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Risikokapitalismus

Abschied von einer kapitalistischen „Moderne"

Dezember 2009

Es gibt bei Marx den bedenkenswerten Satz, dass mit der Entwicklung des bürgerlichen Reichtums Armut und Bedürftigkeit für den größten Teil der Arbeiterklasse wachsen:[1] Armut und Reichtum bildeten „den Pol und Gegenpol der kapitalistischen Produktion.“[2] Das klingt zunächst einmal paradox. Und in den Zeiten eines Prosperitätskapitalismus der 60er und 70er Jahre mag auch so manche Marxistin und so mancher Marxist achselzuckend über diese Aussage hinweg gegangen sein. Schien es doch so, als ob – zumindest in den Metropolenländern – die krassesten Formen sozialer Benachteiligung der Vergangenheit angehören würden und an einer allgemeinen Wohlstandsvermehrung auch die Lohnabhängigen partizipierten.

Nicht erst seit dem Krisenausbruch wissen wir, dass dies nur eine historische Sonderphase war, die in den 70er Jahren ihren Wendepunkt erreicht hatte. Schon in den letzten beiden Jahrzehnten machten sich verstärkt Widerspruchsformen bemerkbar, die historisch schon als überwunden galten: Armut und Bedürftigkeit breiteten sich aus, soziale Entwurzelungen und Ausgrenzungen nahmen zu. Die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust wurde zu einer prägenden Sozialerfahrung. Robert Castel spricht von der „Wiederkunft der massenhaften Verwundbarkeit“[3], und davon, dass es zu „einer grundlegenden Umwälzung der Lage der abhängig Beschäftigten“[4] gekommen ist. Der US-amerikanische Mega-Spekulant Warren Buffet hat diese Entwicklung auf den Punkt gebracht: „Es herrscht Klassenkampf, und meine Klasse gewinnt.“

Eine Übergangsphase?

Der Klassenkrieg gegen die Arbeiterklasse tritt mit der globalen Wirtschaftskrise in ein neues Stadium ein. Es kann „vollendet“ werden, was von den neoliberalistischen Strategien von Beginn an beabsichtigt war: die Ausbeutung der Lohnabhängigen zu intensivieren und ihren Anteil am gesellschaftlichen Mehrprodukt spürbar zu reduzieren. Die Absenkung der Lohnquote (also des Anteils der abhängig Beschäftigten am Sozialprodukt) seit Beginn des Jahrzehnts um über 10 Prozent ist nur der Anfang gewesen. Es zeichnen sich in Folge des Angriff sauf die Lebensinteressen einer Bevölkerungsmehrheit, immer deutlicher die Konturen einer Armuts- und Bedürftigkeitsgesellschaft ab. Durch die aktuellen Krisenentwicklungen wird dieser Trend verstärkt, jedoch sind sie nicht von ursächlicher Bedeutung. Im Gegenteil hat die strukturell bedingte längerfristige Reduktion der Masseneinkommen ihren eigenen Anteil an der aktuellen Krise mit ihren ebenso zyklischen wie finanztechnischen Ursachenkomplexen („Spekulationsblase“). Sie verstärkt ihren Charakter als Unterkonsumtionskrise (die ja nur die Kehrseite der Überakkumulation ist).

Viele Indizien weisen darauf hin, dass schon seit längerem ebenso im Zentrum, wie an seiner Peripherie „der Wohlstand des Weltsystems und der Gesamtheit der Arbeitskräfte der Erde“ sinkt[5] - und zwar aus strukturellen Gründen. Das Auffällige an dieser Wohlstandsreduktion für eine Bevölkerungsmehrheit ist, dass sie trotz einer gesamtgesellschaftlichen Wohlstandsvermehrung stattfindet, die jedoch ausschließlich dem oberen Bevölkerungsdrittel zugute kommt.[6] Schon „das Wirtschaftswachstum im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts war ... Wachstum in der Krise, in öffentliche und private Armut.“[7]

In dieser Perspektive sind die jetzigen eruptiven Verwerfungen tatsächlich nur eine Zäsur, innerhalb einer schon länger dauernden sozialen Abwärtsbewegung. In fast allen imperialistischen Hauptländern fanden vergleichbare Entwicklungen statt: Es vergrößerte sich der Abstand zwischen Wohlhabenheit und Bedürftigkeit und gleichzeitig reduzierte sich des Lebensniveau großer Bevölkerungsschichten.

Vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise schien die Frage noch offen, ob diese sich zuspitzende Widerspruchsentwicklung nur als Ausdruck einer Übergangsphase anzusehen wäre und eine neue „sozialstaatliche“ Rekonstruktionsperiode doch noch möglich sei. Solche Illusionen dürften mittlerweile verflogen sein, denn die Veränderungen sind ein grundlegender Angriff auf die Existenzbedingungen der Lohnabhängigen. „Es wird allmählich klar, dass Arbeitslosigkeit und Prekärwerden der Beschäftigung in der gegenwärtigen Modernisierungsdynamik fest verankert sind.“[8]

Symptome dafür existieren schon lange. Beispielsweise verfestigte sich auch in den bescheidenen Konjunkturaufschwüngen der letzten beiden Jahrzehnte die so genannte „Sockelarbeitslosigkeit“ und wuchs die Zahl der Erwerbslosen von „Aufschwung“ zu „Aufschwung“. Wenn neue Arbeitsplätze entstanden, dann hatten sie immer öfter einen prekären Charakter. Die Einkommen der Lohnabhängigen stagnierten und beständig vergrößerte sich die Zahl der Lohnabhängigen, die trotz einer Vollerwerbsstelle ihren Lebensunterhalt kaum mehr bestreiten können.

