Die Kosten der Krise

Weltwirtschaftskrise, Sozialstaatsentwicklung und Armut

Dezember 2009

Seit der Bundestagswahl am 27. September 2009, die CDU/CSU und FDP eine Mehrheit der Zweitstimmen und zahlreiche Überhangmandate brachte, bemüht sich eine bürgerliche Regierungsmehrheit unter Führung von Angela Merkel und Guido Westerwelle, den Sozialstaat im Gefolge der globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise noch energischer als vorher die rot-grüne (1998 bis 2005) und die große Koalition von Union und SPD (2005 bis 2009) nach neoliberalen Rezepten zu transformieren. CDU, CSU und FDP folgen gleichfalls der Standortlogik, indem sie die Wettbewerbsfähigkeit des „eigenen“ Wirtschaftsstandortes durch marktkonforme Strukturreformen zu steigern suchen (vgl. ausführlicher Butterwegge 2006; Butterwegge u.a. 2007). Die soziale Gerechtigkeit spielt entweder überhaupt keine Rolle mehr, man begreift sie als „Standortrisiko“ oder verkürzt sie auf Leistungs-, Chancen- bzw. Generationengerechtigkeit (vgl. Reitzig 2008). Hier sollen zunächst die Konzepte und Prinzipien, mit bzw. nach denen die Erosion des Wohlfahrtsstaates stattfindet, und sodann die gravierendsten Folgen für davon Betroffene wie die Gesellschaft insgesamt analysiert werden.

1. Strukturprinzipien und Funktionsmechanismen des
neoliberalen Wohlfahrtsstaates

Auf der politischen Agenda steht weniger, jedoch auch ein anderer Wohlfahrtsstaat. Zusammen mit dem Ab- findet ein Umbau des Sozialstaates statt. Es geht keineswegs um die völlige Liquidation des Wohlfahrtsstaates, vielmehr um seine Reorganisation nach einem Konzept, das neben Leistungskürzungen auch grundlegende strukturelle Veränderungen wie die Reindividualisierung sozialer Risiken bzw. die (Teil-)Privatisierung der staatlichen Altersvorsorge, die Erhöhung des administrativen Kontrolldrucks und die drastische Ausweitung der Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Bezieher(inne)n von Transferleistungen, also seinen „Kund(inn)en“, beinhaltet.

1.1 Aus dem Wohlfahrtsstaat wird ein neoliberaler
Wettbewerbsstaat

Aus dem Wohlfahrtsstaat, wie man ihn bisher kannte, wurde ein „nationaler Wettbewerbsstaat“ (Joachim Hirsch), und zwar in zweierlei Hinsicht: Nach außen fördert er die Konkurrenzfähigkeit des „Wirtschaftsstandortes“ auf dem Weltmarkt und nach innen überträgt er die Marktmechanismen und Gestaltungsprinzipien der Leistungskonkurrenz bzw. betriebswirtschaftlicher Effizienz auf seine eigenen Organisationsstrukturen. Durch diese doppelte Transformation gewinnt der Wohlfahrtsstaat eine andere Qualität, während das Soziale seinen Eigenwert verliert und dem Ökonomischen unter- bzw. nachgeordnet wird. „Standortsicherung“ kehrt das Verhältnis von Ökonomie, Staat und Politik, die zur abhängigen Variablen der Volkswirtschaft degradiert wird, um. Bei dem durch neoliberale Prinzipien geprägten Wettbewerbsstaat handelt es sich um ein Staatswesen, das nicht mehr für alle sozialen „Kollateralschäden“ des kapitalistischen Wirtschaftens die Haftung übernimmt, die hierauf basierende soziale Ungleichheit verschärft und auf diese Weise den Boden für gesellschaftliche Ausgrenzungs- und Ethnisierungsprozesse bereitet. Auf die umfassende Liberalisierung des Kapitalverkehrs, die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Flexibilisierung und Ausdifferenzierung der Beschäftigungsverhältnisse sowie die (Re-)Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge gerichtet, nimmt der Neoliberalismus die Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen eines Großteils der Bevölkerung zumindest billigend in Kauf.

