Weitere Beiträge

Grundlagen und Entwicklung der Sowjetgesellschaft

September 2008

I.

Das abrupte Ende der staatssozialistischen Ordnung in der Sowjetunion markiert einen tiefen Einschnitt in der neueren Weltgeschichte. Für die große Mehrzahl der Menschen in aller Welt kam dieses spektakuläre Ereignis überraschend, aber auch für einen großen Teil der Politiker und selbst der Historiker und Politologen, die sich mit den politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen und Entwicklungen der UdSSR beschäftigten, kam dieser Zerfall unerwartet.

Für politisch interessierte Bürgerinnen, vor allem aber für Politiker, Publizisten, Historiker und Politologen mußte sich die Frage nach den Ursachen dieses dramatischen Großereignisses stellen. Nach meiner allerdings lückenhaften Kenntnis geschah das allerdings nur in geringem Maße. Die Mehrzahl z.B. der „Sowjetologen“ stürzte sich sofort auf die Beobachtung und Analyse des so genannten Transformationsprozesses, der tiefgreifenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Nicht wenige übernahmen im „neuen Russland“ Berater- und ähnliche Funktionen.

Ich möchte nachfolgend eine Reihe von thesenartigen Feststellungen zum historischen Phänomen des sowjetischen Kommunismus und seiner Entwicklung vortragen. Natürlich geht es dabei nicht um eine Wiedergabe der chronologischen Abläufe, die weitaus mehr Zeit beanspruchen würde, als uns zur Verfügung steht. Vielmehr sollen einige der wichtigsten politischen, wirtschaftlichen, strukturellen und gesellschaftlichen Konstellationen im Hinblick auf ihre jeweilige Bedeutung für die weitere Entwicklung der Sowjetgesellschaft in Erinnerung gerufen werden.

II.

Nach der Errichtung der Sowjetmacht in Rußland durch die Oktoberrevolution von 1917 war sowohl unter russischen wie unter westeuropäischen Sozialisten umstritten, ob diese revolutionäre Übernahme der politischen und gesellschaftlichen Macht berechtigt war. „Berechtigt“ weniger in einem politisch-moralischem Sinne als vielmehr in einem theoretischen und sachlichen, also z.B. wirtschaftlichen und gesellschaftlichen. In den an der Theorie von Karl Marx orientierten sozialistischen Parteien galt die These, dass eine Überwindung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und die Errichtung einer sozialistischen auf einem entwickelten Niveau der gesellschaftlichen Produktivkräfte gründen müsse, auf moderner Industrie und Technologie, auf allgemeiner Bildung, hoher Qualifizierung, Zivilisierung und Kultur. All das war in Rußland nicht gegeben und Lenin und seine Genossen wußten das durchaus. Einige widersprachen aus dem Grunde auch der Machtübernahme. Lenin rechtfertigte diese vor allem mit den Argumenten, dass die Revolution in Russland als Fanal für eine westeuropäische Erhebung des Proletariats wirken solle und auch werde, die den genannten Voraussetzungen entsprechen würde, sowie, dass die sozialen, politischen und ideologischen Verhältnisse in Russland keine realistische konstruktive, akzeptable und bestandsfähige Alternative zur Macht der Bolschewiki bieten. Denkbar sei nur die Alternative einer Diktatur der reaktionärsten Kräfte, die zum Chaos führen müsse.

