Oktoberrevolution: Kampf um die Geschichte

Der Rote Oktober in der historischen Bilanz

Zu Domenico Lossurdos Buch Kampf um die Geschichte

Dezember 2007

Auf den ersten Blick sieht man es dem unter einem Allerweltstitel erschienenen Buch nicht unbedingt an, dass hier endlich nun auch auf Deutsch ein Werk vorliegt, das in anderen Ländern bereits Bestsellerqualität erreicht hat. So in Italien, der Heimat des Autors, wo es unter dem Titel Il revisionismo storico. Problemi e miti seit 1996, inzwischen in der 5. Auflage, auf dem Markt ist. In Frankreich wurde es als Le Révisionnisme en Histoire. Problème et mythes im renommierten Verlag Albin Michel herausgebracht und breit zur Kenntnis genommen. Rezensionen erschienen in der Zeitschrift La Quinzaine Littéraire, in Le Figaro littéraire, in der Wochenzeitschrift Marianne, in Actualite de l’Histoire, Libération, Le Monde diplomatique, l’Humanité und Lire sowie in den belgischen Zeitungen Le Soir und La Libre Belgique. Doch von solchen Erfolgen lassen sich die großen deutschen Verlage bekanntlich nicht beeindrucken, handelt es sich doch bei Domenico Losurdo um einen Autor, der sich ausdrücklich in die kommunistische Tradition seines Landes stellt. Und Beiträge solcher Wissenschaftler werden bekanntlich hierzulande ignoriert, das Schicksal des Buches Luciano Canforas Eine kurze Geschichte der Demokratie[1]im C.H. Beck Verlag hat dies erst kürzlich gezeigt. Was die Bilanz von Liberalismus, Faschismus und Kommunismus angeht, so hat man hierzulande schließlich ein bewährtes, festgefügtes Weltbild. Und dabei soll es auch bleiben.

Die Herausgabe des Buches auf Deutsch, immerhin gut zehn Jahre nach seinem Erscheinen in Italien, war längst überfällig. Wer es liest, wird unschwer erkennen: Hier geht es über weite Strecken um die neuere deutsche Geschichte, genauer gesagt um die deutsche Geistesgeschichte. Losurdo setzt sich mit Aussagen der Historiker Ernst Nolte und Andreas Hillgruber, mit denen Hannah Arendts und vor allem Carl Schmitts auseinander. Es ist mithin ein Buch über die „deutsche Misere“, die allerdings nach Losurdo so deutsch auch wiederum nicht ist. Doch dazu später mehr. Der Autor kennt sich in diesen deutschen Dingen bestens aus. Von ihm erschien auf Deutsch u. a. Die Gemeinschaft, der Tod, das Abendland – Heidegger und die Kriegsideologie; Hegel und die Freiheit und die Moderne; Hegel und das deutsche Erbe; Der Marxismus Antonio Gramscis - Von der Utopie zum „kritischen Kommunismus.[2] Sein Grundlagenwerk zur Erneuerung der marxistischen Nietzsche-Forschung befindet sich gegenwärtig in der Übersetzung ins Deutsche.

Die russische Revolution im Vergleich

Gegenstand des Buches Kampf um die Geschichte ist, wie es im Untertitel heißt, Der historische Revisionismus und seine Mythen - Nolte, Furet und die anderen. Bei jenen anderen handelt es sich um Carl Schmitt, Andreas Hillgruber, aber auch um US-amerikanische Historiker. Losurdo greift damit eine Debatte auf, die im Deutschland der achtziger Jahre unter der Überschrift Historikerstreit geführt wurde.[3] Zwar endete diese Kontroverse mit einer Zurückweisung der versuchten Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere des Genozids an den Juden. Doch andere von den historischen Revisionisten hervorgebrachten Argumente konnten sich behaupten. Dies gilt etwa für die Anklage, dass es die Bolschewiki waren, die „den internationalen Bürgerkrieg entfesselten“. (26) Der Untergang des europäischen Sozialismus 1989/91 hat solchen Erklärungsmustern den Rang von Allgemeingültigkeiten verliehen. Im Alltagsbewusstsein, konditioniert durch verschiedenste Schwarzbücher des Kommunismus und tägliche Indoktrination jeglicher Art, angekommen ist, dass Rot gleich Braun ist. Selbst in weiten Teilen der Linken wird dies, zumindest für die stalinistische Phase, inzwischen akzeptiert.

