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Bewegungsforschung in Mexiko

Cultural politics der Volksversammlung der Völker Oaxacas (APPO)

von Robert Swoboda
März 2013

Im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca konnte sich die PRI (Partei der institutionellen Revolution) 81 Jahre an der Regierung halten – das sind zehn Jahre mehr als auf Bundesebene. Die Amtszeit des letzten PRI Gouverneurs Ulises Ruiz war von heftigen Konflikten mit der Zivilgesellschaft gekennzeichnet. Im Juni 2012 gestand der neu gewählte Gouverneur Gabino Cué die Verantwortung des Staates für Menschenrechtsverletzungen ein, die zwischen 2006 und 2007 während repressiver Reaktionen der Regierung seines Vorgängers auf monatelange Massenproteste begangen wurden. Die Erklärung Cués soll ein Zeichen des Entgegenkommens sein und zur politischen Entspannung und Versöhnung beitragen. Die Opfer der Staatsgewalt, so Cué, würden rehabilitiert und entschädigt, außerdem solle juristische Aufklärung für Gerechtigkeit sorgen. Die Ergebnisse der Ermittlungen durch eine vor mehr als einem Jahr eingesetzte Sonderstaatsanwaltschaft sind indes noch abzuwarten.

Jahrzehntelang wurde in Mexiko jegliche außerparlamentarische Opposition kaum wahrgenommen, weder von der Gesellschaft noch von der Regierung. Der symbolische Gründungsmythos der Revolution und die Verfassung von 1917 waren zugleich Freifahrtschein und Legitimationsbasis für den Zentralismus der Staatspartei PRI (vgl. Schütze 2009: 37f.). Zudem gaben politische Stabilisierungsprozesse und der wirtschaftliche Aufschwung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der PRI einen weit reichenden Rückhalt in der mexikanischen Bevölkerung. So konnte die PRI einen Staat aufbauen, der seit den 1940er Jahren die mexikanische Gesellschaft funktional über Organisationen in die Partei einband. Erst mit dem Ende der 1960er Jahre begann die Kritik an der zentralistischen Organisation von Politik und Gesellschaft zuzunehmen. Am lautesten forderte zunächst die mexikanische Studentenbewegung Möglichkeiten zur politischen Partizipation außerhalb parteigelenkter Organisationen. Die Regierung reagierte 1968 mit einem Massaker an den Studenten während einer Großkundgebung in Mexiko-Stadt. In den folgenden Jahrzehnten entwickelten sich unterschiedliche soziale Bewegungen, zivilgesellschaftliche Organisationen und bewaffnete politische Gruppen: die unabhängige Gewerkschaftsbewegung, die Frauen- und Stadtteilbewegungen, auf dem Land indigene und Bauernbewegungen sowie bewaffnete Guerillagruppen (vgl. ebd: 43). Auch die Ursprünge neuer sozialer Bewegungen in Oaxaca lassen sich bis in die 1960er Jahre zurückverfolgen.

Das Prädikat „neu“ wird im Allgemeinen dazu benutzt, um vergleichbare Differenzen zwischen historischen Formen des Klassenkonflikts und gegenwärtigen Formen kollektiven Handelns zu bestimmen. Es wird dabei keinesfalls geleugnet, dass es Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten zwischen alten und neuen sozialen Bewegungen gibt (vgl. Melucci 1999: 119). An diese Unterscheidung knüpft sich eine Theorie neuer sozialer Bewegungen, welche aus der Analyse westlicher Gesellschaften entstand. Sie formuliert Annahmen über die Entstehungsgründe neuer sozialer Bewegungen sowie über die Ausrichtung ihrer Forderungen (vgl. Kern 2008).