Nach einem verlustreichen und zerstörerischen Bürgerkrieg 1918-1921, in den mehrere Westmächte zugunsten der Gegner der Bolschewiki intervenierten, die jedoch letztlich die Oberhand behielten, errichtete die Sowjetregierung eine politische und wirtschaftliche Ordnung, deren strukturelle Umrisse Lenin schon im April 1918 entworfen hatte (,‚Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“). Dass unter den gegebenen Voraussetzungen die angestrebte Gesellschaft keine kommunistische oder sozialistische im Sinne von Marx sein konnte, war Lenin und der Mehrheit der führenden Bolschewiki bewusst. Worum es vor allem gehen sollte, war das Nachholen jener gesellschaftlichen Produktivkraftentwicklung, die schließlich sozialistische Verhältnisse ermöglichen würde. Die beabsichtigte und in etwa auch realisierte gesellschaftliche Grundstruktur war gekennzeichnet politisch durch eine autoritäre Machtordnung der Bolschewiki, landwirtschaftlich durch vorwiegend individuelle kleinbäuerliche Bewirtschaftung, die sich zu einer genossenschaftlichen entwickeln sollte sowie durch staatliche Verfügung und Lenkung der wenigen großen und der mittleren Industrie bei Zulassung individueller Kleinindustrie, Gewerbe und Einzelhandel. Diese so genannte. „Neue ökonomische Politik“ war bis 1927/28 zumindest insoweit erfolgreich, als das Niveau der Vorkriegsproduktion, das nach dem Bürgerkrieg auf ein Drittel und weniger abgesunken war, erreicht und z.T. übertroffen wurde. Nach dem Tod Lenins im Jahre 1924 kam es in der Parteiführung zu wechselnden Fraktionierungen. Der zunächst hauptsächliche sachliche Konflikt ging darum, ob die Politik vorrangig auf Forcierung der Revolution in Westeuropa (oder auch in Asien) gerichtet sein solle oder auf die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung der Sowjetgesellschaft (Schlagwort „Sozialismus in einem Lande“).

Gegen Ende der zwanziger Jahre stand die oberste sowjetische Machtinstanz, die Führung der KPdSU vor folgendem Problem: Die als absolut vorrangig erachtete industrielle Entwicklung wurde ermöglicht vor allem durch Abschöpfung des agrarwirtschaftlichen Mehrprodukts. Infolge der vorwiegenden kleinbäuerlichen Struktur war dieses jedoch unzureichend und es wurde zunehmend geringer, weil die Kluft zwischen landwirtschaftlichen Aufkaufpreisen und gewerblichen Verkaufspreisen so groß wurde, daß die Bauern den Anreiz zum Verkauf ihrer Produkte an den Staat verloren. In der Parteiführung bildeten sich – verkürzt formuliert – wiederum zwei gegensätzliche Hauptfronten heraus: Lösung des Problems durch Einsatz von Gewaltmitteln, d.h. Konfiszierung der Ernten und Zwang zur Bildung von agrarischen Kollektivwirtschaften oder aber durch Stimulierung der bäuerlichen Wirtschaftsinteressen durch Angebot preiswerter gewerblicher Erzeugnisse und durch Forcierung freiwilliger kleinbäuerlicher Zusammenschlüsse. Anfang der dreißiger Jahre setzte sich die erste Alternative durch, symbolisiert durch den Namen Stalin.

III.

In diesem Zusammenhang entstand das diktatorische und despotische stalinistische Regime. Wie war das möglich? Diese berechtigte Frage kann hier nicht beantwortet werden, weil die Ursachen zu komplex, zu vielfältig und zu verwickelt sind. Nur soviel: Viele Autoren behaupten, die Despotie Stalins sei durch das autoritäre Regime der zwanziger Jahre vorbereitet gewesen. In der Tat waren schon zu dieser Zeit die nicht in der Partei engagierten und dort höher gestellten „gewöhnlichen“ SowjetbürgerInnen von wirksamer politischer Beteiligung ausgeschlossen. Die tradierte russische Wertschätzung einer „Obrigkeit der starken Hand“ läßt jedoch vermuten, dass es Stalin auch ohne die vorausgehende autoritäre politische Ordnung möglich gewesen wäre, populistisch eine Mehrheit hinter sich zu bringen. Überhaupt wirkten am Aufstieg Stalins, seiner Politik und seines Regimes russische Traditionen, Normen und Verhaltensmuster mit. Zur sowjetischen Herrschaftsform, Politik und Entwicklung zwischen 1932 und 1953, also in der Ära des „Stalinismus“, formuliere ich nachfolgend einige Thesen:

· Das stalinsche diktatorisch-despotische Regime war keineswegs vorgezeichnet und unabwendbar. Bei mehreren politischen Weichenstellungen wären Alternativen möglich gewesen. Allerdings ist es auch nicht reiner Zufall, dass diese nicht verwirklicht wurden.

· Unter politisch-moralischen, ethischen, humanitären, rationalen und zivilisatorischen oder gar sozialistischen Kriterien ist die stalinsche despotische Herrschaftsform in keiner Weise zu rechtfertigen, zu verharmlosen, zu relativieren. Für mich gilt das uneingeschränkt. Allerdings muß die Stalinära auch nach weiteren Kriterien bilanziert werden.