Schon vor 15 Jahren hatte Karl Heinz Roth auf einen Trend hingewiesen, der mittlerweile realitätsprägend geworden ist: „Ein neues Proletariat ist im Entstehen, dem die kollektiv geregelten Normalarbeitsverhältnisse und die sozialstaatlichen Vermögenssurrogate für die Wechselfälle des Daseins zunehmend fremd werden. Es wird über den aktuellen Krisenzyklus hinaus, langfristig durch die Erfahrung von Erwerbslosigkeit, von prekären Beschäftigungsverhältnissen, von ‚zweiten’ und ‚dritten’ Arbeitsmärkten und von abrupt eintretenden Armutsphasen geprägt sein“.[9] Mehr als ein Drittel der Lohnabhängigen lebt mittlerweile in akuten Armutslagen, oder in so unsicheren Verhältnissen, dass es jederzeit in sie absinken kann.[10]

„Risikokapitalismus“?

Es scheint angemessen, diese neue Entwicklungsphase mit dem Begriff „Risikokapitalismus“ zu bezeichnen, um den Gegensatz zu einer Nachkriegsphase des Prosperitätskapitalismus mit seinen sozialstaatlichen Regulationsformen und verbreiterten Partizipationschancen an der gesellschaftlichen Wohlstandsentwicklung zu verdeutlichen. Natürlich gab es solche Entwicklungen nur in den Metropolenländern: An der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems waren die Sozialverhältnisse immer durch Elend, Unsicherheit und schreiende Ungleichheit geprägt. Es gehört zur bitteren Ironie der kapitalistischen Entwicklungsgeschichte, dass solche Zustände nun auch wieder in den Metropolen Einzug halten. Die Einlösung des Versprechens einer „Modernisierung“[11] im Sinne einer kontinuierlichen, weitgehend alle soziale Schichten umfassende Wohlstandsentwicklung, sowie einer Einebnung der Ungleichverteilung von politischer Partizipation und Lebenschancen rückt in immer weitere Ferne.

Gegen den Begriff „Risikokapitalismus“ sind Einwände vorgebracht worden. Der wichtigste scheint der Hinweis darauf zu sein, dass das Leben im Kapitalismus grundsätzlich risikobehaftet ist, und zwar für die Angehörigen aller Klassen. So wie mit periodischer Regelmäßigkeit die Arbeiter ihre Beschäftigung verlieren, können auch Unternehmer bankrott gehen und die Inflation dem Rentier sein Kapital vernichten. Jedoch waren in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg diese Risiken minimiert.

Es existierten auch in der Prosperitätsphase Unsicherheitsfaktoren im Leben der Arbeitskraft-Verkäufer und -Verkäuferrinnen. Jedoch dominierte der realistische Eindruck, dass die Probleme individuell und sozial gelöst werden könnten. Trotz aller Unabwägbarkeiten herrschte ein Klima der Zuversicht. Ein Arbeitsplatzverlust war problematisch, aber keine biographische Katastrophe. Das hat sich mittlerweile verändert: Seit den 80er Jahren hat sich die Gefahr arbeitslos zu werden vergrößert, und gleichzeitig die berufliche Wiedereingliederung erschwert. Unsicherheit ist keine Randerscheinung mehr, sondern ins Zentrum des Lebens gerückt. Die Angst vor dem sozialen Absturz hat sich nicht nur in den gesellschaftlichen Untergeschossen verallgemeinert: sie kriecht zunehmend auch die soziale Stufenleiter hinauf.

Ob unter formationstheoretischen Gesichtspunkten eine neue Epoche des Kapitalismus angebrochen ist, könnte natürlich mit guten Argumenten bestritten werden. Rechtfertigen die Veränderungen es, einen entwicklungsgeschichtlichen Bruch zu konstatieren, und eine begriffliche Unterscheidung zwischen Prosperitäts- und Risikokapitalismus vorzunehmen? Andererseits müssen gesellschaftliche Wandlungen natürlich in stimmigen Begriffen ihren Niederschlag finden. Ist es jedoch der Problemlage angemessen, von einem „finanzgetriebenen Kapitalismus“ zu reden, oder große Erwartungen in den Begriff des „Postfordismus“ zu setzen? Gerade mit letzterem wird von der Gegenwart kaum mehr behauptet, als dass sie auf ein Vergangenes (den „Fordismus“) folgt. Suggeriert wird dabei eine grundlegende Veränderung zentraler sozio-ökonomischer Organisationsstrukturen, obwohl in den Bereichen, auf die begründend verwiesen wird, vielleicht die Kontinuitätslinien von größerer Bedeutung, als die Veränderungen sind. Denn anders als vorschnell unterstellt, prägen die arbeitsteiligen und hierarchischen Organisationsstrukturen immer noch die Arbeitswelt. „Netzwerkstrukturen“, „immaterielle Bereiche“ und „autonome Handlungsfelder“ sind (wenn auch gewichtige) Ausnahmen und den Strukturen des Industriesystems zugeordnet.

