Energie, Rohstoffhunger, Geostrategie

Der venezolanische Rentensozialismus

Zum Problem der Erdölabhängigkeit Venezuelas

September 2007

Der Transformationsprozess Venezuelas wird auch nach der erneuten Wiederwahl von Hugo Chávez zum Präsidenten im Dezember 2006 in den internationalen Medien und wissenschaftlichen Beiträgen breit diskutiert. Mit der „bolivarischen Revolution“ in Venezuela wird die Hoffnung bzw. die Angst verbunden, es könnte zumindest in Lateinamerika eine Alternative zur neoliberalen Hegemonie der 1990er-Jahre entstehen. Denn der bolivarische Prozess fordert die neoliberale Hegemonie heraus und setzt der kapitalistischen Verwertungslogik Grenzen. Ein Bereich scheint bei den bolivarischen Akteuren, wie auch bei ihren Kritikern auf nationaler und internationaler Ebene eine besondere Rolle zu spielen und Auslöser für Konflikte zu sein: Das Erdöl. Dabei spielen vor allem die Maßnahmen der venezolanischen Regierung zur Veränderung der Besitzverhältnisse auf den Erdölfeldern und die Beschränkung des Zugangs und der Gewinnmarge der transnationalen Konzerne in der venezolanischen Erdölproduktion eine große Rolle. Venezuela ist der fünftgrößte Erdölexporteur der Welt und die USA beziehen ungefähr 13Prozent ihrer Erdölimporte aus dem südamerikanischen Land. Daher kommt Venezuela auch eine besondere Bedeutung für den globalen Kapitalismus zu.

Fernziel der venezolanischen Regierung ist der Aufbau des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Auch dabei ist die Ressource Erdöl und die Frage, wer über sie verfügen kann, von zentraler Bedeutung. Doch diese Problematik stellt sich in Venezuela nicht erst seit der „bolivarischen Revolution“. Die venezolanische Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts zeichnet sich durch den Konflikt um die Aneignung der Erdölrente aus. Aber ihre Einnahme durch den venezolanischen Staat hat ambivalente (ökonomische) Auswirkungen auf die venezolanische (Unter-)Entwicklung, da die Inbesitznahme von Renten unabhängig von eigenen Wirtschaftsaktivitäten des Rentenerwerbers erfolgt (Schmid 1997: 29).

Bedeutung des Erdöls

Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist der Erdölexport zur Haupteinnahmequelle des venezolanischen Staates geworden. Im Jahr 1925 überstiegen die Erdölexporte erstmals die traditionellen Agrarexporte und ihr Anteil am Gesamtexport lag zwischen 1930 und 1980 zwischen 80 und 90 Prozent (Boeckh 1997: 286). Die Abhängigkeit von den Einnahmen aus dem Erdölexport hat sich auch unter Chávez nicht wesentlich verringert: Drei Viertel der Exporte entfallen auf den Bereich Erdöl und ein Drittel des Bruttoinlandprodukts wird direkt oder indirekt aus der Erdölproduktion gewonnen (Energy Information Administration 2006a). Es könnte folglich argumentiert werden, dass solange der Erdölpreis, wie in der gegenwärtigen Situation, hoch ist, erdölexportierende Schwellen- und Entwicklungsländer davon profitieren und Industrienationen aber auch Entwicklungsländer, die kein Erdöl besitzen, daran Schaden nehmen. Allerdings ist für erdölreiche Staaten der Besitz an großen Erdölvorkommen nicht immer nur von Vorteil. Er führt oftmals zu massiven Konflikten um dessen Aneignung und transformiert sich nicht automatisch in allgemeine Entwicklungsfortschritte. Stattdessen kommt es häufig zu einer partiellen Modernisierung dieser Länder, die aber meist nur die für die Erdölausbeutung notwendige Struktur erfasst. Der größere Teil der Bevölkerung bleibt jedoch marginalisiert und aus der Gesellschaft ausgeschlossen.

Daher ist auch ein hoher Erdölpreis für Venezuelas „bolivarische Revolution“ als ambivalent zu bewerten. Einerseits hat sich der Handlungsspielraum der Akteure der „bolivarischen Revolution“ bei ihrem Versuch die Gesellschaft umzugestalten durch den enormen Anstieg der Erdölpreise ab 2002/2003 signifikant vergrößert. Dies ermöglicht erst die Vertiefung und Konsolidierung der „bolivarischen Revolution“. Andererseits schränkt gerade die Abhängigkeit vom Erdöl die ökonomische Entwicklung Venezuelas nicht nur aktuell, sondern seit Beginn seiner Ausbeutung auch erheblich ein. Ein hoher Erdölpreis vertieft oftmals die Abhängigkeit vom Erdöl und den Schwankungen des Weltmarktes. Andere Wirtschaftsbereiche werden häufig nur durch staatliche Subventionen, die wiederum aus den Erdöleinnahmen generiert werden, aufgebaut. Die Wirtschaftsaktivitäten beruhen also auf der Verteilung der Ölrente durch den Staat. Zur Charakterisierung des venezolanisches Systems wurde häufig von einem Rentenkapitalismus gesprochen: Dieser Kapitalismus funktioniert – anders als andere kapitalistischen Systeme – aufgrund der Einkommen die er aus dem Ausland bezieht und nicht angesichts der eigenen Produktivität (Grupo Interdisciplinario 1999). Durch das massive Einströmen der Erdöldevisen kam es jedoch in Venezuela zu einer Überbewertung der nationalen Währung (Bolívar), was wiederum die nationale Produktion stark verteuerte, Importe massiv verbilligte und venezolanische Exporte (das Erdöl ausgenommen) auf dem Weltmarkt verteuerte. Dies führte zu einer Vertiefung der Abhängigkeit vom Erdölexport und zu einem defizitären Aufbau der nationalen Industrie und zu einer sehr starken Importabhängigkeit. Die starke Abhängigkeit von Importen scheint auch der Grund für die weiterhin bestehende künstlich aufrechtgehaltende Überbewertung des Bolívar zu sein.