Genauso wie Unternehmen und Gebietskörperschaften sollen die sozialen Sicherungssysteme nach größtmöglicher kaufmännischer Effizienz streben, während ihr eigentlicher Zweck, Menschen in schwierigen Lebenslagen wirksam zu unterstützen, deutlich dahinter zurücktritt. „Ganz im Sinne der Ökonomisierung des Sozialen verdrängt dabei ein betriebswirtschaftlich orientiertes Leitbild von Qualitätsmanagement traditionelle Orientierungen von religiös oder ethisch motivierter Nächstenliebe, von Subsidiarität und Solidarität.“ (Kelle 2007: 113) Wettbewerb sowie Wahlfreiheit (für von Klienten zu „Kunden“ avancierte Sozialstaatsbürger/innen) beherrschen die Wohlfahrtsstaatskonzeption des Neoliberalismus, und sein Leitbild zielt auf die Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit des jeweiligen Wirtschaftsstandortes. „Der Sozialstaat wird nicht mehr als Ergebnis von Machtkämpfen zwischen Arbeit und Kapital, Politik und Markt gesehen, sondern als Hebel, durch gezielte Investitionen in das ‚Humankapital‘ den Standort für (internationale) Investitionen und für das Finanzkapital attraktiv zu machen.“ (Klein 2004: 173)

1.2 Aus dem Sozial- wird ein Minimalstaat

Der damals „anarcholiberale“ Theoretiker Robert Nozick (o.J.: 11) plädierte Mitte der 1970er Jahre für einen „Minimalstaat“, der nur die (Rechts-)Sicherheit sowie den Schutz seiner Bürger/innen vor Dieben, Betrügern und Gewalttätern gewährleisten sollte, sie aber nicht mittels seines Zwangsapparates dazu bringen dürfe, „anderen zu helfen, und ebenso wenig dazu, den Menschen um ihres eigenen Wohles oder Schutzes willen etwas zu verbieten“ (Hervorh. im Original, Ch.B.), vielmehr „Gleichgültigkeit gegenüber den Bedürfnissen und dem Leiden anderer“ in Kauf nehmen müsse. Der Würzburger Ökonom Norbert Berthold (1997: 55) will die Staatseingriffe nicht ganz so drastisch verringern und betrachtet die „Garantie eines Existenzminimums“ als „eigentliches Betätigungsfeld“ des Sozialstaates, auf welches sich dieser zurückziehen soll.

Leistungskürzungen im Sozialbereich werden meistens als Sparbemühungen ausgegeben, obwohl man die Kosten der Versorgung (etwa im Gesundheitssystem) damit häufig gar nicht senkt, sie vielmehr nur von der Solidargemeinschaft auf die Leistungsempfänger/innen überwälzt. Neoliberale möchten die Sozialleistungen drastisch reduzieren und zudem auf die „wirklich Bedürftigen“ konzentrieren. Leistungskürzungen finden im modernen Wohlfahrtsstaat aber erfahrungsgemäß gerade dort besonders frühzeitig, spürbar und nachhaltig statt, wo sie die am meisten verletzlichen, am wenigsten widerstandsfähigen Bevölkerungsgruppen treffen: (Langzeit-)Arbeitslose, Alte, Kranke, Behinderte und Migrant(inn)en.