Kapitalverwertung und Ausbeutung

Zum tieferen Verständnis des neuen Entwicklungsstadiums wäre eine eingehende Beschäftigung mit der prosperitätskapitalistischen Phase nötig. Die kann hier aus Platzgründen nicht stattfinden. Erwähnt werden muss jedoch zumindest, dass der „Sozialstaat“ durch die langen Konjunkturwellen nach dem zweiten Weltkrieg in Verbindung mit einem raschen Anstieg der Arbeitsproduktivität möglich wurde: Es gab real mehr zu verteilen als in früheren Entwicklungsphasen und es entstand durch den beträchtlichen Anstieg der Konsumgüterproduktion auch für das Kapital die Notwendigkeit, die soziale Basis des Konsums zu verbreitern. Für einen kurzen Moment schien es so, als ob ein belastungsfähiger Interessenausgleich zwischen Kapital und Arbeit möglich geworden wäre. Aber wie gesagt: Diese Einschätzungen gehören wohl unwiderruflich der Vergangenheit an. Es bleibt jedoch die Frage, warum der „Klassenkompromiss“ vom Kapital aufgekündigt und die Ausbeutung forciert wurde?

Ein wesentlicher Grund war eine tief greifende Verschlechterung der Kapitalverwertung schon seit den 70er Jahren. Nicht nur durch das relativ hohe Lohnniveau in den Zeiten des Prosperitätskapitalismus war die Profitrate unter Druck geraten. Darüber hinaus verfestigte sich auch ein Zustand der Überakkumulation. Dabei handelt es sich gewissermaßen um eine gewöhnliche Verschlechterung der Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals nach einer langen Aufschwungsphase, weil aufgebaute Überkapazitäten in vielen Branchen Erweiterungsinvestitionen als wenig sinnvoll erscheinen lassen.

Solche ökonomischen Disproportionen hätten durch „normale“ Konjunkturkrisen abgemildert werden können, jedoch war das Kapital mit einer viel grundsätzlicheren Verschlechterung seiner Verwertungsbedingungen konfrontiert: Durch die Überakkumulationstendenzen verstärkt, machte sich der Effekt eines – wie Marx es nennt – „tendenziellen Falls der Profitrate“ bemerkbar. Es handelt sich dabei um eine Profitklemme, die unabhängig von den konjunkturell bedingten Verwertungsschwierigkeiten existiert.

Marx hat dieses Gesetz so charakterisiert: Durch den innerkapitalistischen Konkurrenzdruck muss kontinuierlich der Investitionsaufwand für die Produktionsmittel erhöht werden. Wer nicht unterliegen will, muss versuchen mitzuhalten, permanent „rationalisieren“ und technologisch „aufrüsten“, auch wenn die alten Maschinen nach den Regeln klassischer Buchführung noch nicht abgeschrieben sind. „Der Kapitalist, der die verbesserte Produktionsweise anwendet, eignet sich daher einen größeren Teil des Arbeitstags für die Mehrarbeit an als die übrigen Kapitalisten in demselben Geschäft. Dasselbe Gesetz der Wertbestimmung durch die Arbeitszeit, das dem Kapitalisten mit der neuen Methode in der Form fühlbar wird, dass er seine Ware unter ihrem gesellschaftlichen Wert verkaufen muss, treibt seine Mitbewerber als Zwangsgesetz der Konkurrenz zur Einführung der neuen Produktionsweise.“[12] Das drückt auf die Rentabilität, zumal die Maschinen und Produktionsanlagen immer komplizierter und damit immer teurer werden.

Das Kapital kann unter diesen Bedingungen seine Profite nur durch den Druck auf die Einkommen der Lohnabhängigen sichern. Gelingt ihm das, wird der gestiegene Investitionsaufwand durch die Reduzierung der Lohnfonds kompensiert. Der Angriff auf den Lebensstandard der Lohnabhängigen wird damit zu einem wesentlichen Bestandteil des Akkumulationsregimes. In diesem Sinne gibt es tatsächlich – wie aus Kapitalsicht postuliert wird – immer weniger zu verteilen.

Ein weiterer sozial-destruktiver und wohlstandsminimierender Effekt resultiert daraus, dass durch das konkurrenzgeprägte Innovationsstreben technische Aggregate entstehen, bei deren Einsatz immer weniger lebendige Arbeit eingesetzt werden muss. In den Marxschen Begriffen der Ökonomie-Kritik wird das als Erhöhung der „organischen Zusammensetzung des Kapitals“ bezeichnet. Trotz sinkender Rentabilität des eingesetzten Kapitals verlagern „die zunehmende Arbeitsproduktivität und die damit verbundene Kapitalintensität ... das aus der Produktion entstehende Einkommen zwangläufig immer mehr auf Einkommen aus Vermögen und Unternehmen.“[13] Gleichzeitig wächst die „Überschussbevölkerung“ (Marx), weil nur noch ein der Teil der potenziellen Arbeitskraftverkäufer und -verkäuferinnen für die Mehrwertproduktion benötig wird. Die nach Profitgesichtspunkten „Überflüssigen“ werden ins gesellschaftliche Abseits gestoßen und auf ein Leben im Schatten des gesellschaftlich garantierten Existenzminimums verpflichtet.

Profit durch Zerstörung

Die Konsequenzen des Gesetzes eines tendenziellen Falls der Profitrate sind ein gewichtiges, jedoch nicht das einzige Beispiel einer beständigen Vergrößerung des Anteils des Sozialprodukts, die der Kapitalismus benötigt, um sich auf Kosten des „Wohlstands der Nationen“ am Leben zu halten und seine Funktionsfähigkeit sicher zu stellen. Weitere Beispiele eines zunehmenden Ressourcenverschleißes als Ursache einer gesamtgesellschaftlichen Armuts- und Bedürftigkeitsentwicklung können jedoch nur stichwortartig benannt werden:

Immer häufiger verwertet sich das Kapital nicht nur durch sozial, sondern auch ökonomisch zerstörerische Strategien. Die Destruktionsgeschichte der Hedgefonds und Private-Equity-Konzepte dürfte durch die Weltwirtschaftskrise nur unterbrochen sein. Sie sind Ausdruck eines zur reinen Kapitalverwertungsmaschine sich „vollendenden“ Kapitalismus, der praktisch zu einem inneren „Imperialismus“ mutiert ist.