Gleichfalls überlebt hat die Anklage der historischen Revisionisten gegenüber dem „historischen Zyklus, der von 1789 bis 1917 reicht“. (11) Sowohl Furet, der von der Kritik der französischen Revolution und des Jakobinismus ausgeht, als auch Nolte, der seinen Ausgangspunkt in der Verurteilung des russischen Oktobers hat, sehen in beiden Revolutionen vergleichbare ideologische Delirien am Werk. Und auch diese Sichtweise hat weiterhin Konjunktur.[4]

Wie begegnet nun Losurdo diesen Vorwürfen? Seine Methode ist komparatistisch. Zwar behaupten auch seine Gegner so vorzugehen und tatsächlich relativieren sie ja die Gräuel des Dritten Reiches ausgiebig mit denen der Sowjetunion Stalins. Doch der historische Revisionismus nimmt nach Losurdo gegenüber dieser Methode eine „schwankende und widersprüchliche Haltung“ (42) ein, legt er sie doch beiseite, wo es um die Beurteilung der englischen und der amerikanischen Revolution geht. Anders hingegen der Ansatz Losurdos: „In der vorliegenden Abhandlung bildet der komparatistische Ansatz dagegen eine Konstante“. Dies gilt auch für den deutschen Faschismus. „Die einzige Alternativen dazu ist das Schweigen angesichts des Unsagbaren. So furchtbar es auch sein mag, muss ein historisches Ereignis, wenn es genannt, beschrieben und verstanden werden will, mit anderen verglichen werden.“(43)

Beim Vergleich – etwa der englischen und der amerikanischen mit der französischen bzw. der russischen Revolution – beschränkt sich Losurdo nicht auf singuläre Ereignisse. Er blickt jeweils auf die ganze Epoche und bezieht dabei auch Dinge mit ein, die zunächst nebensächlich scheinen. So weist er nach, dass eine Aussage wie die des Historikers George M. Trevelyan, wonach „der wahre Ruhm der englischen Revolution (1688-89) darin liege, dass sie unblutig war, ohne Bürgerkrieg und ohne Massaker, ohne Ächtungen“, (59) unhaltbar ist, sieht man sich die verschiedenen Etappen des englischen revolutionären Prozesses an. Berücksichtigt werden müssen auch die blutige Unterdrückung der jakobitischen Revolten, der nicht enden wollende Bürgerkrieg in Schottland und die brutale und rücksichtslose Wiedereroberung Irlands. „Die Ereignisse in Irland (und Schottland) sind nicht von der Glorious Revolution zu trennen, weil der Sieg der englischen Truppen in den rebellischen Regionen wesentlich (und hier zitiert Losurdo wiederum Trevelyan, A.W.) ‘für die Verhinderung einer jakobitischen Restauration’ auch in London war“. (58)

Und die amerikanische Revolution kann in dem von Hannah Ahrendt als auch von François Furet gepriesenen Glanz der Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit nur dann strahlen, wenn man sie aus ihrem historischen Rahmen herauslöst. Nur so kann sie zu jenem positiven Gegenbild der französischen Revolution werden, die, so Hannah Ahrendt in ihrem Werk Über die Revolution – ein Buch geschrieben 1963 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges – von Beginn an „unter dem Zeichen Saturns“ stand. (66) Doch was soll man von dieser amerikanischen Revolution halten, die wohl feierlich die Menschenrechte proklamierte, diese dann aber - wie Alexis de Tocqueville auf seinen Amerikareisen treffend bemerkt - für einen großen Teil der auf dem Territorium lebenden Bevölkerung, nämlich für die Schwarzen, keine Bedeutung haben sollten? Von den Indianern ganz zu Schweigen. Eine solche Revolution kann man nur als unvollendet bezeichnen. So ist es angebracht, den Versuch ihrer Vollendung in ihre Bewertung einzubeziehen. Und diesen Versuch stellte der US-amerikanische Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 dar, der von beiden Seiten mit unnachsichtiger Härte und Brutalität geführt wurde und dessen Opferzahl „höher als die der amerikanischen Truppen in beiden Weltkriegen“ (65) war. Sieht man beide Ereignisse in einem einheitlichen historischen Zyklus, so ist das Bild von der Friedfertigkeit der amerikanischen Revolution nicht mehr zu halten.