· Die Industrialisierung war, nicht zuletzt im Hinblick auf die Rüstung des Landes, primäres Ziel und Rechtfertigung der Politik der Parteiführung. Erfolge auf diesem Gebiet wurden nicht nur in der SU gefeiert, sie wurden auch im Ausland anerkannt. Sie sind nicht zu leugnen, müssen sachlich aber relativiert werden. Vor allem wurden die unstrittigen Produktionserfolge mit zu hohem Aufwand an Material und Arbeitskraft sowie bei viel Ausschuß und häufigen Qualitätsmängeln erzielt, im Ergebnis bei geringer Produktivität. Diese ist jedoch der ökonomisch maßgebliche Indikator. Das System zentraler, direktiver, detailversessener und an quantitativen Erfolgsparametern gemessener Planwirtschaft mit übermäßiger Ausrichtung auf die Schwerindustrie mag in Anbetracht vielfacher defizitärer Voraussetzungen für jene Jahre legitimierbar sein. Immerhin gelang gegen Ende der dreißiger Jahre auch eine gewisse Anhebung der materiellen und sozialen Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen. Die Unfähigkeit der Parteiführungen nach Stalin, diese Produktionsweise grundlegend zu verändern, erwies sich jedoch als eine der Hauptursachen des Niedergangs der Sowjetgesellschaft.

· Die Stalinära, vor allem die Jahre 1936-39, war die Zeit massenhafter Hinrichtungen vor allem vermeintlicher und potentieller Gegner des Regimes sowie der Errichtung eines riesigen Netzes von Arbeitslagern, in die Männer und Frauen schon wegen geringfügiger Vergehen, aufgrund von haltlosen Denunziationen oder gar willkürlich verschickt wurden. Das ist allgemein gut bekannt. Viel weniger beachtet wird, dass der stalinsche Terror zwar viele, aber längst nicht alle traf. Im Zuge des hohen Bedarfs an Arbeitskräften, vor allem an qualifizierten sowie an Wissenschaftlern, Ingenieuren Technikern und Funktionären verschiedenster Bereiche ergaben sich für viele vor allem jüngere Menschen Karrierechancen. Die ständig propagierte und gefeierte Industrialisierung und Modernisierung rief, wiederum vor allem bei jungen Leuten, durchaus Enthusiasmus hervor. Besonders gilt das auch für die in die entstehenden Städte und Industriezentren drängenden jungen Landbewohner.[1]

· Seinen größten Triumph – und für viele zugleich die Legitimation – fand das Stalinregime im ungeheuer verlustreich erkämpften Sieg über Hitler-Deutschland. Unter schwierigsten und dürftigsten Kriegsbedingungen vollbrachten sowjetische Soldaten und Offiziere, aber auch Arbeiter, Ingenieure und Techniker, z.B. bei der Demontage und Wiedererrichtung ganzer Industrieanlagen, die in östliche Regionen verlagert wurden, enorme Leistungen. Diese zeugten davon, dass Eigeninitiative, wie sie unter den gegebenen oft chaotischen Bedingungen gefordert und unerläßlich war, wirksamere Resultate als obrigkeitliche Anweisungen erbrachte. Die ungeheueren Lasten und Leiden, die Kämpfende und Zivilbevölkerung in diesem „Großen vaterländischen Krieg“ ertragen mußten, festigten trotz des inhumanitären politischen Regimes die nationale und soziale Identität der sowjetischen Menschen.

· Daß Stalin im Verkehr mit ausländischen Staatsmännern, über die er keine Macht hatte, durchaus rational verhandeln konnte, belegt seine Haltung in den Kriegskonferenzen, vor allem mit Churchill und Roosevelt, von Teheran bis Potsdam. Von vielen westlichen Historikern und Politologen wird das nicht zugestanden, weil ihr Maßstab das Interesse der Mächte ist, denen sie sich zugehörig fühlen. Dass ein Diplomat auch in den Interessen und Möglichkeiten seiner Kontrahenten mitdenken und sie berücksichtigen muss, wurde wohl schon nach Bismarck vergessen. Denunzierten die Westmächte in dem spätestens 1946/47 einsetzenden „Kalten Krieg“ den „Expansionsdrang“ der UdSSR nach Westeuropa, so sahen Stalin und viele Sowjetbürger sich um einen Großteil der Früchte des Sieges der SU betrogen. Ohne die erhoffte westliche Wirtschaftshilfe und bei ständigem politischen Druck auf die sowjetische Führung, wurde der Wiederaufbau, vor allem der dezimierten Industrie, in relativ kurzer Frist (etwa 1949/50) geleistet. Danach stieß allerdings die bisherige sowjetische Produktionsweise an ihre Grenzen. Wieweit das Stalin bewußt war – er verfaßte kurz vor seinem Tode die Schrift „Die ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR“ – , ist nicht eindeutig auszumachen.