Die Spekulationsmanöver der Hedgefonds sind in der Lage ganze Weltregionen ins Elend zu stürzen, während das Private-Equity sich auf die Ausschlachtung und das Ausbluten übernommener Firmen spezialisiert hat. Beide Kapitalverwertungsstrategien sind repräsentativ für einen selbstdestruktiv gewordenen Kapitalismus (zu dessen Akkumulationsmittel auch Raub und Enteignung gehören[14]). Sein Zwang zur „Landnahme“ und Zerstörung richtet sich gegen seine eigenen wirtschaftlichen Grundlagen, weil der geographischen Ausdehnung durch neue Konkurrenten (China ist nur das sinnfälligste Beispiel) Grenzen gesetzt sind und der industriell erzeugte Mehrwert nicht mehr ausreicht, die Renditeerwartungen der zirkulierenden Kapitalmassen zu erfüllen.

Aber auch im den „realwirtschaftlichen“ Bereichen nehmen die Reibungsverluste zu, weil angesichts der Überproduktionstendenzen der Aufwand für die Profitrealisierung sich immer aufwendiger gestaltet. Weil sich für das Kapital der Mehrwert erst durch den Tausch Ware gegen Geld sichern lässt, müssen – vor allen Dingen im Konsumgüterbereich – beträchtliche Summen für die warenästhetische Formung der Tauschwerte, für Design, Produktentwicklung und Werbung ausgegeben werden. Für die Vereinigten Staaten wird geschätzt, dass alleine für die Vermarktung der Produkte ein Sechstel des Brutto-Inlandsproduktes aufgewandt werden muss. Milliardenbeträge werden auch in die Entwicklung neuer unterhaltungselektronischer und informationstechnologischer Produkte gesteckt, von denen trotz intensiver Werbemaßnahmen nur ein geringer Teil sich auf dem Markt etablieren kann. Der Rest, dessen Entwicklung die Kreativität und Phantasie unzähliger Menschen absorbiert hat, landet sprichwörtlich auf der Müllhalde der Marktökonomie. Viele solcher Anstrengungen werden von einem affirmativen Gegenwartsbewusstsein als Ausdruck eines wohlstandsmehrenden „Innovationstreben“ (miss)verstanden, tatsächlich jedoch stehen sie in einem eklatanten Missverhältnis zur tatsächlichen gesellschaftlichen Bereicherung und zum individuellen Wohlbefinden. Hansgeorg Conert, einer der wenigen marxistischen Ökonomen, denen diese zentrale Entwicklungstendenz überhaupt aufgefallen ist, sprich von einer „Abkoppelung der allgemeinen sozioökonomischen Wohlfahrt von Produktivitätserhöhungen und prosperierender Kapitalverwertung.“[15]

Spekulation als Funktionsprinzip

Ein Kapitel für sich ist die ausufernde Finanzsphäre, die sowohl für den reibungslosen Kapitalfluss innerhalb eines grenzenlos gewordenen und sich beschleunigenden Verwertungskreislaufs sorgt (bzw. sorgen sollte) und gleichzeitig die Zirkulation temporär profitabel und produktiv nicht mehr zu investierender Kapitalüberhänge gewährleistet. Für ihre „Dienstleistungen” beanspruchen die Finanzjongleure zunehmende Teile der Mehrwertmasse, die an anderer Stelle, beispielsweise für die Lohnfonds und Gemeinschaftsaufgaben fehlen. In der letzten Phase vor der Finanzkrise betrug der Anteil des Finanzsektors am Profit aller US-amerikanischen Kapitalgesellschaften 40 Prozent! Die jährlich im Finanzsektor zusätzlich entstandenen Kosten für Betrug, Bestechung, Vergeudung und Misswirtschaft (die keine „Randerscheinungen sind, sondern systemische Bedeutung haben) werden auf bis zu 400 Milliarden Dollar geschätzt.

Es wird zwar über die Notwendigkeit einer verstärkten Kontrolle der Finanzkonglomerate diskutiert. An erfolgsversprechenden Initiativen jedoch fehlt es, und sie scheinen auch nicht ernsthaft gewollt zu sein. Denn Mechanismen, die wirksam bodenlose Spekulationen verhindern könnten, würde eine elementare Funktion der Finanzsphäre beschädigen, nämlich die Illusion aufrechtzuerhalten, dass alles Kapital noch profiträchtig investiert werden kann. Doch gerade eine solche Selbsttäuschung ist für den Kapitalismus überlebenswichtig. Schätzungen für das Jahr 2007 gehen davon aus, dass einem weltweiten Sachanlagevermögen in Höhe von 143 Billionen US-Dollar ein Finanzvermögen von 196 Billionen Dollar gegenüber steht.[16] Nichts wäre für die Funktionsfähigkeit des Kapitalismus fataler, als wenn sich die (realistische) Einsicht durchsetzen würde, dass „die Verwertung des Werts“ (Marx) schon deutlich an seine Grenzen stößt. Deshalb waren die staatlichen Aufsichtsinstanzen bereit, auch als das Unheil sich schon abzeichnete, wesentliche Sicherungsregeln außer Kraft zu setzen, bzw. weitgehend darauf zu verzichten, ihre Einhaltung durchzusetzen. Die wild entschlossenen Spekulanten wurden ebenso ermutigt, wie die Akteure, von denen die Kriminalitätsgrenzen überschritten wurden. Nachdem die Katerstimmung verflogen und eine Schamfrist verstrichen ist, wird mit der gleichen Sorglosigkeit – und auf Kosten der Gesellschaften und ihrer Wohlstandsentwicklungen – im Prinzip so weiter gemacht, wie bisher.

