Diskussion, Kritik, Zuschriften

Zu den sechs Thesen von Ekkehard Lieberam in Z 80

Dezember 2009

Die sechs Thesen von Ekkehard Lieberam zum Thema „Die DDR als Erfahrungsobjekt sozialistischer Gesellschaftsgestaltung“ verdienen meiner Meinung nach einen lebhaften Zustrom von Leseräußerungen, vielleicht könnte doch einmal eine übergreifende, eine mehr in die Tiefe gehende Diskussion zu der besagten Thematik zustande kommen. Mal sehen. Ich will gleich auf eine Möglichkeit hinweisen: Über die DDR diskutieren – unter diesem Gesichtspunkt – heißt, auch über die UdSSR zu diskutieren resp. weitere sozialistische Länder dieses gleichen Systems. Auch sie ist ein Erfahrungsobjekt sozialistischer Gesellschaftsgestaltung, natürlich mit einigen anderen Rahmenbedingungen bzw. historischen Voraussetzungen, die die DDR bzw. andere Länder nicht teilen, aber wir können doch ziemlich ausgiebig von einem gleichen ökonomischen System ausgehen, so dass in dieser Hinsicht über die DDR sprechen heißt, über die Sowjetunion sprechen, und umgekehrt. Wir können tatsächlich viele „Fliegen“ mit einer Klappe treffen, das heißt in diesem Falle, mit der DDR alle sozialistischen Länder (gleichen ökonomischen Systems).

Nehmen wir nur These 1 von Ekkehard Lieberam; er spricht dort von Rahmenbedingungen (der DDR), schwierigen, macht aber in der Beantwortung (Erklärung, Begründung) der These gleich auf einen inneren Gegensatz aufmerksam, der Verhaltensweisen der DDR betrifft. Er unterscheidet zwischen einer unvermeidlichen, äußerlich bedingten „Rigidität“ der DDR, einer sowohl unvermeidlichen und wohl auch begründeten – wozu er auch, für mich etwas überraschend, die „führende Rolle der Partei“, „im Sinne der Ausübung der politischen Macht durch eine Avantgardepartei“ zählt (S. 82), und inneren, „nicht durch Zwänge gerechtfertigte Fehlentscheidungen und -entwicklungen“. Dazu zählt er „Einengung der innerparteilichen Demokratie in der SED“ z. B. Also einerseits Avantgardepartei = gut (gegen wen eigentlich Avantgarde – bei zuletzt 2,8 Millionen Mitgliedern?), andererseits mit eingeschränkter innerer Demokratie = schlecht. Lieberam setzt sofort für die DDR einen inneren politischen Gegensatz – im politischen System – voraus, der in die Partei reicht! Das lässt aufhorchen, darüber sollte man sicherlich ein wenig mehr sprechen. Ich komme darauf zurück.

Zu den Zwängen, die nicht äußeren oder historischen Rahmenbedingungen zuzuordnen wären, sondern die nichts als „die Interessen bürokratischer Leitungsapparate bedienten“ – und „letztlich ihren (der DDR, J.) Zusammenbruch mit herbeiführten“, zählt Lieberam „den Abbruch der ökonomischen Reformen Anfang der siebziger Jahre“, er meint das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“, kurz NÖS, das 1963 auf die Beine gebracht worden ist.

Das NÖS hätte die DDR gerettet, d.h. den staatlichen Bestand trotz der Veränderungen in der Sowjetunion gesichert? D.h. es gab eine Möglichkeit der nationalstaatlichen Sicherung der DDR, die nur in den 60er Jahren verpasst – sicher auch in Unkenntnis der Möglichkeit der Veränderungen in der Sowjetunion – worden ist. Das ist eine sehr hohe Aufwertung des NÖS. Es ist ja seine Aufwertung zu einem anderen, zweiten ökonomischen System des Sozialismus. Es verdoppelt quasi den Sozialismus.

Dass Ekkehard Lieberam so denkt, darüber lassen seine weiteren Thesen, die These drei („Keine fertige Sozialismustheorie“), insbesondere aber die Thesen vier und fünf („Sozialismus als selbstständige Gesellschaftsordnung“, „Die Reformperiode 1962-1970 und das Scheitern der DDR im ökonomischen Wettbewerb“) keinen Zweifel. Ekkehard Lieberams Bekenntnis zur Warenproduktion im Sozialismus, zur Fortsetzung des Wertgesetzes in ihm, ist eines der klarsten, das ich in dieser Frage – und als einem praktischen wie theoretischen Fazit aus den „Erfahrungsobjekten realen Sozialismus“ – je gelesen habe. Sie sind wohl noch kein absolutes Nein in der Frage Sozialismus (oder besser Kommunismus?) als eine Planwirtschaft, aber doch ein absolutes für eine zunächst, geschichtlich einsehbar zur Debatte stehende sozialistische Gesellschaft; sie legen – vorausgesetzt die theoretische Darlegung überzeugt – die politischen Kämpfe für eine ganze geschichtliche Periode fest; d.h. sie bestimmen/sollen bestimmen (oder eingehen in) eine zukünftige Form sozialistischer Arbeiterbewegung. Der Vortrag von Ekkehard Lieberam ist schließlich gehalten worden vor wissenschaftlichen Foren (Geschichtskommissionen) der Partei Die Linke und der DKP.