Die Geschichte der Erdölausbeutung

Zu Beginn der venezolanischen Erdölausbeutung am Anfang des 20. Jahrhunderts konnten die internationalen Konzerne gegen ein Tribut an den damaligen Herrscher Juan Vincente Gómez(1908-1935) und seine soziale Basis der Grundeigentümer fast den gesamten Profit aus der Erdölausbeutung ziehen. Zwar kam es seit Mitte der 1930er Jahre zu einer verbesserten Position des venezolanischen Staates durch die weltweit gestiegene Nachfrage nach Erdöl und dem Druck den die verschiedenen im Aufstieg begriffenen Klassen auf den Staat ausübten. Jedoch kam der venezolanische Staat bis zum Jahr 1943 nicht über eine Gewinnbeteiligung von 20 Prozent hinaus (Mommer, D. 1977: 76). Der niedrige Anteil des Staates an den Erdöleinnahmen muss vor allem unter einem Aspekt betrachtet werden: Im Gegensatz zu den USA benutzte Venezuela das geförderte Erdöl nicht dafür, schon vorhandene Industrien zu stärken, deren Dynamik dann dazu beigetragen hätte, die öffentlichen Einnahmen zu erhöhen, da es diese modernen Industrien in Venezuela nicht gab. Der größte Teil des Erdöls wurde in die USA oder nach Europa exportiert und die Produktion wurde ausschließlich von ausländischen Unternehmen betrieben. Quasi alle Produktionsmittel und anfänglich auch die Arbeitskräfte wurden importiert. Demgemäß erhielt die venezolanische Erdölindustrie ihren besonderen Charakter, nämlich den einer Enklave (Mommer, D. 1977: 82). Damit ist die Isolierung des Erdölexportsektors vom restlichen Teil der Wirtschaft gemeint. Zugleich wurden auch traditionelle Exportsektoren, wie beispielsweise Kaffe und Kakao, durch den Erdölsektor ersetzt und verloren im Zuge der Weltwirtschaftskrise und später durch die Überbewertung der Landeswährung Bolívar endgültig an Bedeutung.

Der Grundeigentümer der Erdölfelder (also im Falle Venezuelas der rohstoffexportierende Staat) kann, vorausgesetzt, dass er diese Rohstoffe nicht für seine eigene Industrie verwerten kann, sondern den größten Teil exportiert, eine – wie Marx (1961, Bd. III: 796ff.) sie nannte – absolute Grundrente (Royalty) beanspruchen. Diese erwirkt auf internationaler Ebene „einen Abzug am in den entwickelten Ländern produzierten Mehrwert.“ (Melcher 2005: 507; vgl. auch Mommer 1983; Mommer 2002) Die internationale absolute Rente basiert auf der Verstaatlichung von Grund und Boden. Wenn die Erdölfelder eines Landes als nationales Eigentum gelten, kann der Staat auf die exportierte Produktion eine Grundrente erheben. „Das heißt also, das Staatseigentum kann hier inhaltlich in sein Gegenteil umschlagen und sich im internationalen Kontext ganz analog zu Privateigentum im nationalen Kontext verhalten.“ (Mommer 1983: 4) Die absolute Grundrente wurde in Venezuela erst sukzessive nach der Gründung der OPEC im Jahre 1960 durch den Staat angeeignet. Die OPEC entwickelte ein Konzept der speziellen Besteuerung, das sich in eine allgemeine absolute Grundrente transformierte (Melcher 2005: 507f.). Mohssen Massarat (1974: 250) konstatiert bezüglich der „OPEC-Revolution“ (Mommer 2002: 177): „Dem Wachstum der kapitalistischen Produktion in den Zentren der Kapitalakkumulation werden nun erstens dadurch Grenzen gesetzt, daß die Konkurrenz der Kapitale, die günstigere Naturbasis in den unterentwickelten Ländern für die Rohstoffproduktion anzuwenden, eingeschränkt wird, und zweitens dadurch, dass die Staaten der rohstoffreichen Gesellschaften beginnen, den Preis für ihre Rohstoffe zu fordern, der deren wirklichem Wert auch entspricht.“

Als weiterer Höhepunkt im Konflikt zwischen venezolanischem Staat und den transnationalen Konzernen kann die Verstaatlichung der Erdölkonzerne 1976 betrachtet werden. Allerdings führten die Konflikte um das Erdöl, die vor der Verstaatlichung der Erdölindustrie zwischen venezolanischem Staat als Eigentümer der Erdölfelder und den transnationalen Konzernen als privaten Nutzern geführt worden waren, nach der Nationalisierung zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Staat und der Managerelite des staatlichen Erdölkonzerns Petróleos de Venezuela, Sociedad Anónima (PDVSA). PDVSA entwickelte sich zu einem Staat im Staate[1] und die Führungsriege dieses Konzerns bildete nach der Nationalisierung der transnationalen Konzerne quasi eine Brückenkopffunktion zum transnationalen Kapital. Im Zuge der neoliberalen Umstrukturierung in den 1980er-Jahren übernahmen Technokraten die Vermittlung zwischen den peripheren Nationalstaaten und den transnationalen Organismen. Die Ideologie dieser Spezialisten ist eine Mischung aus einer meritokratischen Fokussierung und einem neoliberalem Kosmopolitismus. Die Besonderheit dieser Schicht ergibt sich daraus, dass sie auf der nationalen Ebene arbeitet, aber transnational denkt (López Maya/Medina 2003: 91), so auch in der Führungsetage von PDVSA. Zum Teil mag das auch daran gelegen haben, dass das Management nach der Nationalisierung der transnationalen Konzerne das gleiche blieb und daher die Interessen der transnationalen Firmen teilte, für die es viele Jahre gearbeitet hatte (Mommer 2003:131). Die Managerelite der staatlichen Erdölfirma formierte sich auch nach der Nationalisierung in einer ausländischen Enklave und hatte ein großes Misstrauen gegenüber dem „chaotischen“ und „rentistischen“ Charakter des venezolanischen Staates.