Die mediale Konzentration auf die „Gier“, lenkt dabei vom Kernproblem ab: von systemimmanenten Zwang zur Kapitalverwertung. Reformistische Vorstellungen über einen neuen staatlichen Regulierungsschub dürften durch die reale Entwicklung wohl enttäuscht werden.

Systematische Rücksichtslosigkeit

Auch bei den neuen Wellen der Aufrüstung und den Kosten für den militärischen Interventionismus, die immer deutlicher als Ausdruck einer kapitalistischen Widerspruchsentwicklung auf neuer Stufe zu erkennen sind, ist der global wohlstandsmindernde Effekt mit den Händen zu greifen. Trotz des Endes der Systemkonfrontation sind die weltweiten Rüstungskosten explodiert, weil in zunehmendem Maße „mit militärischen Mitteln ... die Versorgung der modernen Industriesysteme mit Rohstoffen und Energieträgern gesichert[wird]. Die politischen und ökonomischen Eliten verlassen sich nicht mehr auf die geoökonomische Logik des Weltmarktes und der globalen Konkurrenz.“[17] Bei knapper werdenden Rohstoffressourcen wird der militärische Interventionismus (zu dessen Notwendigkeit sich auch die Bundesregierung bekennt) immer wichtiger. Deshalb wurden alleine in den 90er Jahren mehr Kriege als in den Jahrzehnten nach 1945 geführt. Die Kosten haben einen kaum noch vorstellbaren Umfang angenommen. Alleine in seinen ersten 5 Jahren hat der Irak-Krieg 500 Milliarden Dollar verschlungen. Das ist jedoch nur ein kleiner Posten in einer schonungslosen Gesamtrechnung, die bei Berücksichtigung aller Folgekosten auf einen Gesamtbetrag von über 6 Billionen Dollar kommt.

Auch viele wohlstandsmindernde Konsequenzen gegenwärtiger Produktivkraftentwicklung werden in die Zukunft verlagert. Stimmen die Prognosen über die Klimakatastrophe auch nur halbwegs, bürdet die fossile Energie verschleißende Form des Arbeitens und des Lebens den nachfolgenden Generationen eine hohe Hypothek auf. Gleiches gilt auch für die Atomenergie, als sinnfälligstem Beispiel von „Produktionskräften und Verkehrsmitteln ..., welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte”.[18] Selbst wenn sie mit Mühe und Not beherrschbar bleiben sollte, hinterlässt sie mit dem Endlagerproblem, einen Berg unkalkulierbarer Risiken. Auch der Individualverkehr, sicherlich der sinnfälligste Ausdruck des Monopolkapitalismus, absorbiert mit seinen Folgekosten (Umweltbelastung und -zerstörung, Verkehrunfälle) in den entwickelten Industrieländern fast ein fünftel des Sozialprodukts. Insgesamt können die Schäden, die durch die systematische Rücksichtslosigkeit der kapitalistischen Ökonomie gegenüber den Menschen und der Natur entstehen, nur noch mit steigendem Aufwand und auf Kosten des gesellschaftlichen Wohlstands beseitigt werden. Sie gehen zwar als Positiveffekte in die ökonomische Gesamtrechnung ein, jedoch dieses „Wachstum des Sozialprodukts ist nicht identisch mit Zunahme des Wohlstands“.[19]

Dialektik der Entzivilisierung

Bisher war von den Ursachen des Rückgangs eines quantitativen Wohlstands die Rede. Hier ist jedoch der Einsatzpunkt, um von der nicht minder gravierende Reduktion dessen zu sprechen, was gemeinhin als Lebensqualität bezeichnet wird.

Ohne ins Detail gehen zu können, lässt sich feststellen, dass die aktuelle Reproduktionsform des Kapitalismus einem Angriff auf die zivilisatorischen Grundlagen menschlichen Lebens gleichkommt. Denn in seinem Drang nach günstigen Verwertungsbedingungen instrumentalisiert das Kapital die Menschen und beschädigt ihre Subjektausstattung. Die Wucht der neoliberalistischen Umgestaltungsprozesse erschüttert nicht selten ihre psycho-soziale Stabilität. Eine kaum kalkulierbare Veränderungsdynamik legt den Menschen nahe, sich an nichts zu binden und eine fragmentarische Identität auszubilden, die es ihnen ermöglicht, nicht nur flexibel und beweglich, sondern auch bedenken- und rücksichtslos zu sein. Und zwar nicht nur gegenüber den Anderen, sondern zunehmend auch gegenüber sich selbst.

Gleichzeitig lassen die Leistungs- und Flexibilitätsanforderungen des Risikokapitalismus immer weniger Platz für Sozialräume, die nach menschlichen Bedürfnismaßstäben gestaltet sind und die ein Gegengewicht zur verwertungsorientierten Vereinnahmung bilden könnten: Identitätsstiftende und das Gefühl der Verlässlichkeit vermittelnde Lebenskontexte sind im Fegefeuer der „Deregulierung“ und „Flexibilisierung“ verschlissen worden. Gewachsene Lebensbezüge werden zerstört und der Rhythmus des Alltags mit der „Dynamik“ einer Ökonomie synchronisiert, der humane Lebensansprüche gleichgültig sind.

