Demokratie und Sozialismus im 21. Jahrhundert

Auf dem Holzweg?

Sozialismus und Demokratie – eine DDR-Bilanz

März 2007

Die angestrebte Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft in einigen europäischen und außereuropäischen Ländern wird von der öffentlichen Meinung überwiegend als Fehlschlag bewertet. Der Kapitalismus verfüge über eine unbegrenzte Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit, während die planwirtschaftliche „realsozialistische“ Gesellschaft in bürokratischem Zentralismus erstarrte, kaum Innovationskräfte entwickelte und in Produktion und Konsumtion durch Mangelwirtschaft gekennzeichnet war. „Es gibt zum Kapitalismus keine Alternative“[1] Wenn dem so ist, führen alle Versuche der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft in eine Sackgasse und es kann sich allein darum handeln, den Kapitalismus von seinen gröbsten Mängeln zu befreien und seine Potenzen gezielt zum Wohle der Bevölkerung zu nutzen. Diese Ansicht soll nachfolgend kritisch hinterfragt werden, wobei geprüft werden soll, ob der Weg der DDR, wie viele meinen, ein Irrweg war.

Kapitalismus transitorisch

Der Kapitalismus setzte in seiner Geschichte gewaltige Produktivkräfte frei, befreite die Produzenten von der Bindung an die Scholle und den Feudalherrn, führte bürgerlich-demokratische Verhältnisse ein und hob langfristig das Lebensniveau der Bevölkerung. „Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Geschichte massenhaftere und kolossalere Produktivkräfte geschaffen, als alle vergangenen Generationen zusammen.“[2] Die Triebkraft dieser ökonomischen Entwicklung ist die Jagd nach Profit unter Bedingungen der Konkurrenz der Warenanbieter. Ihr ist alles gesellschaftliche Leben untergeordnet; bis in die feinsten Verästelungen des zwischenmenschlichen Verkehrs hinein bestimmt das Denken im Horizont des eigenen Vorteils alles Tun und Lassen – zumindest der vorherrschenden Tendenz nach. Die Jagd der Kapitaleigner nach Profit hat zum Ergebnis, dass die Schöpfer des materiellen Reichtums oft in bedrängter sozialer Lage leben, dass Armut, Arbeitslosigkeit, Existenzangst, kulturelle Degradation und die Geißel von Kriegen ihr Dasein belasten. Die ökonomischen Leistungen dieser Gesellschaft sind kein Äquivalent für ihre negativen sozialen Folgen. Die Jagd nach Gewinn geht damit einher, dass ihre Kosten möglichst externalisiert werden: auf die Gesellschaft und damit auf jeden Einzelnen sowie auf die Natur.

Die kapitalistische Gesellschaft ist eine historisch vergängliche Formation: sie ist aus objektiven Bedingungen entstanden und wird aller Voraussicht nach dereinst wieder aufgehoben werden – sofern menschliches Handeln es bewirkt. Dieser Prozess wird in unterschiedlichen Formen erfolgen: sein historischer Sinn ist die Schaffung einer Produktions- und Lebensweise, die besser als der Kapitalismus in Einklang mit grundlegenden Bedürfnissen der Masse der Menschen steht. Ursprünglich waren die Belastungen und Gefährdungen der Lage der arbeitenden Massen durch die kapitalistischen Verhältnisse unmittelbar und augenscheinlich in ihren materiellen Lebensbedingungen gegeben, und auf diesem Boden entstand die sozialistisch orientierte Arbeiterbewegung. Heutzutage sind diese Belastungen komplex, differenziert sowie global und die Gegenkräfte haben nicht mehr die klaren klassenspezifischen Konturen von einst. Das macht die Herbeiführung einer besseren und gerechteren Gesellschaft zu einer weltweiten, Klassen übergreifenden Aufgabe. Nach wie vor entspringt Gewinn aus der Ausbeutung der lebendigen Arbeit und die Folgen ökonomischer Effizienzsteigerung sind im globalen Maßstab ungezählte Arbeitslose, vernichtete soziale Existenzen, Zerstörung kultureller und wirtschaftlicher Potenziale, zerrüttete Sozialstrukturen, Massenarmut, Beschädigung und Zerstörung der Natur. Der These, die sozialen Gegensätze würden im Kapitalismus der Gegenwart einer „Pazifizierung, Verrechtlichung und institutionellen Regulierung“[3] unterworfen, kann schwerlich gefolgt werden. Sie leugnet die weltweite Verschärfung der sozialen Kataklysmen, die Ausplünderung abhängiger Länder durch das internationale Kapital, das Massenelend in diesen Ländern. N. Klein hat diese Tatsachen eindruckvoll belegt.[4]