Die Führungsetage begann ihre „subversive Strategie“ (ebd.: 131) im Jahr 1983 zu entwickeln. Diese mündete im Zuge der neoliberalen Umstrukturierungen in einer erneuten Öffnung der Erdölindustrie für privates Kapital und in Verträgen die erneut den transnationalen Konzernen einen relativ uneingeschränkten Zugang zur Erdölausbeutung gewährten. So verlor die staatliche Firma an einigen Erdölfeldern ihren Mehrheitsanteil[2], die transnationalen Unternehmen zahlten teilweise nur halb so viele Steuern und Royalties wie gesetzlich vorgesehen und erhielten Einfluss auf Investitionsentscheidungen und Produktionspläne. Die Manager der nun staatlichen Erdölfirma PDVSA verfolgten außerdem eine Internationalisierungsstrategie. Sie kauften Aktiva im Ausland, um den Gewinn des Konzerns zu schmälern und so die Abgaben an den Staat zu verringern.[3] Die meritokratischen Führungskräfte versuchten gemeinsam mit den Konsumentenländern und transnationalen Konzernen die Rechte des Eigentümers nationaler Ressourcen, des venezolanischen Staates, einzuschränken. Das bedeutet, sie versuchten erfolgreich, die Möglichkeit des venezolanischen Staates zu minimieren, die Rente abzuschöpfen. Die Führungsebene minimierte drastisch die Abgaben des Unternehmens an den Staat: Für jeden Dollar des Bruttoeinkommens bezahlte PDVSA 1981 noch 71 Cent an Rente und Steuern. Im Jahr 2000 waren es nur noch 39 Cent (Mommer 2003: 137). Auch an die Vorgaben der OPEC hielt sich PDVSA in dieser Zeit keineswegs (ebd.: 136). Hierzu passt die die Unterstützung des damaligen PDVSA-Präsidenten für einen Vorschlag, aus der OPEC aus- und in die Internationale Energie Agentur einzutreten. Aber auch im Staatsapparat verschoben sich die Kräfteverhältnisse zugunsten jener, die eine allgemeine Liberalisierung und daher auch eine Liberalisierung der Ölindustrie forderten. Das waren diejenigen, die den „allmächtigen“ Staat entmachten und ihm sein Recht auf die Aneignung der Rente entziehen wollten. So entwickelte sich laut Bernard Mommer erneut eine Form des alten Imperialismus (ebd.: 139), der von innen durch die Technokraten im Staatsapparat und in PDVSA gestützt wurde. Sie hatten daher quasi eine Brückenkopffunktion zum internationalen Kapital. Die Meritocracia spielt eine wichtige Rolle bei den Versuchen, die Chávez-Regierung zu destabilisieren, vor allem bei dem Putschversuch gegen Chávez im Jahr 2002 und dem Erdölstreik im Jahr 2002/2003.

Aneignung und Verteilung der Rente unter Chávez

In seiner ersten Pressekonferenz nach der Wahl im Jahr 1998 fokussierte Präsident Hugo Chávez vor allem auf die Problematik des Erdöls. Er versprach, Venezuela werde sich in Zukunft an die Quoten der OPEC halten und die Regierung werde eine Politik zur Stabilisierung der Preise verfolgen. Zudem stellte er einen Wandel in Bezug auf die Öffnung der Erdölindustrie in Aussicht (Al-Shereidah 2006: 128). Das Erbe, das die neue Regierung übernahm, war eine staatliche Erdölfirma, die durch ihr Internationalisierungsprogramm eine der größten der Welt geworden war. Außerdem war die venezolanische Erdölpolitik auf dem Weg eine der liberalsten zu werden. Die Ölproduktion war durchdrungen von transnationalem Kapital, während der Staat kaum eine Kontrollfunktion, weder über die Finanzen noch über die Produktion, mehr ausübte. Seit Beginn der Amtszeit von Hugo Chávez, war die Wiederaneignung der Kontrolle über die Erdölindustrie einer der wichtigsten Eckpunkte der Regierung. Die folgenden Jahre der bolivarischen Erdölpolitik können in zwei Etappen eingeteilt werden: In der ersten Etappe, welche die ersten drei Jahre der bolivarischen Regierung umfasst (1999-2003), ging es vor allem um die Verbesserung der Beziehungen zur OPEC um die Erdölpreise zu stabilisieren (Al-Shereidah 2006: 144)[4], und so die erneute Aneignung der Grundrente durch den venezolanischen Staat als Eigentümer der Erdölfelder und darum die Kontrolle über die staatliche Erdölfirma PDVSA und die in Venezuela operierenden transnationalen Konzerne zu gewinnen. Die Spielräume für diese Veränderungen waren vor allem durch die weiter bestehende Macht der venezolanischen Oligarchie innerhalb und außerhalb der Ölindustrie und der von ihr errichteten Verflechtung mit transnationalen Konzernen eingeschränkt.

Ausweitung des Staatsanteils an den Erdöleinnahmen

Zentraler Punkt der Reformen im Erdölsektor der Regierung von Hugo Chávez ist das im Jahr 2001 in Kraft getretene Kohlenwasserstoffgesetz.[5] Dieses legte unter anderem eine höhere Rate für Royalties von mindestens 30 Prozent[6] fest (Art. 44), zugleich wurde jedoch die Einkommenssteuer gesenkt, was insgesamt trotzdem zu einer Erhöhung der Abgaben führte (Mommer 2003:141).[7] Außerdem müssen seither alle neuen Verträge mit transnationalen Erdölkonzernen als Joint Ventures abgeschlossen werden, in denen PDVSA Hauptaktionär sein soll.[8]

Mit diesem Gesetz schuf die Regierung Richtlinien, um die Beziehung mit ausländischen Investoren zu regulieren und stoppte die Tendenz zur Privatisierung von PDVSA (Parker 2003: 99). Die Regelung, dass PDVSA immer Hauptaktionär sein sollte, verschaffte dem venezolanischen Staat die Kontrolle über jegliche Entscheidungen in der Erdölindustrie. Allerdings galt diese Regelung anfänglich nur für alle neuen Verträge. Die alten Verträge, waren bis zum Jahr 2005 nicht von diesen Regelungen betroffen.[9]

Dieser neue nationalistische Kurs der bolivarischen Regierung führte allerdings zu Konflikten mit den Vertretern liberaler Vorstellungen auf nationaler wie internationaler Ebene und der traditionell herrschenden Klasse. Heftige Auseinandersetzungen mit der Managerelite von PDVSA aber auch mit Vertretern der traditionellen politischen Parteien, den privaten Medien, dem Unternehmer- und dem Gewerkschaftsdachverband sowie den USA waren die Konsequenz.