Meine Meinung: Ich bin wirklich dafür, dass einmal in aller Gründlichkeit über das NÖS diskutiert wird. Ich bin aber dafür, dass es nicht von vornherein mit einem Nimbus (dass es den Sozialismus – ökonomisch – gerettet hätte) belegt wird; dieses Prädikat, gut zu sein im Sinne eines geschichtlich tragfähigen Sozialismus, sollte erst am Ende einer gründlichen Prüfung aller seiner Teile verteilt werden. Wir wissen, dass es eine ernsthafte Bestrebung gab, wenigstens den preisförmigen Teil des NÖS in die Realität umzusetzen, dass diese Preisreform aber zeitlich gesehen schon 1965 beendet wurde, und sie letztlich nicht das gesamte Preissystem erfasste; Konsumpreise waren immer aus der Reform ausgegliedert. Geht das aber mit einem systematischen Preissystem, dass es auf zwei sich einander widersprechenden Orientierungen beruht – hier mit Werten bewegte Preise, dort mit Produktionsmengen bewegten Preissummen? Auf steigenden Preissummen beruhte doch die Politik stetig steigender Löhne? Mit dem Wert bewegte Preise, mit der Produktivkraft bewegte Löhne? Das passt doch gar nicht. Und der Reformteil „Gewinnbezogenheit der Löhne“, die zweite tragende Säule des NÖS, auch andere Form der materiellen Interessiertheit genannt (worauf auch Lieberam hinweist), hat überhaupt nicht die Form einer Realität erreicht, war nun wirklich nur Idee. Sind nun Ideen auch Erfahrungen?

Ergo: Über das NÖS diskutieren, und nun wirklich – und es nicht nur dazu benutzen, es der Planwirtschaft entgegenzustellen; und ebenso wirklich über die Demokratiefrage – in der Gesellschaft und (!) in der Partei – diskutieren. Gab, gibt es einen absolutistischen Beginn des Sozialismus, muss (!) es ihn geben, der vor allen Dingen, maßgeblich, die Partei trifft, also das innerste, „führende“ Subjekt selbst. (Kuczynski hat diese Frage einmal aufgeworfen, und ich sprach auch davon (siehe Rezension Heinz Jung; Z 27, September 1996, S. 253/54).

Nun kann das ja alles nachgeholt werden – theoretisch. Das steht ja jedem Theoretiker zu. Aber vorab, vor der wirklichen gründlichen Beweisführung zu sagen, dass es schon der Zweite, oder andere, richtige bzw. richtigere Sozialismus wäre – der dann auch die Bedingung der vollen Demokratie, die „direkten Demokratie von unten“ (Lieberam, S. 82) erfüllte, halte ich für verfrüht.

Auch China, die chinesischen Reformen von 1978, sind nicht der Beweis für das NÖS, das andere als planwirtschaftliche System des Sozialismus, China begründet sich bekanntermaßen anders, nämlich mit einer Variante (chinesischen) der NÖP, also der neuen ökonomischen Politik Lenins. Diese arbeitete aber noch mit Kapitalisten, während im NÖS kein kapitalistischer Anteil vorgesehen ist/war. D.h. im NÖS sollte „bürgerliche Methodik“ ohne bürgerlichen „Methodiker“, d.h. Kapitalisten der Tat nach praktiziert werden, also eine höhere Form als die der NÖP, in der Tat um eine Reform nur mit und für arbeitende Klassen. Es ging oder geht wohl darum, in die einfache, erste marxistische Denkweise, wonach nach der Revolution „kapitalistische Verhältnisse in kommunistische umzuwandeln“ wären (Marx) – und das der Sozialismus bzw. Kommunismus sei –, mehr Licht hineinzubringen, d.h. sich mehr der Formen der Umwandlung mit den beiden Seiten zu vergewissern. Dafür kann man nur sein.

Vielleicht noch dieser Hinweis: Wir diskutieren die Ereignisse der letzten Jahrzehnte unter dem gesellschaftsformativen Gesichtspunkt; das hat sich so ergeben, daran gibt es ein Interesse. Das ist die Lage, die wir nicht umgehen können und nun auch nicht mehr wollen. Aber, reicht nicht der eigentliche Ausgangspunkt der Veränderungen in der Sowjetunion in ersten („erstaunlichen“) Ansätzen schon in eine viel frühere Zeit zurück, ja – Hand aufs Herz: nicht schon bis in die Zeit Stalins zurück, so dass M.S. Gorbatschow nur der letzte in einer ganzen Kette von Sowjetführern war? Ich sage nur ein Wort: Sicherheitsfrage: Was hat sich da die Sowjetunion – und nun Russland (Ja oder Nein?) – nicht alles einfallen lassen, was auch von geschichtlicher Bedeutung war. Es kann doch ganz entgegen unserer gewohnten Sicht auch mal die Sicherheitsfrage die formative Frage beherrschen – noch dazu wenn sie die eines so wichtigen Landes ist, nicht umgekehrt, wie wir es gerne hätten, die formative aber auch alle und jede Frage „beantworten“. Sind denn wirklich alle Ereignisse bzw. Gänge der Geschichte der Menschheit durch die Formationsfrage beantwortet? Müssen wir nicht umgekehrt, nur ein einziges Mal, Fragen für die Formationsfrage beantworten, statt immer durch sie. Die Formationsfrage kann auch mal … machtlos sein (und dann müssen wir für sie nicht einen Gegenstand erfinden – das nur nebenbei. D.h. wir können sie auch überflüssigermaßen diskutieren – wenn ich auch nicht so denke.) Wir müssen auch mal nach den „Bedingungen und Umständen des ersten Erfahrungsobjekts in der Gestaltungsgeschichte des Sozialismus“ fragen – dann kommen wir vielleicht zu den überraschendsten Antworten. Und hier kann die DDR nicht mehr mithalten – was sie allerdings nicht außer Gefecht setzt, wenigstens (!) die formative Frage beantworten … zu helfen.