Wahrnehmungen und Interpretationen von sozialen Bewegungen variieren in ihrem historisch-geografischen und damit auch kulturellen Kontext. Es lässt sich idealtypisch zwischen einem europäischen und einem nord-amerikanischen Strang der Bewegungsforschung unterscheiden (vgl. Kern 2008: 95). In den letzten 20 Jahren leistete auch die lateinamerikanische Forschung wichtige Beiträge, durch kritische Rezeption vorhandener Theorien, eigene Erfahrungen mit sozialen Bewegungen sowie durch die Einführung und Etablierung einer neuen Analysedimension, der cultural politics. Diese haben Alvarez, Dagnino und Escobar in ihrem Werk „Culture of Politics – Politics of Culture“ erarbeitet (Alvarez/Dagnino/Escobar 1998). Deshalb muss die Gesamtheit theoretischer Ansätze der Bewegungsforschung mittlerweile im konstitutiven Zusammenspiel internationaler Diskussionen gesehen werden (vgl. Klein/Legrand/Leif 1999: 7). Der Soziologe Kai Uwe Hellmann benutzt den Paradigmenbegriff für die Bezeichnung der unterschiedlichen theoretischen Herangehensweisen in der Bewegungsforschung, um die spezifische Weltsicht zu verdeutlichen mit der Sozialforscher ihren Gegenstand beschreiben (vgl. Hellmann 1999: 91). Das bringt einen wichtigen Aspekt der Bewegungsforschung zum Ausdruck, er präsentiert die „multiplen Sichtweisen“ (Schön 2008: 36) nicht als Ergebnis eines deterministischen Erkenntnisprozesses, sondern verweist auf die internationale Vielfalt von sozialen Bewegungen sowie auf deren kulturabhängige wissenschaftliche Rezeption.

Im folgenden Beitrag wird die Analysedimension der cultural politics auf die soziale Bewegung der APPO (Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca) angewendet. Sie ergänzt die gängigen Paradigmen der Bewegungsforschung, indem sie das Verständnis von sozialen Bewegungen um die Perspektive der politisch-kulturellen Einflussnahme auf hegemoniale Strukturen bereichert. Die Untersuchung von cultural politics der APPO dient hier vor allem der Einzelfallanalyse und nicht des Theorietests; dennoch ist die Bedeutung und das Potential dieser Analysedimension für die Bewegungsforschung beträchtlich. Gerade für die Forschung zu sozialen Bewegungen in Lateinamerika ist sie deshalb besonders geeignet, weil sie die dortigen genuin sozio-ökonomischen und politischen Gegebenheiten stärker berücksichtigt als die etablierten eurozentristischen und nordamerikanischen Theorieansätze.

Kontextbedingungen sozialer Bewegungen in Oaxaca und der Konflikt von 2006

In Oaxaca sind Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung und der Regierung keine Seltenheit. Die Bürger erreichten durch Mobilisierungen die Absetzung von drei Gouverneuren in den Jahren 1947, 1952 und 1976 (vgl. Zires 2009: 167). In den 1960er Jahren konnten indigene Bauernbewegungen, Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften sowie Studentenbewegungen an Mitgliederstärke und Einfluss hinzugewinnen. In ihnen haben viele der gegenwärtigen Bewegungen ihre ideellen Wurzeln (vgl. Educa 2009: 9). Die sozialen Konflikte nahmen in der Folgezeit zu und auch die autoritäre und antidemokratische Haltung des PRI-Regimes verschärfte sich. Die politischen Rahmenbedingungen eröffneten erst in den 1990er Jahren neuen Handlungsspielraum für die sozialen Bewegungen Oaxacas. Zwei wichtige Ereignisse des Jahres 1994 nahmen darauf Einfluss: Erstens war der erfolgreiche Aufstand der zapatistischen Guerilla (EZLN) – einer indigenen Bauernbewegung mit Autonomiebestrebungen in dem angrenzenden Bundesstaat Chiapas – ein motivierender Faktor für die Indigenen Oaxacas und gleichzeitig alarmierend für die Regierung. Zweitens aktivierten die Präsidentschaftswahlen landesweit Bürger dazu, bei Großdemonstrationen faire und transparente Wahlen zu fordern (vgl. Educa 2010: 13).

Die Völker Oaxacas erwirkten wichtige Reformen, so zunächst in Form eines Gesetzes zum Schutz der Rechte indigener Völker und Gemeinden. 1995 wurde ihnen per Gesetz eingeräumt, abseits der Parteienlandschaft nach „Gebräuchen und Gewohnheiten“ (usos y costumbres) eigene Vertreter auf Gemeindeebene zu wählen. Drei Jahre später erfolgte eine Verfassungsreform, die den indigenen Völkern das Recht auf Selbstbestimmung, eigene Formen sozialer und politischer Organisation sowie Jurisdiktion zugestand. Oberflächlich betrachtet bescheinigen die Neuregelungen der Verfassung Oaxacas dem politischen System Pluralismus und eine „harmonische Koexistenz der verschiedenen Völker und Kulturen“ (Esteva 2008: 67). Einige Beobachter beschrieben die neuen Gesetze zu indigenen Rechten als die weitreichendsten auf dem amerikanischen Kontinent. Dennoch ließ die Verfassungsreform andere wichtige Punkte unberücksichtigt. Die drei Gewalten des Bundesstaates wurden seit 1929 von einer politischen Partei kontrolliert. Außerdem schreibt die Verfassung die Konzentration der Macht auf den Gouverneur fest, durch weit reichende Kompetenzen bei der Gesetzgebung und in der Judikative. Es entwickelte sich in Oaxaca daraus ein autoritäres Regime, das Wahlgänge als kontrollierte Mechanismen zur Legitimation erschienen ließ und Gewaltenteilung nicht kannte.