Auseinandersetzungen am Beispiel von PDVSA

Die Auseinandersetzungen über den wirtschaftspolitischen Kurs der Regierung erreichten ihren Höhepunkt in den Jahren 2002/2003. Im April 2002 versuchte eine Allianz oppositioneller Kräfte[10] durch einen Militärputsch Chávez seine Amtes zu entheben. Nach drei Tagen konnte Chávez allerdings– aufgrund eines massenhaften Widerstands gegen seine Absetzung – die Amtsgeschäfte erneut aufnehmen. (vgl. Lander/Lopez 2002)[11]

Zum Jahreswechsel 2002/2003 gelang es dem Management von PDVSA in einem zehnwöchigen Streik[12] die Erdölanlagen stillzulegen, was die Erdölfirma in schwere finanzielle und operative Schwierigkeiten brachte und die venezolanische Wirtschaft empfindlich traf. Venezuela verlor durch den Putschversuch im April 2002 und dem im Dezember begonnenen zehnwöchigen Streik bis zu 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und PDVSA erzielte im Jahr 2003 ein Viertel weniger Einnahmen als im Vorjahr (Burchardt 2004: 214). Infolgedessen entließ das Energieministerium 18.756 der Mitarbeiter von PDVSA – viele waren auch führende und mittlere Angestellte – die sich aktiv an dem Streik zum Sturz der Regierung beteiligt hatten (Lander 2004: 16).

Nachdem die Regierung die Kontrolle über PDVSA übernommen hatte, leitete sie weitere Reformen ein. Der damalige PDVSA-Chef Alí Rodriguez erklärte, das Unternehmen würde bis zum Jahr 2007 40 Milliarden Dollar investieren, um das Produktionspotenzial zu erhöhen. Gleichzeitig wurde die Partizipation von ausländischem Kapital vereinfacht und die Struktur der Erdölfirma und ihre Verträge mit ausländischen Konzernen wurden einer Analyse unterzogen. Ziel war es, das Einkommen von PDVSA und damit die Einnahmen des Staates zu steigern. PDVSA sollte als staatliche Firma in den ökonomischen Dienst des Staates gestellt werden (Rodriguez 2004: 56). Deutlich wird dies vor allem dadurch, dass ein Teil der PDVSA-Einkommen direkt den staatlichen Sozialprogrammen zugute kommt (Parker 2005:45).

Von einer zweiten Etappe kann gesprochen werden, nachdem der Ölpreis ab 2003 deutlich anstieg und vor allem nachdem einige Destabilisierungsangriffe der Opposition abgewehrt werden konnten, diese sich durch ihr Vorgehen selbst diskreditierte und ihre Bewegung sich spaltete.[13] Diese Phase zeichnet sich durch einen größeren Handlungsspielraum zur Umsetzung der bolivarischen Maßnahmen aus. In dieser zweiten Periode wurde der Versuch unternommen, die Produktion, die durch den Streik einen historischen Tiefstand erreicht hatte, zu steigern, das Volumen der Erdölausbeutung zu vergrößern und die Verträge mit den ausländischen Konzernen einer Revision zu unterziehen. So ist davon auszugehen, dass gerade der Erdölstreik die „bolivarische Revolution“ gestärkt hat, weil erst durch die Entlassung der oberen und mittleren Angestellten, die als Black Box bekannte Struktur der Erdölfirma aufgebrochen werden konnte. So wurde das Ausmaß der Unterminierung des staatlichen Konzerns erst durch die nach 2003 in Auftrag gegebenen Studien erkannt, da man erst zu diesem Zeitpunkt einen Einblick in die Verträge und Struktur der PDVSA-Tochterfilialen im Ausland bekam. Daher konnten weitere Restrukturierungen wie etwa die Revision der Verträge mit den transnationalen Konzernen vorgenommen werden. Dabei ging es zuerst um Verträge, die in den 1990er-Jahren als Dienstleistungsverträgeabgeschlossen wurden und die als nicht gesetzeskonform mit dem Nationalisierungsgesetz von 1976 eingestuft wurden, da sie den transnationalen Konzernen weitreichendere Rechte gewährten, als rechtlich vorgesehen. Beispielsweise konnten die transnationalen Konzerne das Erdöl vermarkten und über die Produktionspläne mitbestimmen obwohl die Firmen – offiziell nur Dienstleister die das Erdöl für PDVSA aus den Feldern rausholen – nur ein geringes Steueraufkommen hatten.