IV.

Nach dem Tod Stalins im März 1953 setzte innerhalb der KPdSU-Führung Rivalität um die Spitzenposition ein, aus der 1955 N.S. Chruschtschow als Sieger hervorging, der auf dem XX. Parteitag (Februar 1956) in geschlossener Sitzung seine spektakuläre Anklage gegen Stalin vortrug. Den brutalsten Formen von Gewaltherrschaft, der Hinrichtung vermuteter oder behaupteter, nicht aber erwiesener Oppositioneller sowie den häufigen Verurteilungen zu langjähriger Lagerhaft auf Verdacht oder wegen geringfügiger Vergehen, wurde jedoch schon bald nach dem Ableben Stalins Einhalt geboten. Durch mehrere Amnestien erlangte ein erheblicher Teil der Lagerinsassen die Freiheit. Das politische Regime blieb ein autoritäres; Willkür- und Gewaltherrschaft wurden jedoch in der Tendenz von der Regel zur Ausnahme. Populär wurde die Kennzeichnung der Ära Chruschtschows als „Tauwetter“, eine Metapher, die dem Titel eines Romans[2] entlehnt war.

Für die Mehrheit der Sozialisten und auch für viele Kommunisten in Westeuropa war Stalin der Totengräber des Sowjetkommunismus. Das kann man vor allem moralisch und humanitär durchaus so sehen. Allerdings schloß nach meiner These die Phase der stalinschen Gewaltherrschaft nicht zwingend aus, dass sich nach ihrem Ende eine Entwicklung zu zivilisierten, rechtsstaatlichen, humanitären und sogar in gewisser Weise sozialistischen Formen von Staat, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft durchsetzen würde. Es mag paradox erscheinen, ist aber begründbar, daß die wesentlichen Voraussetzungen für die Erosion des staatssozialistischen Regimes in der Ära nach Stalin erzeugt wurden.

Die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der KPdSU in der fast dreißigjährigen Phase Chruschtschows und Breschnews war geprägt von zwei gegensätzlichen Haltungs- und Handlungsweisen der Machtorgane zugleich: Dogmatismus und Pragmatismus. Gefordert war jedoch Realismus, an dem es in vieler Hinsicht fehlte. Abstrakt gesehen, stand die Partei- und Staatsführung der SU nach Stalin und nach dem Wiederaufbau der Industrie vor der Entscheidung, einen eigenständigen Entwicklungspfad der Wirtschafts-, Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Orientierung an und Abhängigkeit von den kapitalistisch-liberalen Gesellschaften einzuschlagen, was in Anbetracht des natürlichen Reichtums und des Humanpotentials der Union im Prinzip realisierbar war, oder aber die eigene Entwicklung an den vor allem wirtschaftlichen Resultaten kapitalistischer Produktion auszurichten. Den sowjetischen Machtträgern, aber auch den Wirtschaftsexperten und -praktikern war offensichtlich nicht bewußt, dass jene zum Maßstab erhobenen Resultate bestimmte Institutionen und Methoden des Wirtschaftens bedingten, die zu übernehmen allerdings nicht beabsichtigt war.