Die Frage ist, ob die negativen Folgen der kapitalistischen Produktionsweise auf dem Boden dieser Gesellschaft gemildert oder gar aufgehoben werden können, oder ob ihre Überwindung nur durch eine postkapitalistische Gesellschaft – bei Beibehaltung des Zukunftsfähigen – möglich ist. Die Frage ist also, wie der historische, transitorische Charakter des Kapitalismus zu fassen ist. In welchen Formen auch der Übergang erfolgt, die philosophische Kategorie des Aufhebens – Beseitigen, Erhalten, auf eine höhere Stufe Heben – ist geeignet, den Prozess theoretisch zu verstehen. Ohne Beibehaltung des geschichtlich Positiven der kapitalistischen Gesellschaftsformation ist der Fortschritt zu einer besser mit Natur und Mensch harmonierenden Produktions- und Lebensweise nicht möglich. An die Stelle von Profitvergötzung und Marktradikalismus muss sozial gebundenes, den Menschen verpflichtetes Gewinnstreben und ein allen dienender Wettbewerb in Wirtschaft, Politik und Kultur treten.

Im Kapitalismus „beherrscht“ nicht der Mensch seinen gesellschaftlichen Lebensprozess, sondern anonyme, wenngleich zu identifizierende Mächte des Kapitals haben maßgeblichen Einfluss auf das Schicksal der Individuen, die diesen Mächten weitgehend unterworfen sind. Massenarbeitslosigkeit, Armut, Bildungsnotstand, Sozialabbau sind die unvermeidlichen Folgen nationaler und internationaler Kapitalherrschaft.

Der historisch vergängliche Charakter des Kapitalismus gründet darin, dass die Produktion des materiellen und ideellen Lebens nicht auf Befriedigung der Lebensinteressen der Bevölkerung abzielt, sondern primär dem Gewinnstreben der Kapitaleigner untergeordnet ist. Eine solche Gesellschaft und Produktionsweise ist auf die Länge der Zeit zum Abtreten verurteilt. Der Konflikt zwischen der abstrakten Logik des Kapitals und der konkreten Logik menschlicher Bedürfnisse drängt zur Lösung durch den Übergang in eine Gesellschaft, in der die Mittel menschlicher Bedürfnisbefriedigung den Menschen nicht entfremdet gegenüber stehen, sondern in seine kollektive regelnde Macht gegeben sind. Demokratie und vorrangiges Gemeineigentum sind die Kennzeichen einer solchen Gesellschaft.

Prominente bürgerliche Denker wollen solche Gesichtspunkte nicht gelten lassen. Sie plädieren, wie J. Habermas, für eine sozialstaatliche und ökologische Zähmung des Kapitalismus, beklagen aber zugleich das Fehlen regenerationsfähiger und -bedürftiger gesellschaftlicher Solidarität. „Niemand“, behauptet U. Beck, „stellt den Kapitalismus heute noch in Frage … Der einzige potente Gegner das Kapitalismus ist der Nur-noch-Gewinn-Kapitalismus selbst.“[5] Dass damit der unlösbare Antagonismus des Kapitalismus benannt wird, bleibt Beck verborgen. Sein Standpunkt kontrastiert mit der Einsicht Adornos, dass „heute wie ehedem allein um des Profits willen produziert wird“, der dabei auf die „Ordnung der Eigentumsverhältnisse“ abhebt.[6]

Wandlungsfähigkeit

Das Ringen um eine postkapitalistische Gesellschaft wäre überflüssig, verfügte der Kapitalismus über Ressourcen, die es ihm ermöglichen, seine tief sitzenden Widersprüche dauerhaft zu regulieren und zu lösen. Doch die unbestreitbare Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus gründet in dem, was zugleich seine destruktive Seite ausmacht, in dem Profitstreben, welches gebietet, die Betriebsweise und die internen und externen Produktionsbedingungen stets so zu organisieren, dass Gewinnmaximierung unter Konkurrenzbedingungen sichergestellt ist. Das geschieht unter Verhältnissen, die zufolge ihres antagonistischen Charakters dazu tendieren, sich selbst einzuschränken, ihre Voraussetzungen zu labilisieren. Der Kapitalismus kann seine Ziele nur um den Preis der Gefährdung menschlicher Existenz überhaupt erreichen, so dass seine Adaptionsfähigkeit relativ, begrenzt ist. Ohne Ausbeutung der lebendigen Arbeit können kapitalistische Betriebe auch unter neuen technologischen Anforderungen sich im Konkurrenzkampf nicht behaupten. Die damit verknüpften sozialen Folgen, wie Lohnreduzierung, Massenarbeitslosigkeit, Wirtschaftskrisen, stagnierende Kaufkraft schmälern die Absatzchancen der in erweitertem Umfang erzeugten Produkte, so dass sich die Bedingungen des Kapitalismus auf Dauer gegen ihn selbst kehren. Aus dem Widerspruch, nicht primär für die Bedürfnisse der Konsumenten, der Massen, sondern für den Profit weniger zu produzieren, kann der Kapitalismus nicht ausbrechen. In abstrakt verkürzter Redeweise ist dies der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.[7]