1.3 Aus dem Sozial- wird ein „Kriminalstaat“

Zwar wirkt der neoliberale Staat geradezu magersüchtig, „wenn es um die soziale Sicherheit und andere Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge geht. Er ist allerdings ein starker Staat nach innen wie nach außen, wenn es um die Durchsetzung und Sicherung der marktwirtschaftlichen Ordnung geht.“ (Ptak 2007: 63) Loïc Wacquant (2009: 314) charakterisiert die Janusköpfigkeit des neoliberalen Staates, wenn er konstatiert, „dass der Neoliberalismus nicht zur Schrumpfung des Staates führt, sondern zur Errichtung eines Kentaurenstaates, der oben liberal und unten paternalistisch ist und den beiden Enden der sozialen Hierarchie jeweils ein radikal anderes Gesicht zeigt: ein wohlgestaltetes und zugewandtes Gesicht für die Mittel- und Oberklasse, eine furchterregende und drohende Fratze für die Unterschicht.“

Statt der Armut bekämpft man mehr und mehr die davon Betroffenen: Arme werden durch Polizeirazzien und Platzverweise aus den Innenstädten vertrieben, vor allem in den USA auch zunehmend in Gefängnisse gesteckt. Gegenüber den Armen ist der neoliberale Minimalstaat eher „Kriminal-“ als Sozialstaat, weil ihn die (vorgeblich aus Gründen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit nötige) Leistungsreduktion verstärkt zur Repression gegenüber Personengruppen zwingt, die als Globalisierungs- bzw. Modernisierungsverlierer/innen und als Opfer seiner rückwärtsgerichteten „Reformpolitik“ bezeichnet werden können. Längst erstreckt sich über die westlichen Industriestaaten mit Ausnahme ihres eigentlichen Schlüsselbereichs, der Wirtschaftssphäre, eine „Kultur der Kontrolle“, wie der US-amerikanische Kriminologe und Soziologe David Garland (2008) den allmächtigen Drang nach Disziplinierung fast aller sozialen Sphären nennt.

Je weniger soziale Sicherheit der Wohlfahrtsstaat gewährt, umso größer wird die Innere Sicherheit geschrieben. Um die Jahrtausendwende fand das New Yorker Beispiel eines härteren Durchgreifens gegenüber „sozialen Randgruppen“ wie Alkoholikern und anderen Drogenabhängigen, Obdachlosen und Bettlern sowie Angehörigen jugendlicher Subkulturen und ethnischer Minderheiten auch diesseits des Atlantiks begeisterte Nachahmer (vgl. Ortner u.a. 1998; Leiterer 2007). Nach dem 11. September 2001 wurden die Terroranschläge auf das World Trade Center und das Pentagon nicht nur in den Vereinigten Staaten, die den U.S. Patriot Act erließen, als Vorwand für massive Einschränkungen der Bürgerrechte benutzt (vgl. Unger 2006; Gössner 2007; Trojanow/Zeh 2009). Diese verringern die Möglichkeiten sozial Benachteiligter, Widerstand gegen den „Um-“ bzw. Abbau des Wohlfahrtsstaates zu leisten.

1.4 Aus dem aktiven wird ein „aktivierender“ Sozialstaat

An die Stelle des aktiven Sozialstaates, wie man ihn bisher kannte, tritt immer mehr ein „aktivierender“, d.h. Hilfebedürftige nicht ohne entsprechende Gegenleistung alimentierender Sozialstaat. Die verlangte Übernahme von „Eigenverantwortung“ meint gerade nicht die Selbstbestimmung der Bürger/innen, sondern das Gegenteil: „Der Imperativ der Eigenverantwortung vereinzelt und entsolidarisiert. Er hinterfragt gar nicht, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit Menschen überhaupt Verantwortung für sich selbst und auch andere übernehmen können.“ (Mührel 2005: 679) Schon der Terminus „aktivierende Arbeitsmarktpolitik“ diffamiert Erwerbslose im Grunde als (zu) passiv, denn sonst könnten und müssten sie ja nicht durch geeignete Maßnahmen „aktiviert“ werden.