Die risikokapitalistischen Formatierungen der Subjekte sind Bestandteil eines sich universalisierenden Herrschaftssystems, das in materiellen Verhältnissen verankert ist, aber durch die Prägung und Besetzung psychischer Instanzen garantiert wird.[20] Durch diesen Druck zerbröselt die nur dünne zivilisatorische Hülle und finden pathologische Reaktionsmuster – vom Alkoholismus bis zur Drogensucht, von der Gewalt bis zum Rassenhass – ihren Entfaltungsraum. Aufgebaut wird ein irrationales Potenzial, dass jederzeit aufbrechen und auch politisch relevant werden kann. Als Kehrseite dieser Medaille entwickeln sich Resignation und Depressionen, jedoch auch eine latente Selbstzerstörungssucht als der neue Geist „geistloser Zustände“ (Marx).

Institutionalisierung der Unsicherheit

Es gehört zur Signatur des Risikokapitalismus, dass große Bevölkerungssegmente in den Zustand eines elementaren Kampfes um ihre Existenzsicherung zurück geworfen werden. Es ist Ausdruck eines zivilisatorischen Niedergangs, dass die Unsicherheit zunehmend institutionalisiert wird, weil die feste und unbefristete Anstellung nicht mehr der Regelfall ist.

Wo ökonomische Effizienzsteigerung das Maß aller Dinge ist, ist auch der Arbeitsplatzabbau und eine daraus resultierende Verunsicherung nicht weit. Es existieren berechtigte Ängste, die schleichend in alle Lebensbezüge eindringen. Wer sich jedoch beständig um seinen Arbeitsplatz sorgt, immer öfter um seine Existenzsicherung kämpfen muss, lebt oft nur noch ein fragmentarisiertes Leben, verliert die Lust auf die Welt und ist geneigt sich zurück zu ziehen. Heiner Müller hat die politische Seite eines solchen Zustands auf den Punkt gebracht: „Ist die Arbeitslosigkeit erst einmal groß genug, ist keine Staatssicherheit mehr nötig“. In zivilisatorischer Perspektive handelt es sich um die Zerstörung von Lebensbezügen, die noch einen Rest von individueller Gestaltungskompetenz für die eigene Biographie ermöglichten. Waren viele der nun wie mit Zauberhand verschwundenen Geldströme auch „virtuell“, so ist das Leiden der Menschen an den wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen der Krisenentwicklung um so realer.

Aus ihren primären Sozialisierungs- und Kommunikationskontexten heraus gerissen, erscheint den ins soziale Abseits gedrängten das Leben ohne Ziel und Sinn. Sie leiden an ihrer vermeintlichen gesellschaftlichen „Nutzlosigkeit“, dem Gefühl nicht mehr gebraucht zu werden und isoliert zu sein. Die Persönlichkeitsstruktur und das Selbstwertgefühl erodieren; viele Krisenopfer verlieren die Fähigkeit über den Tag hinaus zu denken und verlieren die Kraft zur aktiven Lebensgestaltung.

Weltanschauungsarbeit

Eine Erosion perspektivischer Orientierungen können wir – wenn auch aus ganz anderen Gründen – auch bei den gesellschaftlichen Eliten beobachten. Sie müssen sich krampfhaft am Gegebenen festhalten, denn jede ernsthafte Reformvorstellung weist sehr schnell über die Grenzen des Gegebenen hinaus: Jede Suche nach Alternativen stößt bald auf den fundamentalen Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen.

Konsequenterweise sind deshalb auch die Felder des Politischen, der Wissenschaft und des Kulturbetriebes von Tabus umstellt. Der als „legitim“ erfahrene Artikulationsraum wird immer enger. Gut ist das gegenwärtig auf den Feldern der ökonomischen Rede zu erkennen. Die Krisenerklärungen haben eher den Charakter von Geisterbeschwörungen, denn eines rationalen Diskurses.

Auch dort, wo es konkret zur „Sache gehen“ müsste, wie in den geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen, haben die inhaltlichen Begrenzungen den Charakter einer Zwangsjacke angenommen. Die wesentlichen Zusammenhänge überhaupt noch zu thematisieren, meidet man in weiten Teilen einer akademischen Wissenschaft wie der Teufel das Weihwasser (obwohl es gewichtige Ausnahmen gibt!). Das nicht mehr zu Ignorierende, die sozialen Spaltungstendenzen und die gesellschaftlichen Verarmungsprozesse, werden zwar thematisiert, jedoch der Eindruck zu vermeiden versucht, dass sie etwas mit der Klassenstrukturierung, also dem Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit zu tun hätten.[21] Auch jene Intellektuellen, die sich als Pfadfinder in den Ruinen einer „Kritischen Theorie“ andienen, faktisch jedoch als deren Abwickler fungieren, kennen bei ihrem Bemühen, die Grenzen des „legitimen Wissens“ einzuhalten, keine Schamgrenzen mehr: „Auch die Frage,“ so lautet die Selbstpositionierung, „wie die Zustände des Unrechts praktisch überwunden werden können, fällt heute im allgemeinen nicht mehr in den Aufgabenbereich der Gesellschaftskritik.“[22]