Mit den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 – die der PAN-Kandidat Vicente Fox gewann und damit die über sieben Dekaden dauernde Herrschaftsperiode der PRI beendete – wandelte sich auch die „politische Landschaft Oaxacas“ (Gibson 2010: 100), allerdings in umgekehrter Richtung. Der erhöhte Transformationsdruck auf nationaler Ebene hatte zur Folge, dass er auf subnationaler Ebene abnahm. In diesem Zusammenhang ist gegenwärtig zu beobachten welche politischen Rahmenbedingungen seit der Wiederwahl der PRI im Juli 2012 mit dem neuen Präsidenten Peña Nieto geschaffen werden. Mit dem Regierungswechsel 2000, der Vicente Fox das Präsidentenamt verschaffte, lockerte sich die präsidentielle Kontrolle über die Gouverneure und erlaubte es ihnen, ohne Einschränkungen und politisches Gegengewicht zu regieren. So konnten José Murat von 1998 bis 2004 und Ulises Ruiz Ortiz von 2006 bis 2010 als Gouverneure in Oaxaca das durchsetzen, was der mexikanische Sozialwissenschaftler Martínez den „autoritären Gouverneuralismus“ (Martínez Vásquez 2007: 19) nennt. Unter Murat und Ruiz nahmen die Korruption und der Klientelismus beständig zu, während die Opposition mit Bestechungsgeldern weitgehend ruhig gestellt werden konnte. Wer sich nicht unterwerfen ließ, wurde mit Repression und „harter Hand“ (Juan Martínez 2010: 28) der Regierung konfrontiert. Laut dem mexikanischen Index für Korruption und verantwortungsvolle Regierungsführung (INCBG) lag Oaxaca im Jahr 2010 auf Platz 29 von 32 möglichen Platzierungen.

Im selben Jahr vollzog sich durch die lokalen Wahlen im Juli ein Regierungswechsel, der nach 81 Jahren die PRI absetzte und dem Kandidaten des Oppositionsbündnisses, bestehend aus „Convergencia“ und drei weiteren Parteien, Gabino Cué Monteagudo den Gouverneursposten verschaffte. Diesem keineswegs zufälligen, aber unerwarteten Wahlsieg der Opposition gingen 2006 Proteste in ganz Oaxaca voraus. Sie waren keine plötzlichen Manifestationen öffentlichen Unmutes, sondern Folgen von Bedingungen, die das Jahrzehnte alte PRI-Regime schuf. Der Konflikt zwischen sozialen Bewegungen und der Regierung im Jahr 2006 war eine Konsequenz einer lang andauernden politischen Krise des Bundesstaates. Während mehrerer Monate des Jahres 2006 fanden im Bundesstaat Oaxaca Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und zivilgesellschaftlichen Gruppen statt, die nachhaltig Politik und Gesellschaft verändern sollten.