Statt der Bedürftigkeit – wie im aktiven – löst im „aktivierenden Sozialstaat“ erst die (Bereitschaft zur) „Gegenleistung“ eines Antragstellers die staatliche Leistungspflicht aus. Damit hören Hilfebedürftige auf, Wohlfahrtsstaatsbürger/innen mit sozialen Rechtsansprüchen zu sein, und werden zu Objekten der von ihnen Entgegenkommen fordernden und sie nur dann ggf. fördernden Verwaltung herabgewürdigt. Dem Wohlfahrtsstaat wird hierdurch eine ihm ursprünglich fremde, nämlich die Tauschlogik der Marktökonomie, implantiert. Ein „aktivierender Sozialstaat“ ist damit kein Gegengewicht zu dieser, aber auch kein Garant demokratischer Verhältnisse mehr. Achim Trube (2006: 42) spricht von einem „Konditionalstaat repressiven Typs“, welcher keine Leistung ohne entsprechende Gegenleistung gewähren wolle: „Der Paradigmenwechsel besteht dabei vor allem darin, dass ein zuvor unbedingtes Bürgerrecht, d.h. die existenzielle Grundsicherung des eigentlichen Souveräns der Republik, zur Disposition der (Arbeits-)Auflagen durch den Staat und seine Organe gestellt wird, obwohl der Staat doch seine verfassungsrechtliche Legitimation erst durch die – auch existenziell – souveränen Bürger beziehen kann.“ Walter Hanesch und Imke Jung-Kroh (2004: 233) heben den „Strafcharakter“ dieser Art der „Arbeitsförderung“ hervor und betonen darüber hinaus, „dass künftig eine Eingliederung um jeden Preis erzwungen werden soll, unabhängig davon, ob dadurch eine reale Verbesserung der materiellen Lage für die Betroffenen erreicht werden kann. Die restriktiv-punitive Ausrichtung dieses Aktivierungskonzepts ist jedoch wenig geeignet, eine nachhaltige Eingliederung in das Beschäftigungssystem zu erreichen.“

1.5 Das Gemeinwesen wird in Wohlfahrtsmarkt und
Wohltätigkeitsstaat gespalten

Wortführer des Neoliberalismus wie Rainer Hank (2000: 209) fordern die Beschränkung auf einen „Kernsozialstaat“, der nur noch dann tätig werden soll, wenn für Risiken „auf privaten Kapital- und Versicherungsmärkten eine effiziente Vorsorge nicht möglich ist. Dies gilt beim heutigen Zustand der Kapital- und Versicherungsmärkte allenfalls noch für die Arbeitslosenversicherung, nicht aber für die Kranken- und Rentenversicherung und schon gar nicht für die Pflegeversicherung.“ Perspektivisch droht das Gemeinwesen in einen Wohlfahrtsmarkt sowie einen Wohltätigkeitsstaat zu zerfallen: Auf dem Wohlfahrtsmarkt kaufen sich Bürger/innen, die es sich finanziell leisten können, soziale Sicherheit (z.B. Altersvorsorge durch Versicherungspolicen der Assekuranz). Dagegen stellt der „postmoderne“ Sozialstaat nur noch euphemistisch „Grundsicherung“ genannte Minimalleistungen bereit, die Menschen vor dem Verhungern und Erfrieren bewahren, gibt sie ansonsten jedoch der Obhut karitativer Organisationen und privater Wohltäter/innen anheim.

Neoliberale möchten den Wohlfahrtsstaat am liebsten auf die Basisfunktion der Armutsbekämpfung, -vermeidung und -verringerung reduzieren. Schon Milton Friedman (1984: 244) erklärte die Privatwohltätigkeit zu der in mehrerer Hinsicht wünschenswertesten Form der Armutsbekämpfung: „Es ist bemerkenswert, daß in der Periode des Laissez-faire, in der Mitte und gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien private Hilfsorganisationen und wohltätige Einrichtungen eine außergewöhnliche Verbreitung erfuhren. Einer der Hauptnachteile der Zunahme öffentlicher Wohlfahrt lag in der gleichzeitigen Abnahme privater Aktivitäten dieser Art.“ Umgekehrt haben das karitative Engagement, die ehrenamtliche Tätigkeit in der „Bürger-“ bzw. „Zivilgesellschaft“, wie sie die Lebensmitteltafeln repräsentieren (vgl. Selke 2008; 2009), die wohltätigen Spenden sowie das Stiftungswesen offenbar gerade deshalb wieder Hochkonjunktur, weil man den Sozialstaat demontiert und dafür gesellschaftliche Ersatzinstitutionen braucht.