Im Jahr 2005 wurden diese Dienstleistungsabkommen für illegal erklärt und ein Ende dieser Verträge in einem Zeitraum von einem Jahr angeordnet (PDVSA 2006: 16). In diesem Zeitraum bestand für die transnationalen Firmen die Möglichkeit, ihre Verträge in Joint Ventures zu transformieren, in denen PDVSA zwischen 60 und 70 Prozent Anteile halten sollte und in denen festgelegt wurde, dass diese Konzerne Royalties in Höhe von 30 Prozent zahlen sollten und eine Steuer von 50 Prozent, wie es schon im Kohlenwasserstoffgesetz vom Jahr 2001 festgelegt wurde. Im März des Jahres 2006 wurde das Gesetz über Joint Ventures zwischen PDVSA und den ausländischen Konzernen verabschiedet.[14] Dieses legt fest, dass diese Joint Ventures eine Laufzeit von 20 Jahren haben und die Konzerne zusätzlich zu den 30 Prozent Royalties eine Sondersteuer von 3,3 Prozent zahlen müssen. Die Steuer dient der Unterstützung der sozialen Entwicklung der Gemeinden, in denen diese Firmen das Erdöl ausbeuten.[15] Nur zwei der 18 transnationalen Konzerne, die in Venezuela Dienstleistungsverträge hatten, lehnten die Transformation ab; ihre Erdölfelder wurden von PDVSA übernommen.[16]

Bezogen auf die Revision der Dienstleistungsverträge, wird von Regierungsseite in Venezuela von einem Gewinn an Souveränität und einer revolutionären Erdölpolitik gesprochen (PDVSA 2006). Dies mutet etwas seltsam an, wenn berücksichtigt wird, dass mit den neuen Verträgen jedenfalls der Zugang für das transnationale Kapital nach Venezuela vereinfacht wurde und die Konzerne nun Anteile an den Erdölfeldern besitzen.[17] Einige Wissenschaftler und linke Journalisten charakterisieren daher die jetzigen Joint Ventures als Ausverkauf der Ölindustrie oder erneute Öffnung für ausländisches Kapital (Al-Shereidah 2006; Mather 2006).

Mit den Joint Ventures wurde das Verhältnis zwischen dem Staat und den transnationalen Konzernen formalisiert und dem Staat immer ein Mehrheitsanteil zugeschrieben, damit kann er über die Produktion und Investitionspläne verfügen. Der periphere Staat hat eine souveräne Stellung bezogen, fordert hohe Abgaben und Steuern und eignet daher erneut eine höhere Rente an. Außerdem wurde von der Regierung deutlich gemacht, dass alle Vertragkonflikte vor nationalen Gerichten und nicht mehr vor einem internationalen Schiedsgericht verhandelt werden. Es ist deutlich geworden, dass ein höheres Maß an Souveränität in Form von Kontrolle gegenüber ausländischen Konzernen erreicht wurde. Mit Souveränität ist allerdings nicht – wie von einigen Linken in Venezuela gefordert[18] – die vollständige demokratische Kontrolle über die Erdölindustrie gemeint, in der der Staat Produktion, Vermarktung und Gewinne alleine kontrolliert und eine vollständige Arbeiterpartizipation garantieren würde. Es ist keine Renationalisierung mit sozialistischer Perspektive eingeleitet worden. Dies leitet zur nächsten Frage über, der nach dem revolutionären Grad der Erdölpolitik.

Es hat keine Revolutionierung der Ölindustrie stattgefunden, wenn darunter eine vollständige Verstaatlichung von transnationalem Kapital verstanden wird. Allerdings bleibt zu fragen, ob diese überhaupt möglich gewesen wäre, ohne negative Auswirkungen auf die Produktion und die Zukunft der Ölförderung im Allgemeinen zu haben. Da die Erdöleinnahmen für Venezuela die wichtigsten Einnahmen des Staatshaushaltes sind – und nur sie bieten die Möglichkeit, die umfassenden Sozialprogramme zu finanzieren – müssen diese Einnahmen sichergestellt werden. Dazu braucht es, so könnte argumentiert werden, in einem unterentwickelten Land wie Venezuela derzeit ausländisches Kapital. Andererseits wäre es gerade bei einer strategisch so wichtigen Industrie zentral, die transnationalen Erdölkonzerne, mit denen Venezuela in seiner gesamten Geschichte als Erdölland im Konflikt stand, aus der Produktion, der Vermarktung und vor allem auch der Entscheidungsbefugnis über Investitionen und Produktionspläne herauszuhalten.[19]

Allerdingsbestehen in einem unterentwickelten Land wie Venezuela Abhängigkeiten, etwa im Bereich der Technologie, und es sind Strukturen innerhalb und außerhalb der Erdölindustrie existent, die es Venezuela nicht ermöglichen, ganz ohne private ausländische Investitionen auszukommen. Gerade die technologische Abhängigkeit von transnationalen Konzernen ist enorm. In der Erdölproduktion wird sehr teure Hochtechnologie verwendet, wie etwa flexible Bohrer, die um harte Gesteinsschichten herumbohren können, oder die hochmodernen Computersysteme auf Bohrplattformen und bei modernen Pipelinenetzen. Auch ist die Produktion in alten Erdölfeldern sehr technologieaufwendig und gerade bei der derzeit sehr hohen Nachfrage nach Produktionsmitteln und Personal in der Erdölindustrie sind Länder wie Venezuela auf die transnationalen Erdölfirmen noch immer angewiesen. Demgemäß befindet sich auch eine fortschrittliche Regierung in einem Dilemma und die von der Chávez-Regierung erlangte Kontrolle über die transnationalen Konzerne könnte die weitreichenste Veränderung sein, die derzeit möglich ist.