Die Zunahme der Arbeitslosigkeit mit ihren verheerenden sozialen Folgen wird in den entwickelten Ländern durch Sozialsysteme gemildert, wenn auch nicht aufgehoben. Auf Grund der Vielfalt von Eigentums- und Konkurrenzformen ist das kapitalistische System flexibel, anpassungsfähig.[8] Dem Staat gelingt es zum Teil, den Reproduktionsprozess des Kapitals günstig für die Wirtschaftsentwicklung und damit für die Situation der lohn- und sozialabhängigen Schichten zu beeinflussen. Die „mikroelektronische Revolution“ eröffnet der Entwicklungsfähigkeit des Kapitals neue Horizonte. Sie beinhaltet eine nachhaltige Steigerung der Produktivkraft der lebendigen Arbeit und verändert tendenziell den Charakter der Lohnarbeit von der Produktion materieller Güter hin zur Produktion von Wissen und Information.[9] Arbeit wird mehr und mehr vom industriellen zum Dienstleistungssektor übergeleitet. Zugleich werden dem Profitprinzip neue Betätigungsfelder erschlossen, so auf den Gebieten der sozialen Reproduktion und der Kultur. Insgesamt wächst die Macht des Kapitals, wenn sie auch durch die sozialen Antagonismen fragiler wird: prekäre Beschäftigungsverhältnisse und der Niedriglohnsektor nehmen zu, an die Stelle wohlfahrtsstaatlicher Politik tritt in wachsendem Maße die Nötigung zu privater Absicherung und Individualisierung des Verhältnisses in der und zu der Gesellschaft.

Auf Grund des Zwanges der Konkurrenz, des Strebens nach Maximalprofit und des damit einhergehenden Drucks auf die Beschäftigten vermag das Kapital auf neue Situationen elastisch zu reagieren. Die internationale Vernetzung der Wirtschaft ist ein Element dieser Elastizität, die – relative – Autonomie der Wirtschaftssubjekte ihre Grundlage. Die Entwicklung und Nutzung moderner Wissenschaft und Technik bildet den großen Vorzug der gegenwärtigen Stufe des Kapitalismus. Die soziale Deregulierung schafft neue Gewinnmöglichkeiten, verschärft aber die Labilität des Systems. Die Vergeudung natürlicher Ressourcen steigert die Profitchancen, zerstört aber auf Dauer die materiellen Lebensgrundlagen der menschlichen Gemeinschaft.

Die Überwindung der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, eine Aufgabe von historischer Dimension, kann unter den gegenwärtigen Bedingungen nur mit langem Atem, in kleinen Schritten substantieller Veränderung vor sich gehen. Die Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft liegt nach dem Desaster des „Realsozialismus“ in weiter Ferne, und die jetzt lebenden Menschen können nicht mit der Verheißung eines künftigen goldenen Zeitalters abgespeist werden, sondern dringen mit Recht auf Verbesserungen ihrer wirtschaftlichen und sozialen Situation hier und heute. Etwas Grundlegendes für die Massen des Volkes zu tun, kann u. U. den Wirkungsradius der herrschenden wirtschaftlichen und politischen Mächte begrenzen. Zwar ist der Sozialismus eine vom Kapitalismus grundsätzlich unterschiedene Gesellschaftsform, aber das schließt die Möglichkeit nicht aus, den gegenwärtig bestehenden Verhältnissen durch Einschränkung der Profitherrschaft Züge einer künftigen sozialistischen Gesellschaft aufzuprägen, vor allem hinsichtlich sozialer und materieller Sicherheit des Volkes.

Einschränkung der Vorherrschaft des Profitstrebens bedeutet eine Zweck-Mittel-Verschiebung. Ohne dass die Grundlagen wirtschaftlicher Macht angetastet werden, gelangen die sozialen Bedürfnisse des Volkes stärker als Regelgröße wirtschaftlichen und politischen Handelns zur Geltung. Der Schutz der natürlichen Umwelt – an sich für das Kapital irrelevant – gehört ebenso dazu wie der Ausbau und die Verteidigung der sozialen Sicherungssysteme sowie eine stärkere Mitbeteiligung der Betriebsangehörigen an wirtschaftlichen Entscheidungen, die nicht nur den betrieblichen Gewinn, sondern auch die Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten berühren .