1.6 Aus dem Sozialversicherungs- wird ein Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat

Kennzeichnend für den deutschen Wohlfahrtsstaat war seit den Sozialreformen im Kaiserreich, dass die Lohnarbeiter gegen allgemeine Lebensrisiken versichert wurden. Durch die Zahlung von Beiträgen, an der sich ihre Arbeitgeber später halbparitätisch beteiligten, erwarben sie Ansprüche, die beim Eintritt des Versicherungsfalls befriedigt werden mussten. Heute plädieren nicht bloß Neoliberale für eine stärkere Steuerfinanzierung sozialer Leistungen, obwohl oder genauer: weil sie wissen (müssten), dass Arbeitnehmer/innen in einem „Lohnsteuerstaat“ viel stärker zur Ader gelassen werden als Kapitaleigentümer, Großaktionäre und Topmanager.

Michael Vester (2005: 26) charakterisiert die „Agenda 2010“ mit ihrer Verlagerung der Existenzrisiken auf Kranke und Arbeitslose als Paradigmenwechsel von einem „Sozialversicherungsstaat für alle“ zu einem Fürsorgestaat, der sich nur noch um die Ärmsten kümmert. Vor allem das als „Hartz IV“ bezeichnete Gesetzespaket sollte die Arbeitslosigkeit (Verwaltung der davon Betroffenen) wie die Arbeit (Senkung des Reallohnniveaus) billiger und die Bundesrepublik damit auf den Weltmärkten noch konkurrenzfähiger machen. Beschönigend als „Zusammenlegung mit der Sozialhilfe“ charakterisiert, war die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe ein Markstein auf dem Weg zum Almosen- bzw. Suppenküchenstaat, weil sie mit einer Abschiebung der Langzeitarbeitslosen in die Wohlfahrt einherging. War die Arbeitslosenhilfe eine Lohnersatzleistung, die sich noch Jahre oder Jahrzehnte später nach der Höhe des vorherigen Nettoverdienstes richtete, ist das Arbeitslosengeld II genauso niedrig wie die Sozialhilfe.

Das lohn- und beitragsbezogene Sicherungssystem der Bundesrepublik entspricht aufgrund des gültigen Äquivalenzprinzips (Balance von Leistung und Gegenleistung), welches Ein- und Auszahlungsbeträge etwa in der Gesetzlichen Rentenversicherung miteinander in eine Kausalbeziehung, wenn auch nicht völlig zur Deckung bringt, weitgehend der Leistungsideologie und einem meritorischen Gerechtigkeitsverständnis. Trotzdem droht der Sozial(versicherungs)staat, seit Bismarck darauf gerichtet, vor Standardrisiken zu schützen, als Fürsorgesystem zu enden, das einerseits weniger über Beiträge von Arbeitgebern und Versicherten als durch Steuermittel finanziert wird und andererseits nicht mehr den Lebensstandard seiner Klientel erhält, sondern dieser nur noch eine Basisversorgung (bloße Existenzsicherung) angedeihen lässt.