Verwendung der Erdöleinnahmen

In den vergangenen Jahren ist derÖlpreis sehr stark gestiegen. Durch die, oben erwähnten Umstrukturierung in der Erdölindustrie eignet sich der Staat einen größeren Anteil an den Erträgen aus der Erdölproduktion an. Dies scheint besonders dadurch relevant, dass sie einen großen Teil der Erdölrente zum Aufbau eines sozialen Netzes verwendet[20], das die Verhältnisse von Armut und Exklusion[21] in dem lateinamerikanischen Land verändern soll. Vor allem die so genannten Misiones (dt.: Missionen) haben bisher weit reichende Veränderungen eingeleitet. Mit dem steigenden Erdölpreis kam es auch zu einem schnellen Anstieg verschiedenster Sozial-, Wirtschafts- und Bildungsprogramme, die aus der gestiegenen Erdölrente finanziert wurden. Seit dem Jahr 2003 wurden soziale Missionen aufgebaut, die als „Bypass des Staates“[22] verstanden werden können und der Alphabetisierung (Mission Robinson), der Erreichung der Hochschulreife (Mission Ribas) und der Absolvierung eines Universitätsstudiums dienen.[23] Zudem wurden nahezu im ganzen Land staatlich subventionierte Lebensmittelläden, die Mercados de Alimentos C.A. (Mercal),aufgebaut, die Lebensmittel zu einem Rabatt von 40 Prozent unter dem üblichen Marktpreis an die Bevölkerung abgeben. In Fällen extremer Armut sollen laut Regierungsangaben die Produkte auch umsonst verteilt werden.[24] Weiterhin wurden eine Gesundheitsmission (Barrio Adentro) mit der das Gesundheitsnetz auf den ärmsten Teil der Bevölkerung ausgeweitet wird und eine Mission zur Förderung von Kooperativen (Vuelvan Caras) aufgebaut, die langfristig die Importabhängigkeit Venezuelas verringern soll, indem die Entwicklung des Binnenmarktes gefördert wird. Die Sozialpolitik der Regierung Chávez stoppt die Privatisierungen und die Kommodifizierung des sozialen Sektors, die die Vorgängerregierungen vorangetrieben hatten und orientiert sich erneut an nationalen Entwicklungskonzepten, indem sie versucht, die nicht marktförmigen Beziehungen auszubauen, um die Gleichheit und soziale Integration über staatliche Mechanismen zu fördern. Sie begünstigt erneut die Aktivierung des Wohlfahrtstaats und daher eine staatliche soziale Absicherung (López Maya 2006: 160). Es gibt den Versuch, das öffentliche Schulsystem durch die neuen bolivarischen Schulen und die verschiedenen Bildungsmissionen auszuweiten. Das öffentliche Gesundheitssystem soll reformiert und dekommodifiziert werden. Doch es muss betont werden, dass es zwar Ansätze zur Transformation des öffentlichen Medizin, Schul- und Universitätssystems gibt, aber diese weitgehend noch nicht umgesetzt worden sind (Melcher 2005: 513). Gleichwohl sind eine Bildungs- und eine Reform der Sozialversicherung geplant. Bisher sind durch die Missionen Parallelstrukturen neben dem traditionellen System aufgebaut, dieses bleibt aber nach wie vor erhalten.

Das neue bolivarische Modell setzt aber nicht ausschließlich auf die Tätigkeit des Staates, sondern auch auf die Partizipation der marginalisierten Bevölkerung. Zu diesem Zweck wurde beispielsweise von staatlicher Seite die Gründung von Gesundheitskomitees und Bildungsorganisationen durch Bewohner der jeweiligen Gemeinden gefördert, die an der Umsetzung der jeweiligen Sozialprogramme beteiligt sind. Daher kommt es zu einer Basisorganisierung, die allerdings vom Staat abhängt (Zelik 2006). Im bolivarischen Ansatz wird der Ausschluss vieler Teile der Bevölkerung als strukturelles Problem betrachtet, dessen Ursache in der Kolonialzeit liegt. Laut Beate Jungemann (2005: 146) verfolgt die Sozialpolitik offiziell zwei Ziele: Erstens wird durch staatliche Subventionen (z.B. verbilligte Nahrungsmittel) die Armut und Armutsentwicklung abgefedert und zweitens gibt es eine transformatorische Perspektive, indem versucht wird, den Bewohnern der Armenviertel, durch Bildungs- und Ausbildungsmissionen bessere Ausgangsbedingungen auf dem Arbeitsmarkt zu verschaffen.

In der Umsetzung einiger sozialpolitischer Maßnahmen verhindern allerdings personalistische und klientelistische Strukturen, die Implementierung eines ausgeweiteten Sozialmodells. So wird teilweise Menschen aus politischen Gründen der Zugang zu manchen Sozialprogrammen verwehrt (vgl. Wilpert 2005: 25). Auch muss kritisiert werden, dass es den sozialpolitischen Maßnahmen in der Umsetzung weiterhin an einer Institutionalisierung fehlt und sie teilweise vom Militär geleitet werden, so wie im Fall der Mission Mercal (López Maya 2006b: 67). Auch verhindert eine umfassende Korruption teilweise, dass Kredite und Zuwendungen auch tatsächlich bei ihren Empfängern ankommen.

Daher stellen die bürokratischen Apparate des Staates eine Hürde im bolivarischen Prozess dar. Der rentenaneignende Staat ist für alle sozialen Klassen Venezuelas die „Quelle des Reichtums“ (Melcher 2005: 507) und die Teilhabe an diesem Reichtum ist auch für alle nicht-staatlichen Akteure zentral. Dieser Zugang wurde und wird immer noch über Klientelbeziehungen hergestellt, beispielsweise über die Familie, Freundschaften oder politischen Parteien (Melcher 2005: 507). Daher ist Arps und Zelik (2006: 127) zuzustimmen, dass nur durch einen radikalen Demokratisierungsprozess das Verständnis des Staates als „Ort privater Aneignung“ aufgebrochen werden kann und dieser einer breiten Kontrolle unterworfen werden muss.

Weitreichende Implikationen hat der große Anteil, den der venezolanische Staat aus der Erdölproduktion aneignet aber nicht nur für die Veränderungen im sozialen Sektor, sondern auch für die Unterstützung progressiver Regierungen und Projekte auf lateinamerikanischer Ebene. Das Erdöl kann sogar als Motor der lateinamerikanischen Integration betrachtet werden. Es werden Großprojekte lanciert, die oftmals unter dem Label des Integrationsprojektes Alternativa Bolivariana para las Àmericas (ALBA)[25] firmieren und als Gegenmodell zur neoliberalen Freihandelszone ALCA verstanden werden. ALBA ist der Ausdruck für die sukzessive Ausweitung der Linkswende in Teilen Lateinamerikas und der Konsolidierung des bolivarischen Prozesses (vgl. Fritz 2007: 11).