Mit Blick auf diesen Bürgerkrieg und auf die ihm nachfolgende Zeit von 1865 bis 1877, der harten Unterdrückung des Südens durch den Norden, sehen revisionistische amerikanische Historiker Parallelen zur französischen und sogar zur bolschewistischen Revolution. „Es ist der Versuch, die Rassengleichheit von oben aufzuzwingen, wobei die Autonomie der Staaten (des Südens - A.W.) ausgelöscht oder drastisch reduziert wird: eine Erziehungsdiktatur sollte die rassischen ‘Vorurteile’ der Südstaatler mit einem sozialtechnologischen Experiment hinwegfegen (...), um mit despotischen Maßnahmen von oben die Gleichheit und die Rassenintegration durchzusetzen.“ (90f.) Die Abolitionisten des Nordens beriefen sich dabei auf religiöse Werte. Bereits bei den Puritanern der englischen Revolution war Gott im Spiel. Die französischen Jakobiner bemühten die abstrakte Moral, und die Bolschewiki die Notwendigkeit der Aufhebung jeglicher Klassengegensätze. Allen gemeinsam ist die Rechtfertigung ihres Handelns aufgrund religiöser, moralischer und politischer Werte. So ist es denn nicht verwunderlich, dass bei der Bewertung der Politik der Nordstaaten durch die amerikanischen historischen Revisionisten „alle gegen den Jakobinismus und den Bolschewismus benutzten Argumente hier wieder auftauchen“. (91)

Was bleibt also? Eine Absage an Fanatismus, Heilserwartungen und die daraus folgende revolutionäre Gewalt, da das Ergebnis doch immer nur ein Meer an Blut ist? Folgt aus solch ernüchternden Erfahrungen etwa eine Apologetik des evolutionären Weges? So denkt der Philister und dieses Denken ist gegenwärtig in Mode, erspart man sich doch so die Notwendigkeit der Analyse, der Differenzierung und der Entscheidung. Alles geht dann in einem „Zeitalter der Katastrophen“ ununterscheidbar ineinander über.

Gegenüber einem solchen Denken wendet Losurdo zunächst ein, dass es schon immer zur Argumentation der reaktionären Kritiker gehörte, den Revolutionären vorzuwerfen, dass sie in unzulässiger Weise in einen evolutionären Prozess eingreifen. So argumentierte bereits der englische Staatsmann und Autor Edmund Burke, als er 1799 die französischen Revolutionäre eines Verstoßes gegen die organische, natürliche Entwicklung der Gesellschaft anklagte.[5] Heute erheben US-amerikanische revisionistische Kritiker eine ähnliche Anklage gegenüber dem Vorgehen der amerikanischen Union im Bürgerkrieg. Damals sei „eine blutige und überflüssige Revolution“ entfesselt worden, denn „die charakteristische Institution des Südens (gemeint ist hier die Sklaverei - A.W.) sei schon dabei gewesen, nach und nach menschlicher zu werden“. (90) Das entsprechende Schema findet sich natürlich auch bei den Kritikern der bolschewistischen Revolution. Nach ihnen habe es sich in Wirklichkeit gar nicht um eine Revolution, sondern um einen bloßen Staatsstreich gehandelt, „der nicht das Ancien Régime oder seine Überreste stürzte, sondern die Demokratie.“ (100) Eine Interpretation, die von der europäischen Sozialdemokratie übernommen wird.

Nun liegt es in der Natur der Sache, dass jene Kritiker der revolutionären Aktion nicht den Beweis erbringen können, dass der Fortschritt ebenso auf anderem Wege, graduell und unblutig, möglich gewesen wäre. Übrig bleibt daher ein unbewiesener Vorwurf. Was die russische Entwicklung angeht, so hält sich Losurdo an den deutschen Historiker Arthur Rosenberg, den er zustimmend zitiert: „Aber die Bolschewiki haben die Revolution nicht gemacht, sondern Lenin und Trotzki erkannten, dass um zwölf Uhr die große anarchistische Revolte kommen würde. Da haben sie fünf Minuten vor zwölf den bolschewistischen Aufstand proklamiert und so den Eindruck geschaffen, als sei das ungeheure Ereignis um zwölf Uhr durch ihren Befehl entstanden.“ Und: „Das wilde Chaos (gemeint ist hier die Zeit zwischen Februar und Oktober 1917, A.W.) hätte nach einiger Zeit in Auflösung Russlands, in Pogromen und in weißem Terror geendet.“[6] (102) Betrachtet man die Entwicklung einer Reihe europäischer Länder, in denen die am Ende des Ersten Weltkriegs ausgebrochenen Revolutionen unterdrückt bzw. nicht zu Ende geführt wurden, so sieht man, dass in dieser Bewertung viel Wahrheit steckt. All diese Länder – seien es Italien, Ungarn, Österreich, Bulgarien oder Deutschland – wurden früher oder später faschistisch. Ein Argument, auf das Losurdo aber nicht eingeht.