1.7 Abkehr von der gesamtgesellschaftlichen Solidarität und Rückkehr zur Familiensubsidiarität

Was der neoliberalen Prinzipien gemäß reformierte Wohlfahrtsstaat nicht mehr zu leisten vermag, weil man ihm die dafür benötigten Geldmittel bzw. Ressourcen vorenthält, dem Markt aber nicht überlassen bleiben kann, weil sich davon keiner seiner Teilnehmer/innen irgendeinen Gewinn verspricht, wird der sozial benachteiligten Person (unter dem Stichwort „Eigenverantwortung“) entweder selbst aufgebürdet oder ihrer Familie (unter Rückgriff auf den Subsidiaritätsbegriff) als Verpflichtung zugewiesen. Während das Solidaritätsgebot als in der Leistungs-, Wissens- bzw. Wettbewerbsgesellschaft nicht mehr realisierbar und daher antiquiert diffamiert wird, erfährt das Subsidiaritätsprinzip eine merkwürdig anmutende Renaissance im neoliberalen Gewand. An die Stelle des Sozialstaates tritt in der rückwärtsgewandten Utopie des Liberalkonservatismus wieder die Großfamilie als eine Art „Selbsthilfegruppe“, wie sich Kurt Biedenkopf (2006: 200) ausdrückt.

Nichts schadet Familien mehr als der Um- bzw. Abbau des Sozialstaates und die Vermarktung der zwischenmenschlichen Beziehungen, die mit den Schlagworten „Globalisierung“ und „Standortsicherung“ begründet wird. Eine kapitalistische Hochleistungs-, Konkurrenz- und Ellenbogengesellschaft, die sich eher für Berufskarrieren und Aktienkurse als für Suppenküchen, Kinderarmut und Babyklappen interessiert, bietet sozial benachteiligten Familien keine gesicherte Existenzgrundlage. Flexibilität, Risikofreude und soziale Unsicherheit, wie sie der „Turbokapitalismus“ (Edward N. Luttwak) vor allem seinen Arbeitskräften bzw. prekär Beschäftigten abverlangt, sind die Todfeinde der Familie. Der „flexible Mensch“ (Richard Sennett) kann sich gar keine Familie mehr „leisten“, sei es aufgrund finanzieller Probleme oder infolge jener geografischen Mobilität, die Manager transnationaler Konzerne von ihm fordern. Umso mehr erstaunt die Tatsache, dass die Aufgabe der Gewährleistung sozialer Sicherheit nicht nur auf den Markt, vielmehr auch in die Familie hinein redelegiert wird. Die zunehmende Kinderarmut als zwangsläufige Folge neoliberaler Regierungspolitik ist ein Armutszeugnis für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft (vgl. Butterwegge u.a. 2008).

2. Massenarbeitslosigkeit und -armut im Gefolge der
Finanzmarktkrise

Wenn der Wohlfahrtsstaat nach neoliberalen Rezepten um- bzw. abgebaut wird, spaltet sich die Gesellschaft. Auch sozialräumlich fällt sie deutlicher auseinander, was nicht ohne Konsequenzen für ihren Zusammenhalt bleibt. Armut, die in einem reichen Land mit sozialer Ausgrenzung oder Exklusion verbunden ist (vgl. Butterwegge 2009: 12ff.), kann man als eine besonders perfide Form struktureller Gewalt begreifen. Drogenmissbrauch, Brutalität und (Gewalt-)Kriminalität nehmen wenigstens der Tendenz nach zu. Die neoliberale Hegemonie, verstanden als öffentliche Meinungsführerschaft des Marktradikalismus, verschärft jedoch nicht nur die soziale Asymmetrie, bedeutet vielmehr auch und vor allem eine Gefahr für die Demokratie.

Seit die Bankenkrise mit dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 globale Dimensionen angenommen hat, deutet vieles darauf hin, dass sich die soziale Zerklüftung unserer Gesellschaft erheblich verschärfen wird. Man muss kein Prophet sein, um voraussagen zu können, dass mit der Arbeitslosigkeit auch die Armut im Gefolge der globalen Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise stark zunehmen wird. Erwerbslose haben besonders dann wenig Geld, wenn die sozialen Sicherungssysteme durch Reformmaßnahmen demontiert werden. Außerdem fällt Lohndumping in Krisenzeiten leichter, sodass künftig noch erheblich mehr Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnsektor angesiedelt sein dürften.