Begrenzte und zeitweilige Verbesserungen der wirtschaftlichen Lage der Lohn- und Sozialabhängigen sind ein (relativer) Fortschritt und sollten nicht um dereinstiger grundlegender Veränderungen willen – so sie denn erreicht werden – gering geschätzt werden. Eine Wirtschaftspolitik, die derartige Ziele anstrebt, liegt im gesamtgesellschaftlichen Interesse. Ausdehnung des öffentlichen Sektors, Einschränkung der Privatwirtschaft, gemischtes Eigentum sind positiv zu bewertende Fakten, die der Staat unter Druck des Volkes veranlassen oder begünstigen sollte. Einengung der Kapitalherrschaft setzt Machtpositionen des Volkes – parlamentarische und außerparlamentarische – voraus: im Selbstlauf oder als Geschenk „von oben“ wird es kaum grundlegende Verbesserungen der Lage des Volkes geben.

Eine zukunftsfähige Produktions-, Aneignungs- und Lebensweise muss wirtschaftlich leistungsfähig, naturverträglich und sozial gerecht sein. Das erfordert die Lösung des Widerspruchs zwischen betriebswirtschaftlicher Rationalität und gesamtwirtschaftlicher Irrationalität (Vergeudung sachlicher und menschlicher Ressourcen). Wenn Marktimpulse und -instrumente mit gesellschaftlicher Steuerung und Kontrolle ökonomischer Prozesse verbunden werden, wird dem Streben nach Gewinn um seiner selbst willen entgegengewirkt. Erfahrungen zeigen, dass es möglich ist, ohne Verlust ökonomischer Effizienz die Kapitalvorherrschaft mit ökonomisch-politischen Maßnahmen einzuschränken.[10]

Ein Ausweg

Die Überwindung der systemimmanenten Widersprüche und Konflikte der kapitalistischen Gesellschaftsformation ist die historische Funktion, der geschichtliche Sinn des Sozialismus. Er ist seinem Wesen und Anspruch nach auf die grundlegende und dauerhafte Sicherung des materiellen, kulturell-geistigen und politischen Wohlergehens der Massen des Volkes gerichtet. Das betrifft vorrangig die materiell und ideell produzierenden Klassen und Schichten, deren Existenzbedingungen und individuelle Daseinschancen den Wechselfällen der vom Kapital beherrschten Gesellschaft entzogen werden. Doch ist die konzeptionelle Fassung des Sozialismus ein mehr oder minder offenes und strittiges Problem. Daran trägt auch das Scheitern des „Realsozialismus“ Schuld, der kein überzeugendes Gegenbild des Kapitalismus zu liefern vermochte. Ein tragfähiges Konzept des Sozialismus muss die Erfahrungen und Ergebnisse sowohl des Staatssozialismus als auch die Leistungen und Defizite des Kapitalismus in Geschichte und Gegenwart einbeziehen. Da es sich um einen gedanklichen, wenn auch mit Realität vermittelten Entwurf handelt, besitzt es Züge eines offenen, mit Idealisierungen arbeitenden Projekts.[11] Maßstab ist die vom historischen Materialismus gestellte und beantwortete Frage, ob eine Gesellschaft wesentlich durch die ökonomische Basis – die Eigentums- und Austauschverhältnisse – oder durch den politischen und kulturell-geistigen Überbau geprägt wird. Nach allen geschichtlichen Erfahrungen bedingt die ökonomische Struktur weitgehend den Charakter einer Gesellschaft mit Einschluss ihres politischen und geistigen Profils. Ideologie und Politik haben – gerade auch als Kritik der Verhältnisse – wesentliche Bedeutung für den Charakter und die Geschichte einer Gesellschaft, sie sind inhaltlich mit den ökonomischen Bedingungen verknüpft und die ökonomischen Konflikte kehren in den politischen und geistigen Verhältnissen wieder.

Ein schwieriges Problem gesellschaftlicher Neuformierung ist die Gestaltung der Eigentumsverhältnisse mit dem Ziel, die Profitherrschaft zu überwinden, zugleich aber die Eigenaktivität und ökonomisch-juristische Selbständigkeit der Wirtschaftseinheiten unterschiedlicher Eigentumsformen zu gewährleisten. Das kann auch als das Verhältnis von (zentralem) Plan und (dezentralem) Markt gefasst werden, wobei der Plan kein starres Schema ist, sondern Rahmensetzungen beinhaltet, und der Markt der Kontrolle und Regulierung bedarf, ohne seine Rolle als Areal des Wettbewerbs um effektivste Produktions- und Konsumtionsbedingungen zu verlieren. Eigentum – auch öffentliches Eigentum, das den Schwerpunkt bilden sollte – hat die Tendenz, sich erweitert zu reproduzieren, was zu Konflikten führen kann, die die sozialistische Gesellschaft zu kanalisieren bemüht sein wird – jedenfalls soweit man das auf Grund der Erfahrungen des Staatssozialismus voraussehen kann. Wettbewerb als ökonomisches Verhalten schlägt auf das politische und kulturell-geistige Leben durch, in dem Autonomie und Freiheit der Akteure unverzichtbar sind.