Die verschiedenen Formen der Despezifikation

Wie steht es nun um den weitreichenden Vorwurf des historischen Revisionismus, dass ein heilsgeschichtlich motivierter missionarischer Eifer der Revolutionäre zu einer nachhaltigen Vergiftung der politischen Auseinandersetzung, zu einer Ausgrenzung von Klassen, ja von ganzen Völkern aus der menschlichen Zivilisation geführt hat, mit dem Ergebnis eines nicht endenwollenden internationalen Bürgerkriegs? Losurdo zeigt, dass es Carl Schmitt ist, „der Burke des 20. Jahrhunderts“ (40), der diesen Gedanken als erster in aller Klarheit formuliert. Im Historikerstreit der 80er Jahre wird er von Ernst Nolte dann wieder aufgegriffen. Als Begründer des deutschen Revisionismus erhebt Schmitt seinen Vorwurf des vergiftenden Messianismus ausdrücklich auch gegenüber der westlichen Aufklärung, gegenüber der in der amerikanischen und in der französischen Revolution geborenen Idee der Menschenrechte. Angesichts der amerikanischen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki polemisiert Schmitt: „Wenn das Wort ‘Menschheit’ fällt, entsichern die Eliten ihre Bomben und sehen sich die Massen nach bombensicherem Unterstand um.“ (40) Ein Satz, den man heute gern unterschreiben würde angesichts der zynischen Inanspruchnahme der Menschenrechte durch die USA und ihrer Verbündeten bei der Rechtfertigung ihrer imperialistischen Angriffskriege. Doch würde man dabei übersehen, dass Schmitt nicht diesen Missbrauch geißelte, sondern die Menschenrechte selbst. Es ist dann aber die Sowjetunion, die vom ihm und später von Nolte des Auslösens eines „Weltbürgerkriegs der Klassenfeindschaft“ (so Carl Schmitt zitiert nach Losurdo) beschuldigt wird, der darauf abzielte, den „absoluten Feind“ (107) zu vernichten.

Domenico Losurdo antwortet auf diesen Vorwurf mit der Entwicklung des Begriffs der Despezifikation. Er versteht darunter – das Wort ist abgeleitet von Spezies – den „Ausschluss oder die Vertreibung bestimmter ethnischer, sozialer, politischer Gruppen aus der Wertegemeinschaft, aus der wahren menschlichen Gesellschaft und sogar aus dem Menschengeschlecht“. (75) Und derlei Despezifikationen gibt es viele. In Europa werden sie mit der französischen Revolution endemisch. Die Revolutionäre, die man nicht verstand oder verstehen wollte, wurden kurzer Hand zu Verrückten, Kranken, Verwirrten und auch schon mal einfach zu Kindern erklärt, oder sie wurden als Angehörige vermeintlich barbarischer Völker bzw. fremder Religionen wie der Hunnen, Türken, Vandalen, Moslems und dergleichen aus der angestammten Zivilisation ausgegrenzt. Die Jakobiner zahlen mit gleicher Münze zurück, indem sie ihre Gegner etwa zu „Horden zivilisierter Wilder und disziplinierter Banditen“ (77) erklären. Einen neuen Höhepunkt erfahren die gegenseitigen Ausgrenzungen während des totalen Kriegs 1914 bis 1918. Die Deutschen sind darin für die Engländer schlicht Hunnen. Die russischen Revolutionäre werden – vor allem von den Deutschen – zu asiatischen Barbaren, Mongolen und Wilden erklärt. Bilder, die selbst noch im Deutschland Adenauers gepflegt werden.

Losurdo bestreitet keineswegs, dass sich auch die radikale Linke an diesen Despezifikationen beteiligte. Generalisierend geißelte sie ihre Gegner als Ausbeuter, Aussauger, Vampire, Volksfeinde, Gesindel und belegte sie sogar mit Begriffen aus der Biologie und Zoologie. So wimmelt es in stalinistischen und maoistischen Pamphleten und auch Urteilsbegründungen nur so von Blutsaugern, Bazillen, Parasiten, Volksschädlingen und ähnlichem. Angesichts dieser schrecklichen Vergangenheit könnte man geneigt sein, es auf sich beruhen zu lassen, die Schuld gleichermaßen zu verteilen und sich zu freuen, dass es heute darum besser bestellt ist, obwohl mit Begriffen wie Fundamentalist, Islamist und vor allem Terrorist gegenwärtig neue und beunruhigende Despezifikationen in Mode kommen.