Zu den fatalen Folgen der Weltfinanzwirtschaftskrise könnten eine auf Rekordniveau steigende Arbeitslosigkeit, die zunehmende Verelendung von Millionen Menschen, eine dramatische Verschuldung aller Gebietskörperschaften des Staates, d.h. „öffentliche Armut“ in einem vorher nicht bekannten Ausmaß gehören. Wenn die privaten Banken den für sie bürgenden Staat zur Kasse bitten, wird für sozial Benachteiligte und Bedürftige kaum noch Geld übrig bleiben. Zusammen mit der im Grundgesetz verankerten „Schuldenbremse“ führen Bürgschaften und Kredite in Milliardenhöhe zu überstrapazierten Haushalten, wodurch sich „Sparmaßnahmen“ natürlich eher als sonst legitimieren lassen. Gleichzeitig wird sich der Reichtum wahrscheinlich noch stärker bei wenigen Kapitalmagnaten, Finanzinvestoren, Investmentbankern und Großgrundbesitzern sammeln, wenn dem nicht energisch entgegengesteuert wird.

Während so getan wird, als habe die Regierung das Problem der kollabierenden Finanz- und Arbeitsmärkte im Griff, breitet sich die soziale Unsicherheit aus, worauf der Staat mit einem Ausbau seines Repressionsapparates reagiert. Zwischen dem Schwinden der staatlichen Autorität im ökonomischen Bereich, die im Gefolge der Finanzmarktkrise nunmehr erst wieder mühselig rekonstruiert werden muss, und ihrer Stärkung im Hinblick auf die Durchsetzung einer bestimmten Sozial- und Moralordnung besteht nur scheinbar ein Widerspruch. Die (strukturelle) Gewalttätigkeit des Staates nimmt in der „Zangenbewegung“ zwischen einer „Ausweitung von Ordnungsfunktionen“ und einer „Ausdünnung von Leistungs- und Gestaltungsfunktionen“ zu (siehe Dimmel/Schmee 2008: 13). Auch in der Bundesrepublik scheint sich die gesellschaftliche Akzeptanz von Armut und sozialer Ausgrenzung während der letzten beiden Jahrzehnte erhöht zu haben, während die Akzeptanz der Armen selbst aufgrund des sich ausbreitenden Wohlstandschauvinismus, Sozialdarwinismus und Standortnationalismus zurückgeht. Deshalb ist damit zu rechnen, dass sich der Umgang mit sozial Benachteiligten, vornehmlich mit „aggressiven Bettlern“ und „Asozialen“ hierzulande in nächster Zeit verhärten und ein sehr viel strengeres Armutsregime errichtet wird.

Die wachsende Armut wird die politische Agenda der Bundesrepublik im Gefolge der Weltfinanzwirtschaftskrise 2008/09 vermutlich stärker als je zuvor in ihrer über 60-jährigen Geschichte bestimmen. Massenarbeitslosigkeit und -armut, die zu den unvermeidlichen Begleiterscheinungen einer tiefen Erschütterung der Weltwirtschaft gehören, schaffen auch mehr politisch-ideologische Zugänge zum Rechtsextremismus bzw. -populismus (vgl. Butterwegge/Hentges 2008). Wenn sich bei der tendenziell erodierenden Mittelschicht die Furcht ausbreitet, in den von der globalen Finanzmarktkrise erzeugten Abwärtssog hineingezogen zu werden, sind irrationale Reaktionen und Rechtstendenzen mehr als wahrscheinlich. Ohne historische Parallelen überstrapazieren und durch den Blick zurück die aktuelle Krisensituation dramatisieren zu wollen, denkt man unwillkürlich an die Weltwirtschaftskrise gegen Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre bzw. den Aufstieg des Nationalsozialismus und seines „Führers“ Adolf Hitler.

Literatur

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