Gute Wirtschaftsresultate in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre verleiteten Chruschtschow dazu, die USA zum ökonomischen Wettbewerb herauszufordern, Mitte der sechziger Jahre schon sollte die sowjetische Erzeugung bestimmter Standardprodukte die der USA übertreffen. Bereits am Beginn dieses Jahrzehnts gingen jedoch die Wachstumsraten zurück. Bestimmte Veränderungen der bisherigen Produktionsweise wurden ins Auge gefaßt und einige Konzepte dazu publiziert und diskutiert (z.B. E.G. Liberman). Beschlossen wurde ein umfassendes ökonomisches Reformkonzept erst nach Chruschtschows Entmachtung, 1965. Es wies sachlich in die notwendige Richtung und wurde in der typischen Kampagnenmanier propagiert, aber nicht realisiert, sondern nach wenigen und zaghaften Implementierungsansätzen stillschweigend begraben. Wie konnte es dazu kommen? Die Antwort der Mehrzahl westlicher Sowjetologen war, die Dogmatiker an der Parteispitze und die zentrale staatliche Bürokratie hätten die Durchsetzung der Veränderungen blockiert. Meines Erachtens war maßgeblicher, daß entgegen den Annahmen der Totalitarismustheoretiker die Partei und die Staatsmacht schon nicht mehr imstande waren, die Ausführung obrigkeitlicher Beschlüsse zu kontrollieren und durchzusetzen, wenn diese nicht im Interesse derer lagen, die unter den neuen Bedingungen arbeiten sollten, d.h. hier: die Direktoren der Betriebe und die regionalen Wirtschaftsverwaltungen.

Die Leistungs- und vor allem die Effizienzschwäche der sowjetischen Ökonomie wurden in den 70er Jahren nicht überwunden. 1974 und 1979 wurden neue Reformbeschlüsse gefaßt, deren Umsetzung in die Praxis erst gar nicht versucht wurde. Inzwischen war eine Art Ersatz für die ausbleibende Problemlösung gefunden: Verstärkung des Exportes von Erdöl in Volkswirtschaften mit harter Währung. Die so erzielten Deviseneinnahmen ermöglichten den Import von Getreide und fortgeschrittener Produktionstechnik, soweit sie nicht unter das westliche Lieferungsverbot fiel. Die sowjetischen Westexporte beliefen sich 1970-1975 auf 26,9 Mrd US-Dollar‚ 1976-1980 auf 78,4 und 1981-1985 auf 120,0 Mrd US-Dollar. Der Anteil an Energieträgern betrug ca. 70 Prozent. Die entsprechende Handelsbilanz war in dem gesamten Zeitraum defizitär. Nicht unerwähnt darf bleiben, dass die Probleme der sowjetischen Wirtschaft in dieser Zeit auch dadurch bedingt waren, daß sich die Führung auf das von den USA forcierte Wettrüsten einließ.

Ebenfalls nur sehr verkürzt kann der im gegebenen Zusammenhang wesentliche gesellschaftlich-politische Prozeß benannt werden. Es geht um Entwicklungen in der Gesellschaft, um veränderte Einstellungs- und Haltungsmuster in der so genannten „Intelligencija“ und in der breiten Bevölkerung. Die Breschnew-Ära, vor allem ab den 70er Jahren, war durch eine merkwürdige Mischung von ideologischem Dogmatismus, selektiver Repression und libertärem laissez faire gekennzeichnet. Das propagierte Selbstbild der Gesellschaft war das überkommene sowjetische, geprägt von einem zwar eher schlichten Marxismusverständnis, das aber immerhin egalitäre, soziale, humanitäre und partizipatorische Normen einschloß. Diesem Selbstbild widersprach die politische und gesellschaftliche Realität in einer anderen Weise, als es in der Stalinära der Fall war. Im Vergleich zu dieser hatten die BürgerInnen größere Informationsmöglichkeiten und im privaten Bereich waren auch kritische Meinungsäußerungen wenig riskant. Partizipation, Beteiligung an sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen oder gar politischen Entscheidungen gab es für die gesellschaftliche Mehrheit aber nicht. Infolge der zwar nicht garantierten, aber existierenden laissez faire-Haltung unterer parteilicher und staatlicher Instanzen waren viele Verhaltens- und Handlungsweisen, von schlicht privatistischen bis zu kriminogenen möglich, die formell nicht gebilligt und offiziell nicht existent waren. Vor allem in der jüngeren Generation und in der Intelligencija bewirkte der Widerspruch zwischen Idealen, Normen und Realität Abkehr von Anerkennung der Autoritäten, des Regimes und der sozialistischen Verheißungen. Dagegen war zumindest in diesen Schichten eine erhebliche Hinwendung zu früheren russischen Denkweisen, zu Mystizismus, Skeptizismus, Nihilismus nicht zuletzt aber auch zu gegenwärtigen westlichen Anschauungsweisen bis hin zum Neoliberalismus feststellbar. Ein nicht unwesentlicher Teil der jüngeren Generation versagte sich dem Regime, z.B. durch Weigerung, verantwortliche Funktionen zu übernehmen oder überhaupt ein reguläres Arbeitsverhältnis einzugehen.