Losurdo belässt es aber nicht dabei. Er geht einen Schritt weiter und unterteilt die Despezifikationen in zwei Formen. „Zumindest von der französischen Revolution und vom Universalismus an, der sie auszeichnet, entwickeln die Revolutionäre die Despezifikation des Feindes hauptsächlich auf politisch-moralischer Basis.“ (76) Ähnlich ist es später bei der radikalen Linken. Ausgegrenzt werden von ihr Angehörige bekämpfter Klassen, etwa Kapitalisten oder Großbauern. Distanzieren sich die Angehörigen dieser Klassen von ihrer sozialen Stellung, so sind sie in der Regel auch nicht länger Opfer der Despezifikation. Anders hingegen die Despezifikationen, die aufgrund naturalistischer Elemente ausgesprochen werden. Hier sind es die Rasse, die Hautfarbe, die völkische oder religiöse Herkunft oder sonstige dem Menschen von Geburt an anhaftende Eigenschaften, die die Ausgrenzung begründen. Und diese Merkmale wird der Mensch sein Leben lang nicht los. Auf Grundlage dieser Merkmale ausgesprochene Despezifikationen sind dauerhaft und daher grausamer.

In den Blick nimmt Losurdo hier das ganze Universum des Kolonialismus und des Imperialismus, die ganze unheilvolle Welt der white supremacy, die ideologisch nur auf Grundlage der Ausgrenzung, der Despezifikation zu Wilden, Barbaren, Unzivilisierten usw. errichtet werden kann. Und er betrachtet hier keineswegs nur das Verhalten der Kolonialmächte gegenüber unterdrückten Völkern entfernter Kontinente. Er fragt ebenso nach dem Verhalten der „auserwählten“ Völker gegenüber Minderheiten auf dem eigenen Staatsterritorium, etwa nach dem Schicksal der Iren auf den Britischen Inseln und dem der Schwarzen und Indianer in den USA. Und die Zustände in diesen Ländern, in denen doch nach François Furet und Hannah Arendt so friedliche und zivilisierende Revolutionen stattfanden, waren und sind zum Teil noch immer nur als abstoßend zu beschreiben. In Irland versuchten etwa die Engländer Mischehen zu verhindern und den Iren wurde lange „die Schulbildung verweigert“, um sie dauerhaft als „knechtische Klasse“ (83) zu erhalten. Auch „in den Südstaaten (der USA, A.W.) stand es unter schwerer Strafe, den Sklaven Lesen und Schreiben beizubringen.“ (83) Und noch bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts hatten offizielle Diskriminierungen der Schwarzen in den USA Bestand. Noch schrecklicher erging es den Indianern auf dem nordamerikanischen Kontinent. Hier kann mit Fug und Recht von einem an ihnen begangenen Holocaust gesprochen werden. „Schon am Ende des 16. Jahrhunderts hatte die ‘Entdeckung’ der Neuen Welt zwischen 60 und 80 Millionen Menschenleben gefordert; aber das Gemetzel war noch nicht beendet.“ (277) Um das ganze Ausmaß dieser Ausrottung begreifbar machen zu können, zitiert Losurdo hier den amerikanischen Autor David F. Stannard: „Eine traditionelle eurozentrische Tendenz, die zwar subtile Unterscheidungen zwischen den verschiedenen europäischen Bevölkerungen geltend macht, aber undifferenzierte Massen von ‘Afrikanern’ in einer Kategorie und undifferenzierte Massen von ‘Indianern’ in einer anderen zusammenfasst, macht es möglich, Fälle zu ignorieren, in denen der Genozid an Afrikanern und amerikanischen Ureinwohnern eine absichtliche, totale Ausrottung ganzer sozialer, religiöser und ethnischer Gruppen gewesen ist.“ (278)