Die lateinamerikanische Integration konnte in den letzten Jahren, vor allem durch die hohe Liquidität Venezuelas aufgrund der Erdöleinnahmen, vertieft werden. Dies macht viele Projekte allerdings ebenfalls sehr abhängig vom Erdölpreis auf dem Weltmarkt und zeigt deren fragiles Fundament auf. Das Abkommen eröffnet Spielräume, den politischen Kurswechsel auch gegen die Zwangsmechanismen der Finanzmärkte (Malcher 2005: 39ff.)[26] und internationaler Institutionen wie IWF und Weltbank oder dem Einfluss der USA und der EU durchzusetzen. Und auch die großen Einnahmen aus dem Erdölexport, die diese Projekte anschieben können, sind vorteilhaft und verleihen – solange der Erdölpreis hoch ist – den Integrationsprojekten mehr Spielraum. Allerdings bleibt abzuwarten, welche Perspektiven diese Unternehmung hat, zu einem gegenhegemonialen Projekt zu werden und damit die Linkswende auf dem lateinamerikanischen Subkontinent zu stabilisieren.

Fazit

Die hohen Einnahmen aus dem Erdölexport ermöglichen in Venezuela eine Umstrukturierung der Gesellschaft und eine Veränderung des Herrschaftsmodells, das auf dem Ausschluss des größten Teils der Bevölkerung beruhte. Ebenfalls ermöglichen die Einnahmen die Unterstützung progressiver Projekte auf lateinamerikanischer Ebene. Allerdings führte die Aneignung der Erdölproduktion auch zu massiven Konflikten auf nationaler wie internationaler Ebene und die Umstrukturierungen in der Erdölindustrie stellen einen langsamen Prozess dar, der bis heute nicht abgeschlossen ist. So bestehen weiterhin Konflikte mit transnationalen Konzernen, die die Veränderungen der Besitzverhältnisse nicht akzeptieren wollen wie beispielsweise Exxon und ConocoPhillips.[27] Eine weitere Hürde stellt für die Chávez-Regierung die ökonomische Situation dar. Zentral ist dabei, dass der Aufbau der Industrie und die Investitionen in den produktiven Sektor und in soziale Infrastruktur vom hohen Erdölpreis auf dem Weltmarkt abhängen. Dies macht die Fragilität der „bolivarischen Revolution“ deutlich. Ein Absturz der Preise führt meist sehr schnell in eine Krise. Ein Erdölboom, wie ihn Venezuela derzeit erlebt, vertieft andererseits oftmals die Abhängigkeit vom Erdöl: „Bei jedem Boom drehen die Leute durch. Die Inflation steigt, es wird nicht produziert. Das sind die Schwächen, die Venezuela immer geprägt haben, unabhängig von Revolution, Diktatur oder Demokratie. Anscheinend sind die Regierungen nicht in der Lage, das Öl zu zähmen.“ (López Maya 2007)[28]

Der Abbau der Abhängigkeit vom Erdölexportsektor muss daher als eine der wichtigsten Aufgaben der Regierung angesehen werden. Darüber hinaus ist es zentral für den Erfolg der „bolivarischen Revolution“, die Finanzierung der ökonomischen und sozialen Projekte von der Erdölrente loszulösen, etwa durch die Einführung einer Einkommenssteuer für die wohlhabende Klasse und damit eine Umverteilung jenseits der Erdölrente. Das Ziel, eine Verringerung der Erdölabhängigkeit zu erreichen, dürfte die schwierigste aller Aufgaben sein, vor denen Venezuela derzeit steht.

Literatur

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[1] Damit ist vor allem die wachsende Autonomie der Ölfirma gegenüber dem Staat gemeint und die Möglichkeit, Initiativen zu starten, die zum Vorteil der Firma waren und nicht die venezolanische Gesellschaft im Blick hatten (Lander 2004: 25).

[2] Hierbei geht es vor allem um vier Großprojekte (asociaciones estratégicas) im Oriniocogürtel, die die venezolanische Regierung im Jahr 2007 versucht in Joint Ventures zu transformieren, bei denen PDVSA mindestens 60 Prozent der Anteile halten soll.

[3] Das Internationalisierungsprogramm begann in den späten 1980er-Jahren mit dem Abschluss eines Joint Ventures mit der deutschen Veba Oel. Im Jahr 2004 besaß PDVSA Anteile an 19 Raffinerien im Ausland. Diese Internationalisierungsstrategie hatte dramatische Auswirkungen auf die finanzielle Situation Venezuelas, und das Management unterminierte so die Nationalisierung und Vergesellschaftung des venezolanischen Erdöls. Ihre Strategien und die sich daraus ergebenden Folgen für den venezolanischen Staat waren: Verminderte Steuereinnahmen, Kapitalfluchtund fehlende Zahlung der Dividenden der ausländischen Töchterfilialen an den Mutterkonzern PDVSA (Boué 2004: 1ff.).

[4] Auf Vorschlag des damalige Minister für Energie und Bergbau Alí Rodríguez Araque hin wurde das Modell des Preisbandes eingeführt, was der Stabilisierung der Preise diente, indem ein Minimal- und ein Maximalpreis (22 bis 28 Dollar) festlegt wurde. Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass dies der einzige Grund für die Erholung der Preise war, da der internationale Ölmarkt sehr komplex ist und von einer Vielzahl von Faktoren und nicht zuletzt von der internationalen Nachfrage, aber auch von Spekulationen, beeinflusst wird (Lander 2004: 27).

[5] Dieses Gesetz war eines von 49 per Dekret erlassenen Gesetzen (zu diesen gehörte z.B. auch ein Landreformgesetz, das die Enteignung und Verteilung von unbearbeitetem Land ermöglicht.

[6] Diese Rate ist allerdings flexibel je nach Ölsorte. Beispielsweise sind es nur 16,5 Prozent auf Schweröl (Mommer 2003: 141).

[7] Diese Regelung ist von Vorteil, da es einfacher ist, Royalties einzunehmen und diese nicht durch die Produktionskosten beeinflusst werden.