Hinzu kam die Erosion der planwirtschaftlichen Produktionsweise. Korruption, informelle Wirtschaftsbeziehungen und sich ausdehnende Schattenökonomie bestimmten die Wirtschaftsabläufe in steigendem Maße gegenüber den normativ regulären Funktionsregeln. Das geschah im Ergebnis keineswegs immer zum Nachteil der Wirtschaftsresultate, jedoch wurde in der Folge dessen die Fähigkeit der staatlichen Instanzen immer geringer, die ökonomische Entwicklung zu steuern, Prioritäten durchzusetzen, Kontrolle auszuüben usw. Die rigide Befehlswirtschaft unter Stalin war in dieser Hinsicht effizienter. Auch die Qualifizierung der Wissenschaftler, Ingenieure und Facharbeiter wurde in der Stalinära offenbar konsequenter und erfolgreicher forciert. Große Bau- und Industrieprojekte wurden unter Stalin zumeist mit größeren oder geringeren Mängeln ausgeführt, aber von sowjetischen Architekten, Wissenschaftlern, Technikern und Arbeitern realisiert, was nunmehr in immer geringerem Maße der Fall war. Weil es die Öl- und Gasexporte ermöglichten, wurden solche Vorhaben immer häufiger ausländischen Firmen übertragen, letztlich zu Lasten eigener Forschung; Entwicklung und Qualifizierung.

V.

Die Jahre 1985 bis 1991 markieren die letzte Phase des staatssozialistischen Regimes der UdSSR. Für diese Jahre stehen symbolisch der „Wundermann“ M. Gorbatschow und das Schlagwort „Perestrojka“. Im April 1985 trat Gorbatschow an die Spitze der KPdSU-Führung. Eifrig reiste er durch die Lande und propagierte eine „tiefgreifende Reform aller Bereiche der Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage“, eben jene „Perestrojka“ (Umgestaltung). Über eine Konzeption zur Veränderung der Wirtschaftsordnung verfügte er offenbar nicht (obgleich er einmal mitteilte, er habe schon vor seiner Ernennung zum Ersten Sekretär des ZK der KPdSU einen Kreis namhafter Ökonomen zu Beratern gehabt). Vermutlich hatten er und der Kreis seiner Vertrauten aber Pläne für politische und gesellschaftliche Neuerungen. Diese mündeten 1989/90 faktisch in einen Zerfall der bisher stärksten Machtsäule der sowjetischen Gesellschaft, der KPdSU. Jahre nach seiner Entmachtung durch Jelzin behauptete Gorbatschow öffentlich mehrmals, er habe das schließliche Resultat der „Perestrojka“, das Ende des sowjetischen Staatssozialismus von Anfang an gewollt. Ich bezweifle das, aber es spielt heute auch keine Rolle mehr.

Zwischen 1986 und 1989‚ im Verlauf von also nur vier Jahren, wurden unter der Parteiführung Gorbatschows zumindest fünf der Absicht nach tiefgreifende Neuerungen beschlossen. Zwei blieben faktisch wirkungslos, schon weil kaum versucht wurde sie umzusetzen. Es waren das ein völlig untaugliches, bürokratisch-institutionelles Vorhaben einer Wirtschaftsreform sowie ein vernünftiger, aber eben nicht realisierter Ansatz zur Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung der Beschäftigten. Die drei anderen Neuerungen waren äußerst wirksam im Hinblick auf das Endresultat der „Perestrojka“. Es waren die unter der Parole „Glasnost“ (Öffentlichkeit) erstaunlich rasch durchgesetzte Herstellung von Presse- und Meinungsfreiheit, die unter dem Begriff „Neues Denken“ vollzogene Wende in der Außenpolitik, vor allem in der Absicht, eine verstärkte Berücksichtigung der Interessen und Forderungen der Westmächte honoriert zu bekommen, sowie die Parlamentarisierung der überkommenen staatlichen Sowjetstrukturen.