Losurdo übersieht nicht, dass die naturalistische Despezifikation auch in der französischen Revolution existierte. Für den Aufstand in der Vendée wurden von den Revolutionären die „grausamen Vendéer“ eine „Horde von Banditen“ oder sogar eine „Rasse von Banditen“ (85) verantwortlich gemacht. Doch „die Logik der politisch-moralischen Despezifikation gewinnt die Oberhand: am Ende des revolutionären Zyklus genießen die Vendéer, im Gegensatz zu den Schwarzen in Amerika und zu den Iren in Großbritannien, die vollen politischen und bürgerlichen Rechte“. (86) Vergleichbares ereignete sich in der Sowjetunion. In Reaktion auf den faschistischen Überfall werden dort ganze Völker als „unzuverlässig“ bewertet, in Kollektivschuld genommen und umgesiedelt, wobei Tausende von Menschen ums Leben kommen. So erging es etwa den Krimtataren, die 1944 in Gänze nach Zentralasien deportiert. Doch sie und die anderen betroffenen Völker wurden schließlich rehabilitiert und die Rückkehr in die alte Heimat gestattet.[7]

In der französischen Revolution wird mit der proklamierten Aufhebung der Sklaverei in den Kolonien sogar die naturalistische und rassische Despezifikation infrage gestellt. Untrennbar ist dies mit dem Namen Toussaint Louverture verbunden, dem schwarzen Jakobiner, auf dessen Initiative der Konvent am 4. Februar 1794 die Abschaffung der Sklaverei proklamiert. Und auf Saint-Domingue (dem heutigen Haiti) wird diese Befreiung unter seiner Gouverneursherrschaft für kurze Zeit sogar Realität. Anders dagegen die amerikanische Geschichte: „In 32 der ersten 36 Jahre der Vereinigten Staaten waren ihre Präsidenten Sklavenhalter und Sklavenhalter waren auch diejenigen, die die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung ausgearbeitet haben.“[8]

Noch deutlicher als das Frankreich der Jakobiner hebt sich dann der Rote Oktober in der Frage des Kolonialismus von der englischen und der amerikanischen Revolution ab. 1920 organisiert die Komintern in Baku den Kongress der unterdrückten Völker des Ostens. Ho Chi Minh schreibt darüber 1924: „Zum ersten mal in der Geschichte reichten sich die Proletarier der Siegerstaaten und die Proletarier der unterlegenen Staaten brüderlich die Hand und suchten gemeinsam nach Methoden für einen erfolgreichen Kampf gegen den Imperialismus, ihren gemeinsamen Feind.“[9] Während des Kongresses hoben Sinowjew und Safarow die Notwendigkeit nationaler Revolutionen in den vom Imperialismus beherrschten Ländern hervor. Dem entsprechend wurde die traditionelle Losung aus dem Manifest der Kommunistischen Partei „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ mit dem Zusatz „... und unterdrückte Völker der ganzen Welt“ versehen. Die russische Revolution, bei ihren Widersachern so oder so schon verhasst, da sie das heilige Privateigentum anrührt, wird ihnen dadurch nur umso verhasster. Vorgeworfen wird Lenin, Trotzki und den anderen nun zudem, „dass sie ein globales Bündnis mit den Kolonialvölkern gegen den Westen und die Weißen schließen“. (191) Oswald Spengler sieht in ihnen, hier zitiert nach Losurdo, einen „‘Bündnispartner’ und sogar integralen Bestandteil der ‘gesamten farbigen Bevölkerung’“. (191)

Mit dem Angriff des faschistischen Deutschlands auf die Sowjetunion „nimmt Hitler die Errichtung von Deutschindien, wie er sich manchmal ausdrückt, oder die Eroberung eines dem Far West ähnlichen Lebensraums in Angriff“. (235) Die zu erobernden Gebiete sollen deutsches Kolonialland werden. Zuvor war bereits Polen sowie Tschechien dieses Schicksal zugedacht worden. Ganz im Stil des Kolonialismus werden dort Protektorate errichtet. Die im Osten lebenden Völker setzt man einer radikalen rassischen Despezifikation aus, wie sie bisher nur Indianern oder Buschmännern und Hottentotten Afrikas vorbehalten war. Kurzerhand wurden sie zu „Untermenschen“ erklärt. In den Mittelpunkt des Hasses rücken aber die Juden, da „nach Goebbels der ‘jüdische Terror’ das Herz des ‘östlichen Bolschewismus’, dieses Todfeindes der Zivilisation“ ist. (242) „Die Juden seien doppelt orientalisch und doppelt barbarisch: es handle sich um ein Europa und dem Okzident fernstehendes ‘asiatisches Volk’, wie schon Chamberlain und die im Nazismus aufgehende antisemitische Tradition unterstreichen. Sie gehörten also vollberechtigt zu den ‘eingeborenen’ Bevölkerungen. Außerdem seien sie als Anstifter des ‘östlichen Bolschewismus’, ja sogar die ethnische Grundlage des die Zivilisation zersetzenden Virus, den es ein für allemal zu eliminieren gelte.“ (242)