Nach den Vorstellungen von Marx und Engels ist der Sozialismus eine Assoziation frei vereinigter Individuen, die ihren ökonomischen, sozialen und politischen Lebensprozess mit Gesamtwillen nach Gesamtplan gestalten. Der letzte Gesichtspunkt ist auslegungsoffen, er kann bürokratisch-zentralistisch oder demokratisch-pluralistisch verstanden werden. Marx und Engels waren Gegner des zentralistischen wie jedes Bürokratismus. Demokratie und Freiheit im Sozialismus gründen darin, dass das abstrakte „Gesamtsubjekt“ sozialistische Gesellschaft sich aus gemeinschaftlichen und individuellen „Teil-Subjekten“ organisiert, dass den ökonomischen, politischen und kulturellen Akteuren Autonomie, selbst bestimmtes Denken und Handeln zugemessen wird – mit den Widersprüchen und Konflikten, die darin eingeschlossen sind. Gesamtwille und Gesamtplan sind demokratisch ausgehandelte Verhaltenssteuerungen, die zwar administrative Seiten besitzen, den Handelnden jedoch hinreichend eigene Entscheidungen einräumen. Das gilt in aufsteigender Linie von der Ökonomie bis zum politischen und geistigen Überbau, schließt den freien Austausch von Ideen, Meinungen, Standpunkten in einem ungehinderten öffentlichen Diskurs ein. Freiheit muss auch die Freiheit der Kritik am Sozialismus im Einzelnen und im Allgemeinen ermöglichen.

Ökonomische Basis der demokratisch-sozialistischen Gesellschaft ist die Anerkennung von Ware, Wert und Wertgesetz in marktwirtschaftlichen Austauschverhältnissen.[12] Funktionierende Märkte ermöglichen schnelle Rückkopplung vom Verbraucher zum Produzenten, stimulieren Produktivitätssteigerungen und zwingen zu sparsamem Umgang mit kostenträchtigen Ressourcen, sie sind Quelle von technologischen Neuerungen, die eine zentralistisch-adminstrative Planung nicht vorhersehen kann.[13] Das sind die guten Seiten des Marktes. Seine schlechten Seiten bestehen darin, dass er ein Verdrängungskampf ist, in dem der Stärkere den Schwächeren beseitigt, mit dem Resultat von Firmenzusammenbrüchen, Arbeitsplatzvernichtung und -verlagerung, massenhafter Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrisen. Unter kapitalistischen Bedingungen führt im Konkurrenzkampf sogar gestiegene Wirtschaftsmacht – höhere Rendite – zur Vernichtung von Arbeitsplätzen, weil sie variables Kapital und damit Kostenfaktor sind. In der sozialistischen Gesellschaft kann das nur verhindert werden mit einem hinreichend starken gesellschaftlichen Eigentum an Produktions- und Finanzmitteln (gesamtstaatlich, genossenschaftlich, kommunal), in dem der Gewinn mit Sozialpflichtigkeit verbunden ist und die Gesellschaft über den Staat direkt in den Wirtschaftablauf eingreift, um soziale Interessen zu bedienen. Weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens werden dem blinden Wirken der Marktkräfte entzogen: Bildung, Gesundheit, Naturerhaltung u. a. rationelle Elemente der Planung werden mit solchen der Marktwirtschaft verbunden und die Eigentumsverhältnisse so gestaltet, dass Initiativen im privaten wie im öffentlichen Raum sich frei entfalten können.

Sozialismus steht quer zum Kapitalismus, ist aber mit ihm geschichtlich und strukturell verbunden, baut auf ihm in Form von Negation und Position dialektisch auf. Schritte zum Sozialismus sind von objektiven und subjektiven Faktoren abhängig. Es muss eine konkrete gesellschaftlich-historische Situation, ein Komplex von Widersprüchen und Kollisionen vorliegen, der größeren Gruppen der Bevölkerung den Sozialismus als eine rationelle Alternative zum Kapitalismus erscheinen lässt – wofür gegenwärtig kaum Aussichten bestehen –, und es muss gesellschaftliche Kräfte, historische Subjekte geben, die diesen Weg zu beschreiten bereit und entschlossen sind. Offen ist die Form des Übergangs: allmählich, reformerisch oder plötzlich, revolutionär. Kernfrage ist die Inbesitznahme der politischen und ökonomischen Macht. Eine schlagartige Umwandlung der Gesellschaft mit ihren vielfältigen Verhältnissen, Institutionen und Ideologien ist unmöglich; die Umwälzung erfordert Jahrzehnte. Allmählichkeit ist so oder so die einzig reale Form der Abschaffung des Kapitalismus, was den Unterschied zwischen Reform und Revolution jedoch nicht außer Geltung setzt.

