlich für die dynamischsten und wichtigsten Verbesserungen in unserer Gesellschaft verantwortlich sind – die Party der Politiker aufzumischen. Vor zwei Jahren wählte Amerika George W. Bush, den ersten Präsidenten mit dem Abschluss eines ‚Master’s of Business Administration’. Vor einem Jahr wählte die größte Stadt des Landes einen self made-Milliardär zum Bürgermeister und machte damit Michael R. Bloomberg zum eindrucksvollsten Neuankömmling auf der politischen Bühne New Yorks. Um diesen wachsenden Erfolg von Kapitalisten auf dem Feld der Politik zu zelebieren, haben wir eine Rangliste der zehn reichsten Politiker Amerikas aufgestellt. Dabei haben wir uns nur auf diejenigen Personen konzentriert, die im Augenblick ein politisches Amt innehaben oder sich bei den kommenden Kongresswahlen um ein Amt bewerben. Und wer weiß? Vielleicht werden wir in nicht allzu ferner Zukunft einen Milliardär als Präsidenten haben. In zwei Ländern ist das schon passiert: In Italien hat Premierminister Silvio Berlusconi im letzten Mai einen Erdrutschsieg errungen und im Libanon ist Rafik Al-Hariri schon in der zweiten Legislaturperiode Premierminister.“[15]

Ganz offensichtlich sind die Dinge zunächst einmal anders gekommen, als man dachte. Im Prinzip aber haben die Wirtschaftseliten schon immer geglaubt, sich brauchten die politische Sphäre gar nicht, ‚Direktherrschaft’ sei möglich. So auch jetzt: „This is a time that urgently calls for global corporate statesmanship.“[16]

[1] Vgl J. Huffschmid, Wem gehört Europa? Bd. I/II, Heilbronn 1994; ‚Who will own Europe?’ Workshop der EU Kommission ECFIN (2003). http://ec.europa.eu/economy_finance/events/2003/events_workshop_0203_en.htm.

[2] Vgl. z.B. J. Rifkin, Das Verschwinden des Eigentums, Frankfurt/M. 2000.

[3] Vgl. Mattei Dogan, ‘Is there a Ruling Class in France?’ Comparative Sociology, Vol.2, Issue 1, 2003.

[4] Alles fing an mit Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens (1911), Stuttgart 1989.

[5] M. Hardt/A. Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/M. 2002.

[6] Albrecht Müller, a.a.O., S. 170f.

[7] J. Roth, a.a.O.; Th. Leif, a.a.O; Zeitungen wie The Economist, Le Monde etc.; Filme wie Claude Chabrols ‚Geheime Staatsaffären’ etc.

[8] Z.B. F. Böckelmann, H. Fischler, Bertelsmann. Hinter der Fassade des Medienimperiums, Frankfurt/M. 2004.

[9] Müller, a.a.O., S. S. 291f.

[10] Hans Herbert von Arnim, Das Europa Komplott. Wie EU-Funktionäre unsere Demokratie verscherbeln, München/Wien 2006, S. 196.

[11] ‚Exklusiver Club’, Der Spiegel, 23/2004.

[12] Aus H.H.von Arnim, 9.053 Euro Gehalt für Europaabgeordnete?, Berlin 2004, S. 63.

[13] ‚Bundestagspräsident weicht Nebenjob-Regeln wieder auf’, Spiegel Online, 29. Juli 2006, http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,429162,00.html.

[14] ‚Ackermann fordert höhere Politikergehälter’, Spiegel Online, a.a.O.

[15] Davide Dukcevich, ‚America’s Richest Politicians’, Forbes Magazine, October 29, 2002.

[16] David de Pury, Jean-Pierre Lehmann, ‚Speak up for Globalization’, IHT, June 14, 2000; vgl. auch Markus Verbeet, ‚Der private Staat: Der Griff der Konzerne nach der Staatsmacht’, Spiegel Online, 21. August 2006, http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,432615,00.html.