Wenn jedoch, selbst bei bestem Willen, die sozio-kulturellen Widerspruchsentwicklungen nicht mehr geleugnet werden können, werden sie zu unvermeidlichen Konstanten der menschlichen Existenz verklärt. Auf dieses Weltanschauungsniveau angekommen, bedarf es nur noch eines Schrittes, um dem Irrationalismus und der Gegen-Vernunft die Referenz erwiesen, um damit die Irrationalität der herrschenden Zustände relativieren zu können: „Die alten Schablonen der humanistischen Werte erweisen sich als Fesseln der Welterfahrung ... Wir müssen uns mit dem Chaos versöhnen.“[23] Und das bedeutet konsequenterweise zu behaupten, dass „die Begriffe der Emanzipation, der Freiheit, des Guten und Bösen ... in letzter Instanz irrelevant“ geworden seien.[24] Als Fluchtpunkt wird die „Hinwendung zum Paradoxen, Paralogischen“[25], zu „absoluten Exzess, [zu] Rausch und Ekstase“ empfohlen.[26] „Fundiert“ werden durch solche Festlegungen Vorstellungen der Alternativlosigkeit und somit der Unveränderbarkeit bestehender Verhältnisse. Sie sind gleichzeitig Ausdruck des Abschieds von den vernunftorientierten Selbstverpflichtungen einer bürgerlichen „Moderne“.

Kultur als Entfremdung

Seine alltagspraktischen Entsprechungen finden solche ideologischen Transformationsmuster in dem individuellen Bemühen, die Negativ-Determinanten der eigenen Existenz zu verdrängen und das sozial bedrohliche überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Die Kehrseite dieses Bedürfnisses ist es, in „Ersatzwelten“ einzutauchen (nicht nur das Internet bietet eine große Auswahl davon), oder sich auf dem Markt dubioser „Sinn-Angebote“ zu bedienen: Zufall dürfte es nicht sein, wenn seit Krisenbeginn, die Esoterik-Verlage ihre Auflagen vervierfacht haben.[27]

Eine als Surrogat für den Lebensverlust angebotene Konsumkultur vollendet in einem negativen Sinne diese Prozesse sozialer Fremdbestimmung und individueller Selbstentfremdung. Sie bedient sich vorhandener Wünsche, um sie kommerziell zu kanalisieren; sie stimuliert Phantasien, um sie einzuengen und zu instrumentalisieren: Freiheit wird dabei wesentlich auf die „Freiheit“ des Habenwollens reduziert. Zelebriert wird auf den ersten Blick eine grenzenlose Vielfalt, die jedoch selten nur aus mehr, denn standarisierten Lebensstilmustern besteht.

Ins Auge fällt eine warenästhetische Aufdringlichkeit, mit ihrer Allgegenwart von Symbolen und Imperativen, die genauso faschistischer Masseninszenierungen, wie der Verbreitung von Coca Cola dienlich ist. Das Synthetische und in die kommerzielle Form Gepresste verdrängt jede Authentizität und führt zu einer Entfremdung der Sinne, des Fühlens und des Erlebens. Durch eine vordergründige Homogenisierung alles Disparaten und Unangepassten wird schon im Kern die Wahrnehmung von alternativen Vorstellungen und Orientierungen verhindert. Ergänzende Funktion hat die Unterhaltungs- und Bewusstseinsindustrie, die ihren Einfluss entfaltet, wo dieser Mechanismus psychischer Formierung noch Lücken gelassen hat.[28]

Symptome des Verfalls

Aus der Gesamtheit der skizzierten Entwicklungen entstehen sozial-dysfunktionale Konsequenzen, die gleichermaßen Ausdruck, wie auch Ursache eines zunehmenden Zivilisationsverlustes sind. Durch die Fragmentierungen und Instrumentalisierungen, sozialen Spaltungen und kulturellen Infantilisierungstendenzen entstehen Erosionseffekte, die sehr schnell ins gesellschaftliche Zentrum eindringen und den konstitutiven Zusammenhang des Ganzen bedrohen können. Weil psychische Schutzmechanismen zerstört werden und durch den Verfall traditioneller Klassenmilieus verlässliche Interpretationsmuster kaum mehr zur Verfügung stehen, um die Bedrängungserfahrungen mit progressiven Effekten verarbeiten zu können, finden die Entgrenzungen im Wirtschaftsleben ihren Niederschlag in Angstsyndromen und Ohnmachtsgefühlen, die zum Zerfall psychischer Stabilitätspotentiale beitragen.

So kann die Gewalt der Amokläufer, die in immer kürzeren Abständen aufbricht, als eines der Symptome der zivilisatorischen Regression begriffen werden. Denn oft ist sie die hilflose Reaktionsform von Menschen, die sich in ihren bedrängenden Lebensverhältnissen kaum anders zur Geltung bringen können, als durch ein wildes um sich schlagen und die Bereitschaft zur Selbstzerstörung. Sie ist ein prägnantes Beispiel dafür, in welchem Maße die sozial verursachten Beschädigungen des Subjekts, auf die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zurückwirken.[29]

Nur all zu offensichtlich ist der Kapitalismus in ein Verfallstadium eingetreten. Höchst fraglich jedoch ist, ob es sich dabei um seine Endphase handelt. Vieles spricht dafür, dass die zyklische Bewegungsform von Stagnation, Prosperität, Überproduktion und Krise der Vergangenheit angehört und die Phase einer langfristigen und chronischen Depression angebrochen ist. Wir können es nur als Warnung mit aktueller Bedeutung verstehen, wenn Lenin davon spricht, dass Verfalls- und Niedergangsphasen lange dauern und die Lebensgrundlagen der gesamten Menschheit bedrohen können. Auszuschließen ist nicht, dass durch die Zerstörungswucht zivilisatorischen Katastrophen (wie der erste und zweite Weltkrieg welche waren) neue Akkumulationsprozesse in Gang gesetzt werden.