Die lange Reaktionskette zwischen den Akteuren über den gesamten Zeitraum hinweg kann hier nicht vollständig beschrieben werde. Die Schilderung der wichtigsten Wendepunkte des Konflikts genügt, um die Zusammenhänge zu veranschaulichen. Die Auseinandersetzungen begannen mit den alljährlichen Forderungen und anschließenden Demonstrationen einer Lehrergewerkschaft. Die Lehrer der Sektion 22 der nationalen Lehrergewerkschaft (SNTE) übergaben am 1. Mai der Regierung ein Papier mit Forderungen rund um das Bildungssystem. Um ihren Anliegen Nachdruck zu verleihen, kampierten die Lehrer im Zentrum der Hauptstadt Oaxaca de Juaréz für mehrere Wochen und legten ihre Arbeit ab dem 22. Mai nieder. Begleitet wurden die Forderungen von Demonstrationen, welche die Lehrergewerkschaft mit zwei weiteren Organisationen realisierte und die bis zu 60.000 Menschen auf die Straßen brachten. Am 2. Juni forderten 350 Kommunalpolitiker von der Sektion 22, in die Klassenräume zurückzukehren und den Streik zu beenden. Davon wollte die Lehrerschaft jedoch zunächst nichts wissen. Ab diesem Punkt begannen die Spannungen zuzunehmen. Am 14. Juni begann die Verdrängung der streikenden Lehrer aus der Innenstadt und aus deren Gewerkschaftsgebäude durch mindestens 2.000 Polizisten unterschiedlicher Einheiten des Bundesstaates. Die Vertreibung wurde mit Schlagstöcken, Tränengas und Hunden durchgeführt, wobei über 100 Personen verletzt wurden. Die Reaktion war eine breite Solidarisierungswelle mit den Lehrern, welche sich am Folgetag mit Unterstützung von Sympathisanten und ebenfalls unter Einsatz von Gewalt auf den Zócalo (zentraler Platz in der Innenstadt) zurückkämpften. Bereits für den 17. Juni wurde eine Versammlung einberufen, an der mehr als 250 Organisationen und soziale Bewegungen teilnahmen. Gegründet wurde dabei die APPO, welche ein Sammelbecken für linke Gruppen, Menschenrechtsorganisationen, indigene Organisationen, Studentengruppen, Jugendgruppen, Frauenorganisationen u.a. wurde (vgl. Martínez Vázquez 2007: 66ff.). Die APPO entwickelte sich zu einer starken Bewegung mit breiter gesellschaftlicher Unterstützung. Das wichtigste verbindende Element wurde dabei die Forderung nach der Absetzung des Gouverneurs Ulises Ruiz.

Teile der APPO blockierten in den folgenden Tagen unzählige Straßen in der Innenstadt und den Randgebieten und besetzten öffentliche Gebäude, darunter die Hauptsitze der drei Staatsgewalten des Bundesstaates. Die in der Stadt errichteten Straßenbarrikaden blieben Tag und Nacht besetzt und wurden für die Beteiligten ein Ort des politischen Austausches. Zu den spontanen Aktionen gehörte u.a. die Besetzung der Fernsehstation Kanal 9 durch einen in der APPO organisierten Frauenverband; die Aktivistinnen begannen, politische Sendungen zu produzieren und auszustrahlen. Ebenso wurden Radiostationen zur Kommunikation genutzt und einige besetzt. Außerdem drohte die Bewegung damit, in Oaxaca die Wahlen des 2. Juli (Präsidentschafts- und Senatswahlwahl) zu boykottieren.

Zu dieser Zeit blieben der Regierung nur gezielte Aktionen auf einzelne Demonstranten und Medienstationen durch die Polizei und paramilitärische Gruppen und der Versuch, die Bewegung zu spalten. Die Konfliktbeziehung der beiden Akteure von Regierung und APPO schwankte in der Folgezeit zwischen Verhandlungen, gegenseitiger Gesprächsablehnung und offenen gewalttätigen Auseinandersetzungen. Der APPO gelang es für mehrere Monate, die Hauptstadt Oaxacas für die PRI-Regierung unregierbar zu machen. Allerdings nahm die Bewegung auf die politischen Verhältnisse solange nur oberflächlichen Einfluss, wie ihrer Forderung nach der Absetzung des Gouverneurs nicht nachgegeben wurde. Nach fünf Monaten, Ende Oktober 2006, wurde der Widerstand durch den Einsatz von Bundespolizei gebrochen und die alten Machtverhältnisse zwischen Regierung und Zivilbevölkerung wieder hergestellt.

Die Demonstranten wurden zu hunderten inhaftiert. Während der folgenden Tage setzte eine starke Repressionswelle ein. Laut Amnesty International wurden während der gesamten Unruhen mindestens 18 Menschen getötet. Dazu kamen weitere Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Festnahmen, Isolationshaft, Misshandlungen, Folter, Drohungen, Drangsalierungen von Menschenrechtsverteidigern sowie von Journalisten und die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit bzw. des Rechts auf ein faires Verfahren (vgl. Bericht von Amnesty International). Die APPO organisierte zwar auch im Dezember weiterhin Demonstrationen und blieb damit eine politische Kraft, allerdings verlor sie an Stärke und jegliche Möglichkeit, auf die Transformation der Regierung Oaxacas Einfluss zu nehmen.