Wie erklären sich die wie immer zweifelhaften „Erfolge“ dieser drei radikalen Veränderungen in Anbetracht des notorischen Scheiterns von Wirtschaftsreformen von Chruschtschow in den fünfziger bis Andropov in den frühen achtziger Jahren? Kurz gesagt dadurch, dass die oben beschlossenen Wirtschaftsreformen nicht im Interesse der mittleren und unteren Instanzen lagen, die sie hätten verwirklichen sollen, d.h. die regionalen Wirtschaftsverwaltungen und die Betriebsleiter. Diese Konstellation war aber bei den drei „Perestrojka“-Maßnahmen nicht gegeben. Insbesondere bezüglich „Glasnost“, aber mehrheitlich bald auch bei der Umgestaltung des politischen Systems waren die betroffenen Akteure stark an der Realisierung interessiert.

In der westlichen Öffentlichkeit wurde Gorbatschows „Perestrojka“ mit wahrem Enthusiasmus aufgenommen und man nahm mit Unverständnis zur Kenntnis, dass sie in der breiten Bevölkerung der UdSSR auf Skepsis, Desinteresse und Ablehnung stieß. Die Ursachen dafür liegen genau in den zuvor von mir verkürzt bezeichneten Entwicklungen in den 70er Jahren: Die weit verbreitete individuelle und auch kollektive Verarbeitung der Kluft zwischen gesellschaftlichen Normen, Postulaten, Verheißungen und der andersartigen, als unveränderlich wahrgenommenen Realität. Die schweigende Abwendung von sozialistischen Idealen, von der Hoffnung auf Chancen zu politischer und gesellschaftlicher Beteiligung, auf mehr garantierte Freiheiten und auf ein höheres materielles Wohlstandsniveau; die Neigung zu gesellschaftlicher Indifferenz, Mystik, obskuren Lehren und westlichem Denken, die vor Gorbatschow nur gedacht werden konnten, durften nunmehr ausgesprochen und sogar propagiert werden. Davon wurde in erstaunlichem Maße Gebrauch gemacht und die bis dahin eher auf die Schicht der Intelligencija beschränke Neigung zu Liberalismus und Marktökonomie wurde zunächst einmal wirksam popularisiert.

Ganz knapp kann resümierend festgestellt werden: In der sowjetischen Machtelite von Lenin bis Gorbatschow gab es nur bis Anfang der dreißiger Jahre eine Anzahl von Persönlichkeiten mit einem authentischen Verständnis der Theorie sowie der Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftskritik von Marx und Engels. In den späteren Phasen waren es nicht nur wenigere, sie gehörten in der Regel auch nicht den höheren Stufen der Machthierarchie an. Eine Folge davon war, daß es in der UdSSR von Chruschtschow bis Gorbatschow kein Reformkonzept von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gab, das jenseits von autoritärem Staatssozialismus, bürgerlich-liberaler Gesellschaft und kapitalistischer Ökonomie auf die humanitären und emanzipatorischen Bestimmungen ausgerichtet war, die vor allem bei Marx, wenn oft auch nur implizit und indirekt formuliert, auszumachen sind: eine Wirtschaftsweise, deren Triebkraft und Ziel die Befriedigung der sozial und vernunftbegründeten gesellschaftlichen und individuellen Bedürfnisse ist; Selbstbestimmung der sozialen Subjekte, der Individuen und der Kollektive; Ausübung von Machtfunktionen unter beständiger Kontrolle, auf Zeit und auf Widerruf; freie Entfaltung der Individualität ohne Vorrechte gegenüber anderen Personen und Gruppen; umfassend partizipatorische gesellschaftliche und politische Beziehungen auf der Grundlage rationaler Argumente, vernünftiger Interessen und Entscheidungen.

Man könnte dieser Feststellung ankreiden, sie verstoße gegen einen Kernpunkt der Theorie des historischen Materialismus, indem gesellschaftliche Entwicklung vom subjektiven Faktor der Fähigkeiten der sozialen Akteure abhängig gemacht wird. Dieser Faktor kann jedoch in bestimmten gesellschaftlichen und politischen Konstellationen von hoher Wirksamkeit sein, allerdings ist seine Ausprägung abhängig von Bedingungen, die als „objektive“ verstanden werden, wie z.B. das Niveau der sachlichen und der personalen Produktivkräfte, des Standes der gesellschaftlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, des kulturellen und zivilisatorischen Niveaus u.ä.m.

[1] Garros, V.; Korenewskaja, N.; Lahusen, Th.: Das wahre Leben. Tagebücher aus der Stalinzeit, Berlin 1998.

[2] Es handelt sich um einen Roman des Schriftstellers Ilja Ehrenburg. Anm. d. Red.