Subjekte der Erneuerung der Gesellschaft in Richtung auf den Sozialismus existieren in den vom Kapital besonders nachteilig betroffenen Klassen und Schichten der werktätigen Bevölkerung, vor allem der Arbeiterklasse, was nicht bedeutet, dass bei ihnen von vornherein ein Bewusstsein dieser historischen Aufgabe vorhanden ist. Illusionär wäre die Annahme, ein grundlegender Umbau der Gesellschaft sei im Wege eines allgemeinen Konsenses herzustellen. Die Inhaber ökonomischer und politischer Macht werden keinesfalls durch Argumente ihre Pfründe aufgeben, sondern mit allen Mitteln um deren Erhalt kämpfen, wobei sie sich auf große Teile der Bevölkerung stützen können. Die Überwindung des Kapitalismus ist nur mittels Klassenkampf möglich, und das gilt auch für eine schrittweise Aufhebung der herrschenden ökonomischen und politischen Verhältnisse, namentlich des Eigentums an Produktions- und Finanzmitteln. Dennoch sind Wege und Schritte, die das Leben des Volkes erleichtern, zu begrüßen und zu unterstützen.

Eine nicht genutzte Chance

Die Entstehung und Entwicklung der DDR ist aus den konkret-historischen inneren und äußeren Bedingungen des im Ergebnis des II. Weltkrieges geteilten Deutschland zu erklären. Nachdem mit dem Faschismus auch die Macht des deutschen Kapitals – die mit jenem in einem freilich stark vermittelten Zusammenhang stand – am Boden lag, ergab sich im Osten Deutschlands die Chance, einen nicht-kapitalistischen Entwicklungsweg einzuschlagen. Er wurde von der sowjetischen Besatzungsmacht gefördert, mit positiven, aber auch negativen Konsequenzen. Das sowjetische Sozialismus-Modell, das den späteren Weg der DDR bestimmte, erwies sich als nicht geeignet für eine demokratische Gestaltung des Sozialismus. Subjektive Voraussetzung für den Aufbruch zu einem sozialistischen Weg war Bereitschaft im Volke, ihn zu gehen, sowie das Vorhandensein organisierter Kräfte, vornehmlich aus der Arbeiterklasse, es dabei zu führen. Diese Bedingungen waren bis zu einem gewissen Grade gegeben.

Die Beurteilung dieses geschichtlichen Prozesses hängt vom Standpunkt des Beobachters ab. Wer den Kapitalismus für die einzig effektive Gesellschaftsform hält, wird im Weg der DDR einen von außen, mit Unterstützung von innen, aufgezwungenen Irrweg sehen. Wer im Sozialismus eine Zukunftschance der Menschheit erblickt, wird ihn als einen historisch gerechtfertigten, wenn auch stark kritisch zu betrachtenden Versuch umfassender Neuformierung der Gesellschaft beurteilen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft einen langen Zeitraum erfordert und in der DDR allenfalls von einem Frühsozialismus die Rede sein kann.

Die Entwicklung der DDR ist vom marxistischen Standpunkt aus an den oben entwickelten Kriterien des demokratischen Sozialismus zu prüfen. Freilich ist zu bedenken, dass gesellschaftliche Prozesse sich nicht nach abstrakten Schemata richten, sondern von realen Bedingungen abhängen, insbesondere von dem durch Interessen und Ideologie geleiteten Handeln gesellschaftlicher Kräfte – Klassen, Klassenfraktionen, soziale Bewegungen, politische Gruppen. Die Einstellungen der Individuen, meist durch Traditionen und familiäre Milieus beeinflusst, spielen eine wesentliche Rolle. Jeder Versuch, auf dem Weg in eine sozialistische Gesellschaft erfolgreich voranzukommen, muss diese Vielfalt objektiver und subjektiver Voraussetzungen berücksichtigen, vor allem aber dem Prinzip verpflichtet sein, eine Gesellschaft für das Volk, mit dem Volk, durch das Volk zu schaffen. Auf diesem Feld hatte die DDR wesentliche Defekte.