Nach einer globalen Katastrophe könnte durch eine neue Aufbau- und Rekonstruktionsphase die „Erfolgsgeschichte“ des Kapitalismus weitergehen. Ein schicksalhafter, weil ununkehrbar Entwicklungsweg ist das jedoch nicht. Im Sinne der Funktionsweise sozialer Gesetze, wirkt dieser Abwärtssog nur solange ungefiltert, wie ihm nicht entgegen gearbeitet wird[30]: Gesellschaftliche Gesetze besitzen eine objektive Tendenz, ihre unmittelbare Wirkungsweise hängt jedoch von den konkreten Kräfteverhältnissen und sozialen Widerstandsformen ab. Im III. Band des „Kapitals“ spricht Marx im Zusammenhang mit der Erörterung des Gesetzes eines tendenziellen Falls der Profitrate, die er zunächst auf hoher Abstraktionsebene formuliert hat, von den konkreten Modifikationen, „von gegenwirkenden Einflüssen ..., welche die Wirkung des allgemeinen Gesetzes durchkreuzen und aufheben, und ihm nur den Charakter einer Tendenz geben“.[31]

[1] Erweiterte Fassung eines Vortrages auf der Tagung „Kapitalismus, Krise und Widerstand“ der Marx-Engels-Stiftung, der Marxistischen Blätter und der jungen Welt am 6. Juni 2009 in Berlin.

[2] Vgl.: Marx-Engels-Werke, Bd. 23, S. 775

[3] R. Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, Konstanz 2000, S. 357

[4] Ebd., S. 350

[5] T. Hopkins/I. Wallerstein, Grundzüge der Entwicklung des modernen Weltsystems. Entwurf für ein Forschungsvorhaben, in: D. Senghaas (Hg.), Kapitalistische Weltökonomie. Kontroversen über ihren Ursprung und ihre Entwicklung, Frankfurt/M. 1979, S. 184

[6] Vgl.: W. Seppmann, Strukturveränderungen der Klassengesellschaft, in: Projekt Klassenanalyse@BRD, Umbau der Klassengesellschaft, Beiträge zur Klassenanalyse Bd. 2, Essen 2006

[7] H. Afheld, Wirtschaft die arm macht. Vom Sozialstaat zur gespaltenen Gesellschaft, München 2003, S. 14

[8] R. Castel, a.a.O., S. 350

[9] K. H. Roth, Die Wiederkehr der Proletarität und die Angst der Linken, in: ders. (Hg.), Die Wiederkehr der Proletarität. Dokumentation der Debatte, Köln 1994 , S. 41

[10] Vgl. Ch. Butterwegge, Armut in einem reichen Land, Frankfurt und New York 2009

[11] Vgl.: P. Wehling, Die Moderne als Sozialmythos. Zur Kritik sozialwissenschaftlicher Modernisierungstheorien. Frankfurt am Main 1992

[12] Marx-Engels-Werke, Bd. 23, S. 337f.

[13] H. Afheld, a.a.O. , S. 33

[14] Vgl.: D. Harvey, Der neue Imperialismus, Hamburg 2005

[15] H. Conert, Vom Handelskapital zur Globalisierung. Entwicklung und Kritik der kapitalistischen Ökonomie, Münster 1998, S. 421

[16] J. Goldberg, Die historische Stellung der gegenwärtigen Wirtschaftskrise: Mehr Fragen als Antworten, in Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 78, Juni 2009, S. 10

[17] E. Altvater, Das Endes des Kapitalismus wie wir ihn kennen, Münster 22006, S. 65

[18] Marx-Engels-Werke, Bd. 3, S. 69

[19] H. Afheld, a.a.O., S. 25

[20] Vgl.: Th. Metscher, Imperialismus und Moderne, Essen 2009

[21] Vgl.: W. Seppmann, Ausgrenzung und Ausbeutung, Essen 2004

[22] A. Honneth, Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt/M. 2007, S. 49

[23] N. Bolz, Das kontrollierte Chaos. Vom Humanismus zur Medienwirklichkeit, Düsseldorf 1994, S. 16

[24] J.-F. Lyotard, Eine postmoderne Fabel über die Postmoderne oder: In der Megapolis, in: R. Weimann/H. U, Gumbrecht (Hg.), Postmoderne – globale Differenz, Frankfurt/M. 1991, S. 302

[25] I. Hasan, Postmoderne heute, in: W. Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Debatte, Berlin 21994, S. 49

[26] U. Stäheli, Poststrukturalistische Soziologien, Bielefeld 2000, S. 32

[27] Vgl. W. Seppmann, Zur Logik irrationalistischer Weltbilder, in: Marxistische Blätter, H. 5/2005

[28] Vgl.: P. Bathke/ H. Kopp/W. Seppmann (Hg.), Medienmacht und Widerspruchserfahrung, Bonn 2007

[29] Vgl.: G. Eisenberg, Gewalt, die aus der Kälte kommt: Amok, Progrom, Populismus, Gießen 2002

[30] Vgl.: G. Lukács, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, 1. Halbbd., Neuwied und Berlin 1985

[31] Marx-Engels-Werke, Bd. 25, S. 242