Zwar gelang es der APPO trotz der Repression, über den Zeitraum des Ausnahmezustands hinaus, verschiedene Bewegungen zu vereinen, doch gab es untereinander zunehmend Auseinandersetzungen zwischen der Lehrergewerkschaft und anderen Teilen der APPO wegen unterschiedlicher Interessen. Obwohl die Bewegung den Kampf um einen Regierungswechsel 2006 verlor, behielten ihre Forderungen weiterhin Aktualität und Rückhalt in der Bevölkerung. Die APPO war wie eine „Antwort auf den Autoritarismus“ (Gómez 2009: 59) Oaxacas.

Cultural politics am Beispiel der APPO

Die lateinamerikanischen Bewegungsforscher Alvarez, Dagnino und Escobar erweiterten in den 1990er Jahren die wissenschaftlichen Perspektiven auf soziale Bewegungen durch einen Ansatz den sie cultural politics nennen. Sie machten zunächst darauf aufmerksam, dass soziale Kämpfe auch immer Kämpfe um Hegemonie und Definitionsmacht sind (vgl. Kaltmeier/Kastner/Tuider 2004: 19). In Lateinamerika entzünden sich soziale Kämpfe nicht nur an Fragen sozialer Verteilungs(un)gerechtigkeit, sondern auch an alternativen Entwürfen von Demokratie und Politik: „Grundsätzlich diskutiert wird, was unter Demokratie zu verstehen ist: Es geht um die genaue Bestimmung von Begriffen wie „politische Arena“ und den am politischen Prozess Beteiligten, ihren Institutionen, Verfahren, Themen und ihrer Reichweite.“ (Alvarez/Dagnino/Escobar 1998: 1)

Soziale Bewegungen, so eine weitere Prämisse, nehmen im sozialen Kampf eine zentrale Rolle ein. Alle Gesellschaften Lateinamerikas sind mit Debatten über die Inhalte von Demokratie konfrontiert. In ihren Ländern wurden zwar Demokratien implementiert, doch oft nur als Kombinationen „aus formal freien Wahlen, aber weitgehend ohne konstitutionelle Gewaltenteilung und garantierte zivile wie politische Freiheitsrechte“ (Roth 1999: 48). Soziale Bewegungen schaffen es manchmal, ihre Themen in Politik zu übersetzen und so die institutionellen Grenzen auszudehnen. Entscheidend dabei ist, dass sie auch darum kämpfen, gängigen Begriffen wie Bürgerrecht und -pflicht, politische Repräsentation und Beteiligung neuen Sinn zu geben. In der Konsequenz verändern sie die Bedeutung politischer Begriffe, indem sie sie mit neuen Inhalten füllen. Beides, die Übersetzung der Programme einer Bewegung in Politik, sowie die Neudefinierung von politischen Begriffen bringt die Anwendung von cultural politics mit sich (Vgl. Alvarez u.a. 1998: 2).

Die sozialen Bewegungen Lateinamerikas betreiben cultural politics, wenn sie „alternative Konzepte von Frau-Sein, Natur, race, Wirtschaft, Demokratie oder citizenship einsetzen, die die dominanten kulturellen Bedeutungen erschüttern“ (Alvarez u.a. 2004: 36). Die Perspektive auf die cultural politics sozialer Bewegungen zu verlagern, hilft den Blick auf die politisch-kulturellen Interessen und Forderungen sozialer Bewegungen zu schärfen. Das besondere Interesse der Autoren gilt der Frage, wie soziale Bewegungen durch cultural politics auf die dominante politische Kultur Einfluss nehmen. Die politische Kultur definieren sie als die soziale Konstruktion dessen, was in einer Gesellschaft als politisch gilt. Sie knüpfen damit an die von Almond und Verba entwickelte Theorie an, in der die politische Kultur, das in der Wahrnehmung der Gesellschaft verinnerlichte politische System darstellt (vgl. Almond/Verba 1963: 14). Indem soziale Bewegungen die Grenzen kultureller und politischer Partizipation und sozialer Praktiken erschüttern, stellen sie die dominante politische Kultur in Frage, in der sie sich bewegen und sich als soziale Akteure mit Ansprüchen bestimmen (vgl. Alvarez u.a. 2004: 37).