Die Macht eignete sich eine Politikerkaste an, die sie nach eigenen Vorstellungen, ohne ständige Rücksprache mit dem Volk, den Staatsbürgern, gebrauchte. Gewiss handelten sie in dem Glauben, das Beste für das Volk, für den Sozialismus zu tun, wenn sie die politische Macht mit allen, vor allem repressiven Mitteln zu erhalten und zu stabilisieren trachteten. Sie in den Anfangsetappen mit den Institutionen und Modalitäten der bürgerlichen Demokratie zu gestalten, hätte den Sozialismusversuch scheitern lassen, da bei demokratischen Wahlen die politische Führung, die nicht genügend Rückhalt im Volke hatte, abgewählt worden wäre – wie es ja später geschah. Es war ein verhängnisvoller Widerspruch, die Macht antikapitalistischer Kräfte zu errichten, aber das Volk an diesem Vorgang nicht hinreichend mit eigener Stimme und Verantwortung teilhaben zu lassen. Notwendig wäre eine konsequente Orientierung auf Mitberaten, Mitentscheiden der Bürger bei öffentlicher Rechenschaftslegung der führenden Funktionäre, ein repressionsfreier Umgang der Macht mit den Bürgern über Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung gewesen. Aber dies fand nur in Ansätzen statt.

In der DDR wirkten zwei Tendenzen neben- und gegeneinander. Einmal – neben reinen Fachdebatten – konstruktive Diskussionen zu theoretischen und praktischen Fragen gesellschaftspolitischer und weltanschaulich-ideologischer Art, vorwiegend in unteren Gesellschaftsbereichen, in denen Gängelei und Reglementierung häufig in den Hintergrund traten. Zum anderen die restriktive und repressive Steuerung des geistigen Lebens durch politische Funktionäre, die damit die Verfassung der DDR brachen, in der dergleichen nicht vorgesehen war. Im Volke existierten, wie überall, unterschiedliche Verhaltenstypen. Verbreitet war die Hinnahme der Verhältnisse ohne kritische Vorbehalte, eine Haltung des sich Anpassens und der freiwilligen Unterordnung. Das führte oft zu gespaltenen Persönlichkeiten, indem mancher öffentlich eine andere Meinung vertrat als privat. Viele mit dem Sozialismus verbundene Menschen meinten, die Widrigkeiten der Gesellschaft um der Sicherung des Sozialismus willen hinnehmen zu müssen und hofften, der Sozialismus werde seine Gebrechen künftig überwinden. Nicht wenige traten gegen den Sozialismus auf und zahlten dafür mit harten Verfolgungen, wobei viel Unrecht am Werke war.

Einer verbreiteten Meinung zufolge wurzelte die Fehlentwicklung des „Realsozialismus“ linear-kausal in den objektiven Strukturen und nicht in subjektiven Faktoren. Das ist eine verengte, undialektische Sicht, die die Wechselwirkung von Objektivem und Subjektivem ausklammert und nicht berücksichtigt, dass soziale Strukturen Formen – Ausgangspunkt und Resultat – des Handelns von Menschen sind.[14] Defizite der objektiven Strukturen bestanden in der Wirtschaft in kaum ausgeprägten marktwirtschaftlichen Verhältnissen.[15] Eine zentralistische Steuerung ökonomischer Prozesse ist, wie sich erwies, zum Misserfolg verurteilt, da die Bedürfnisse der Verbraucher im produktiven und konsumtiven Bereich nicht von oben festgelegt werden können. Die administrative Leitung der Wirtschaft hatte den positiven Effekt, dass alle Arbeitsfähigen einen Arbeitsplatz besaßen, dass es keine Arbeitslosigkeit gab. Der negative Effekt war das Vorhandensein ständigen Mangels in Produktion und Konsumtion – die Mangelwirtschaft –, Folge der Verletzung des Wertgesetzes und eine Belastung des Lebens der Menschen. Die Fehlorientierung der Wirtschaft wurde von sachkundigen Ökonomen kritisch moniert, aber ihre auf marktwirtschaftliche Öffnung zielenden Vorschläge wurden von der Führung barsch zurückgewiesen, ihre Autoren gemaßregelt. Wirtschaft und Gesellschaft der DDR wurden autoritär wie eine kapitalistische Fabrik geleitet – der Krebsschaden dieser Gesellschaft. Wissenschaftler und Praktiker machten Vorschläge, den Staat schrittweise in eine rechtsstaatliche Ordnung, die den Zielen eines demokratischen Sozialismus entsprochen hätte, zu überführen. Auch diese Ideen verfielen der Ablehnung. Es fanden faktisch Auseinandersetzungen zwischen Anhängern eines demokratischen und eines autoritären Sozialismus statt. Die letzteren besaßen die Macht, doch ging der Druck der objektiven und subjektiven Bedingungen in die Richtung einer demokratischen Öffnung der Gesellschaft, die durch die „Wiedervereinigung“ verhindert wurde.