Die Vernichtung des europäischen Judentums beruht auf einer – zu diesem Zweck rassistisch extrem zugespitzten – naturalistischen Despezifikation, die in einem historischen Kontext mit dem Vorgehen der weißen Herrenrasse gegen Indianer, Schwarze und gegen die Unterjochten in den Kolonien steht. Neu und unvergleichlich ist die von Nazideutschland staatlich angeordnete, massenhafte und fabrikmäßige Ermordung der Auszurottenden. Der bürgerlichen Historikerzunft gelingt die Leugnung dieser Kontinuität nur, indem sie die zahlreichen Aussagen Hitlers und anderer Nazigrößen, in denen sie ihr Vorgehen mit dem der weißen Siedler in den USA gegenüber den Indianern vergleichen und offen ihre Bewunderung für die Kolonialpolitik Großbritanniens zum Ausdruck bringen, einfach unter den Tisch fallen lassen.

Losurdos Antwort auf die historischen Revisionisten und
seine andere Sicht auf den Roten Oktober

Losurdos Schlussfolgerungen sind denen der deutschen historischen Revisionisten Carl Schmitt und Ernst Nolte diametral entgegengesetzt. Während sie die Verbrechen des faschistischen Deutschlands mit dem Hinweis auf ein „vergleichbares Vorgehen“ der übrigen weißen Nationen gegenüber den jeweils Unterdrückten relativieren wollen, untersucht Losurdo dieses „vergleichbare Vorgehen“ der anderen daraufhin, ob es sich hier nicht gleichfalls um Verbrechen handelt.

Losurdo legt darüber hinaus einen Blick auf die historische Bilanz des russischen Oktobers frei, der sich von den herrschenden Wertungen grundlegend unterscheidet. Die begangenen stalinistischen Verbrechen werden von ihm keineswegs in Frage gestellt. Er weist jedoch darauf hin, dass diesen Vergehen in der Regel eine Despezifikation auf politisch-moralischer Basis zugrunde lag, vergleichbar dem Terror der Jakobiner. Für das einzelne Opfer mag dies gleichgültig sein. Und doch ist dieser Unterschied wichtig, da eine solche Form der Despezifikation dem Opfer nicht das Menschsein abspricht und damit auch nicht die Menschenrechte als historische Errungenschaft der Geschichte negiert werden. Die „Einheit des Menschengeschlechts“ als Grundlage für das „allgemeine Mitleid“ (75) bleibt erhalten. Der Nazismus hingegen steht in einem „scharfen Gegensatz sowohl zur authentischen Kantschen Ethik als auch zu Hegels Philosophie der Geschichte: denn beide setzen die Kategorie der Allgemeinheit und die Einheit der Gattung Mensch voraus“.[10] Eine Überwindung der politisch-moralischen Despezifikation ist denn auch einfacher und gelingt vergleichsweise schneller als die der tief sitzenden Kategorien der anthropologischen, ethnischen und rassischen Diskriminierung.

Nach 1917 ist es die von der russischen Revolution ausgehende Emanzipationsbewegung der unterdrückten Völker, die die naturalistischen Despezifikationen kritisch in den Blick nimmt. Und allein die Existenz der Sowjetunion erleichtert an vielen Orten der Erde deren Überwindung. Auch aus diesem Grund wurde die Sowjetunion zum Hassobjekt all jener im Westen, die genau daran kein Interesse hatten. In dem ab 1941 von Nazideutschland geführten Feldzug zu ihrer Vernichtung werden ihre Führer unter der Brandmarkung einer „jüdisch-bolschewistischen Intelligenz“ selbst zum Opfer einer solchen Ausgliederung aus der menschlichen Gesellschaft und für die Vernichtung ausersehen.