[8] Im Jahr 2004 verkündete die Regierung außerdem, dass die Royalty-Rate von 1 Prozent bei den vier strategischen Abkommen auf 16,5 Prozent erhöht wird.

[9] Dank des enorm gestiegenen Ölpreises, der von 28 Dollar im Jahr 2003 auf 36 Dollar 2004[9] und dem größeren Anteil, den der Staat aneignet, konnte Venezuela im Jahr 2004 eine Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 17,9 Prozent vorweisen (www.opec.org). Im Jahr 2005 stieg der Erdölpreis auf 50 Dollar im Jahresdurchschnitt und das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wuchs um 9,3 Prozent an (Lateinamerika Finanzmarkt-Monitor 2006: 6). Nach Angaben der venezolanischen Zentralbank stieg das BIP auch im Jahr 2006 um weitere 10.3 Prozent an. (www.bcv.org.ve).

[10] Bestehend aus politischen Gruppen und traditionellen Parteien, den privaten Medien, dem Unternehmerverband Fedecámaras und dem Gewerkschaftsdachverband CTV, der Führungsetage von PDVSA sowie der katholischen Kirche. Dieser Putschversuch wurde Seitens der USA zumindest begrüßt und Teile der venezolanischen Opposition – die diesen Putschversuch lancierten – wurde von den USA finanziert (The Independent, 3.6.2006, S. 28.).

[11] Der Protest wurde weitestgehend von den unteren Klassen und marginalisierten Sektoren der venezolanischen Bevölkerungen getragen, die eine der drei Säulen der chavistischen Basis darstellen. Die anderen zwei Säulen bestehen aus einem heterogenen Bündnis verschiedener Parteien, die allerdings zu einer Einheitspartei zusammengeschlossen werden sollen und dem Militär (Vilas 2001: 35).

[12] Dieser Streik weitete sich auch auf andere Sektoren wie den Transport, die großen Supermärkte, Banken usw. aus.

[13] Zu nennen sind hier etwa das für die Opposition verlorenen Referendum 2004, bei dem sie versuchte, Chávez als Präsidenten abzuwählen und damit scheiterte, sowie der Boykott der Parlamentswahl im Dezember 2005 seitens der oppositionellen Parteien, durch den nur regierungsnahe Parteien in Parlament gewählt werden konnten.

[14] www.pdvsa.com/interface.sp/database/fichero/publicacion/1409/57.PDF (Zugriff:31.10.06)

[15] Von den 3,3 Prozent gehen 2,22 Prozent an den jeweiligen Gemeinderat und der Rest wird in den Fond zur endogenen Entwicklung eingezahlt.

[16] www.venezuelanalysis.com/news.php?newsno=1935 (Zugriff: 5.04.06)

[17] Sogar die Internationale Energie Agentur (IEA) beschreibt das Erdölgesetz von 2002 als Öffnung für private Investitionen, auch wenn deutlich gemacht wird, dass die Bedingungen eventuell nicht so vorteilhaft für das private Kapital sind (IEA 2004: 111).

[18] www.venezuelanalysis.com/articles.php?artno=1837 (Zugriff: 27.6.07.)

[19] Vgl. auch: www.venezuelanalysis.com/articles.php?artno=1837 (Zugriff: 27.6.07).

[20] Beispielsweise erhielten diese Sozialprogramme im Jahr 2005 insgesamt 8 Milliarden Dollar von der staatlichen Erdölfirma PDVSA (www. pdvsa.com).

[21] Zum Zeitpunkt des ersten Wahlsiegs von Hugo Chávez im Jahr 1998 waren die Sozialindikatoren aufgrund der orthodox-neoliberalen Anpassungsprogramme der 1990er- Jahre und der Krise des Rentenmodells an einem Tiefpunkt angelangt. So wurden im ersten Halbjahr 1997 55,6 Prozent aller venezolanischen Haushalte als arm eingestuft und die Anzahl der im informellen Sektor Beschäftigten betrug 1999 52 Prozent (Instituto Nacional de Estadística (INE) 2006: 2). Das Einkommen der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung fiel von 19 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 1981 auf 14,7 Prozent in 1997, während das Einkommen des reichsten Zehntels von 22 auf 33 Prozent des BIPs anstieg (Roberts 2003: 60). Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebte in prekären Siedlungen mit unsicheren Eigentumsverhältnissen, in denen sie nicht selten von Umsiedlungen und Vertreibungen bedroht war. Oftmals gab es in diesen Regionen weder sanitäre Anlagen noch fließendes Wasser (Antillano 2005: 206).

[22] Interview mit Edgardo Lander, geführt am 12.5.2005 in Caracas.

[23] www.misionrobinson.gov.ve/;www.misionribas.gov.ve/mribas/;www.misionsucre.gov.ve/

[24] www.mercal.gov.ve/ (Zugriff: 13.1.07)

[25] Es existiert einerseits der harte Kern der ALBA: Bolivien, Kuba, Nicaragua, Venezuela die wirklich ALBA Mitglieder sind. Zweitens bestehen eine Reihe von zwischenstaatlichen Kooperationsabkommen die im weiteren Sinne den ALBA-Prinzipien treu sein sollten, die aber auch mit Nicht-Albamitgliedern abgeschlossen werden.

[26] Diese Mechanismen schränken derzeit den Handlungsspielraum der Chávez Regierung, etwa bei dem geplanten austritt aus IWF und Weltbank ein. Analysten mutmaßen, dass private Kreditgeber ihr Kapital bei einem Austritt Venezuelas aus diesen beiden Institutionen sofort zurückfordern könnten. Venezuela ist bei privaten Anlegern mit 22 Milliarden Dollar verschuldet. Daher wird der geplante Austritt Venezuelas derzeit geprüft und wird sich zumindest verzögern. (http://www.taz.de/index.php?id=archiv&dig=2007/06/09/a0127)(Zugriff : 6.9.07).

[27] http://de.today.reuters.com (Zugriff : 26.5.07)

[28] http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=111799&IDC=2