Auf dem Gebiet der sozialen Standards kamen die Vorzüge des Sozialismus eher zum Tragen. In der DDR wurden soziale Leistungen für die Bevölkerung erbracht, die den gegenwärtig in Deutschland herrschenden Verhältnissen überlegen waren: Bildung für alle, Kinderfreundlichkeit, Familienförderung, Gesundheitsfürsorge in Stadt und Land, Arbeitsplatzsicherheit, Gleichstellung von Mann und Frau und manches andere. Dass die ökonomischen Voraussetzungen z. T. nicht ausreichten, steht freilich auf einem anderen Blatt. Auch das Friedensengagement der DDR verdient Hervorhebung, die Verurteilung von Krieg und Aggression sowie der Missachtung fremder Völker. Damit kontrastierte freilich das Herausstreichen bewaffneter Verteidigung des Sozialismus, das namentlich in der Volksbildung martialische Züge annahm.

Die häufig zu hörende Redeweise von den zwei Diktaturen auf deutschem Boden, die zur Verteufelung des Sozialismus dienen soll, ist theoretisch konfus, politisch infam, sie wirft Gegensätzliches zusammen. Die NS-Diktatur war angetreten mit den offen propagierten Zielen der Vernichtung der „jüdischen Rasse“ und der Eroberung angeblich fehlenden Lebensraumes im Osten. Der NS-Staat war eine blutige terroristische Gewaltherrschaft, die den Tod von 50 Millionen Menschen zu verantworten hat. Die DDR war als antifaschistisch-demokratische Ordnung mit dem erklärten Willen angetreten, die Wurzeln des Nazismus durch Entmachtung des Großkapitals und der Junker auszureißen – eine humanistische Zielsetzung. Die NS-Diktatur blieb dem Gesetz, nach dem sie angetreten war, bis zum schreckensvollen Ende treu; sie war von Anfang bis Ende ein verbrecherisches Regime. Die DDR suchte ihren humanistischen Ansatz in der Folge durch Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft zu verwirklichen. Das misslang aus inneren und äußeren Gründen, woran die ausgebliebene Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft wesentlichen Anteil hatte. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten nach 1989 bedeutete sozialökonomisch die Restauration des Kapitalismus in der DDR – ein Rückschritt. Sozialpolitisch bedeutete sie die Herstellung der liberalen Demokratie im Osten – ein Fortschritt, aber gebrochen durch die Macht des Großkapitals, die der Demokratie Grenzen setzt.

[1] R. Hanke, Das Ende der Gleichheit oder Warum der Kapitalismus mehr Wettbewerb braucht, Frankfurt a. M. 2000, S. 27.

[2] K. Marx, F. Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. 1, Moskau 1950, S. 28.

[3] G. Kneer u.a.(Hg.), Klassische Gesellschaftsbegriffe der Soziologie, München 2001, S. 123.

[4] Siehe N. Klein, Über Zäune und Mauern, Frankfurt/N. Y. 2003.

[5] U. Beck, in: Was steht uns bevor? Mutmaßungen über das 21. Jahrhundert, Berlin 1999, S. 160.

[6] Th. W. Adorno: Einleitung in die Soziologie, Frankfurt a. M. 2003, S. 188.

[7] Vgl. G. Fülberth, G Strich – Kleine Geschichte des Kapitalismus, Köln 2005, S. 298.

[8] J. Leibiger, Zwischen Marx und Keynes. Einmal hin und zurück, in: Z. Nr. 65 (März 2006), S. 123f.

[9] F. Deppe, Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung im 21. Jahrhundert, in: Z. Nr. 54 (Juni 2003) S. 80f.

[10] Zu Maßnahmen in dieser Richtung vgl. Berichte in Z. Nr. 57 (März 2004), S. 183. H.-J. Bontrup, Arbeit, Kapital und Staat. Plädoyer für eine demokratische Wirtschaft, Köln 2005, S. 367f.

[11] Vgl. G. Stiehler, Sozialismus – ein aporetisches Projekt, in: Z. Nr. 49 (März 2002), S. 128f.

[12] Vgl. ebd. S. 134.

[13] Siehe S. Wagenknecht, Die Mythen der Modernisierer, Querfurt 2001, S. 54f.

[14] G.Stiehler, Emanzipative Chancen in repressiven Strukturen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7/92, S. 631f. Ders., Macht und Grenzen des Subjekts, Köln 2006, S. 54f.

[15] Siehe S. Wenzel, Erfahrungen aus dem ersten Sozialismusversuch, in: Utopie kreativ Nr. 133 (Nov. 2001), S. 1024.