Losurdo gelingt es, überzeugend Zusammenhänge zwischen anscheinend völlig eigenständigen historischen Ereignissen herzustellen und damit zur Aufklärung und Kritik der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft beizutragen. Kampf um die Geschichte ist darüber hinaus ein wichtiges Buch für die Linke, da es sich nicht mit vorschnellen Urteilen über die Bilanz des Sozialismus, gefällt unter Verwendung eines generalisierenden Verdikts des Stalinismus, zufrieden gibt. Angesichts des 90. Jahrestags der russischen Revolution liefert es vielmehr einen unverzichtbaren Beitrag zur Diskussion über das geschichtliche Wirken des Roten Oktobers, ist es doch an der Zeit, dass sich die Linke klar darüber wird, was da wirklich vor neun Jahrzehnten begann. Losurdos Buch bietet für diese Diskussion eine gute Grundlage. Dem Urteil von Jean Blain aus seiner Besprechung kann daher nur zugestimmt werden: „Un exercise salutaire!“ – ein zu begrüßender Beitrag![11]

[1] Luciano Canfora, Eine kurze Geschichte der Demokratie, 4. durchgesehene und erweiterte Auflage mit einem Nachwort von Oskar Lafontaine, Köln 2007.

[2] Zu Domenico Losurdos auf Deutsch erschienenen Büchern und Beiträgen vgl. Andreas Wehr, Über Domenico Losurdos Beitrag zur Wiedergewinnung des Selbstbewusstseins der Linken,in: Z 49, März 2002 (Teil I), S. 115 ff. und 52, Dezember 2002 (Teil II), S. 133 ff.; Sabine Kebir, Menschenrechte, Staat und Steuern bei Hegel. Der italienische Philosoph Domenico Losurdo bringt Hegel in die für die Linke notwendige Staatsdiskussion, in: Z 70, Juni 2007, S. 89 ff. Zu Losurdos „Controstoria del liberalismo“ (Bari 2005, 2.A.) vgl. B.H.F. Taureck in Z 67, September 2006, S. 190 ff.

[3] Auslöser dieser Debatte war seinerzeit Ernst Noltes Werk, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945, 1987, Frankfurt a. M./Berlin. Zur gesamten Debatte vgl. auch: Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München/Zürich 1995.

[4] So erklärte Josef Joffe, einer der Herausgeber der ZEIT: Das Ende der DDR und der Sowjetunion markiere „das Ende des totalitären Zeitalters überhaupt, das genau 200 Jahre zuvor mit der Französischen Revolution begonnen hatte“, Die Beton-Blamage, in: DIE ZEIT vom 09.08.2001.

[5] Vgl. zur fatalen Rolle Edmund Burkes gerade für die deutsche Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, Frankfurt/M., 2000.

[6] Zitiert nach Arthur Rosenberg, Geschichte des Bolschewismus von Marx bis zur Gegenwart, Berlin 1932.

[7] In ihrem 2006 erschienenen Buch Ordnung durch Terror verallgemeinern die deutschen Historiker Jörg Baberowski und Anselm Doering-Manteuffel diese Phase der sowjetischen Geschichte und erklären sie sogar zu konstitutionellen Bestandteilen der sowjetischen Ideologie. In einem ganzseitigen Interview in der FAZ vom 16. März 2007 unter der Überschrift Hitler und Stalin waren Paralleltäter sagt etwa Jörg Baberowski: „Der sowjetische Rassismus ist ganz klar ein kultureller Rassismus, zum Beispiel sind die Tschetschenen ein ‘Banditenvolk’, und die Armenier sind ein ‘Händlervolk’, die Polen sind ein ‘Verrätervolk’.“ Die noch von den historischen Revisionisten vertretene These eines kausalen Nexus zwischen der bolschewistischen Revolution und der faschistischen und nationalsozialistischen Antwort lehnen die beiden Autoren zugleich ab. Anselm Doering-Manteuffel in dem FAZ-Interview: „Wir setzen uns von der These des kausalen Nexus ab, weil wir das Argument stärker akzentuieren wollen, dass die Entwicklungen parallel verlaufen.“

[8] Domenico Losurdo, Über Staat und Demokratie, Kommunismus und Geschichte, in Z 70, Juni 2007, S. 72ff.

[9] Ho Chi Minh, Die russische Revolution und ihre Kolonialvölker,in: Reden und Schriften, Leipzig 1980, S. 37 – 41.

[10] Domenico Losurdo, Ethik contra Geschichtsphilosophie, in: Ders., Hrsg., Geschichtsphilosophie und Ethik, Frankfurt/M. 1998.

[11] Jean Blain, De la Révolution à Auschwitz, in : Lire, mars 2006.