Der Ort des „Ringens um Deutungen und Wahrheiten und um die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Organisationsformen der Gesellschaft“ (Sekler 2009: 178) ist nach Antonio Gramsci die Zivilgesellschaft. Sie kann als ein „vermachteter und umkämpfter öffentlicher Raum betrachtet werden, in dem die politischen und ideologischen Dimensionen der Kämpfe um Hegemonie ausgetragen werden.“ (Kastner 2004: 266) Alvarez, Dagnino und Escobar knüpfen an Gramscis Konzept von Zivilgesellschaft an, welches in ihr die Sphäre im Kampf um kulturelle und politische Hegemonie sieht. Sie verweisen auf die „Tatsache, dass der Staat selbst Beziehungen innerhalb der Zivilgesellschaft strukturiert“ (Alvarez u.a. 2004: 46) (z. B. durch „Transmigration“ sozialer Aktivisten in den Staat und wieder zurück). Wie für Gramsci ist für Alvarez, Dagnino und Escobar eine stabile politische Herrschaft nur durch die Hegemonie in der Zivilgesellschaft möglich. Alvarez u.a. ergänzen dieses Verständnis von Zivilgesellschaft durch die Aufmerksamkeit auf public spheres. Sie verstehen darunter von sozialen Bewegungen konstruierte oder angeeignete öffentliche Räume, die als Erweiterungen institutioneller Politik außerhalb der Grenzen von Regierungskreisen fungieren (Krischke 1998: 417). Beispiele dafür können private Innenhöfe und lokale Märkte als auch die Nutzung des Internets (bspw. in effektiver Weise durch die Zapatistas genutzt) sein, sofern sie wichtige Orte der Bedeutungsproduktion und Verknüpfung von Kultur, Politik und Beteiligung darstellen. Der deutsche Bewegungsforscher Schön knüpft daran an und ergänzt, dass es in vielen Fällen nicht das Ziel sei „die formale Macht zu übernehmen, sondern in der zivilgesellschaftlichen Sphäre die eigene ‚populare’ Macht zu entfalten und in vernetzter Form zu potenzieren, um Parallelsysteme entstehen zu lassen, von denen aus mit ihrem Bezugssystem in Beziehung getreten werden kann.“ (Schön 2008: 42) Insofern Gegenöffentlichkeiten als Antwort auf Ausgrenzung von dominanten Öffentlichkeiten entstehen, weiten sie diskursive Räume aus, indem zuvor ausgeschlossene Themen nun öffentlich diskutiert werden und politisch bisher Unbeteiligte beteiligt werden (vgl. Alvarez u.a. 2004: 46ff.).

Cultural politics sind die Diskursergebnisse von Artikulation und Kommunikation, d.h. die politisch-kulturellen Inhalte und Forderungen sozialer Bewegungen. Artikuliert werden eigene Identitäten und die politischen Positionen. Kommunikation findet zwischen den Bewegungen untereinander und mit ihren Bezugssystemen (Zivilgesellschaft und politisches System) statt. Cultural politics entstehen in selbst geschaffenen oder angeeigneten öffentlichen Räumen (public spheres) und nehmen Einfluss auf die politische Kultur. Gleichzeitig kann über die politische Kultur – auch wenn das nicht ihr einziger Wirkungsbereich ist – Einfluss auf das politische System ausgeübt werden (z.B. durch Wahlen). Soziale Bewegungen sind durch cultural politics Produzenten von Bedeutungen politischer Inhalte, die in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein wirken können.

Um den politisch-kulturellen Einfluss sozialer Bewegungen zu verstehen und „ihre Beiträge zur Unterminierung von sozialem Autoritarismus und elitenbasierter Demokratisierung zu beurteilen“, reicht daher nicht allein die Untersuchung der Interaktionen „von Bewegungen mit offiziellen öffentlichen Umwelten (wie Parlamente und andere nationale und transnationale Politikschauplätze)“ (Alvarez u.a. 2004: 47). Der Begriff von Politik sollte deshalb auch Machtkämpfe umfassen, „die in einer großen Zahl von Räumen ausgetragen werden, die kulturell als privat, sozial, wirtschaftlich usw. definiert werden.“ (ebd.: 47) Dabei sollte Macht nicht als „Blöcke institutioneller Strukturen mit von vornherein feststehenden, festgelegten Aufgaben (dominieren, manipulieren) oder als Mechanismen für die Herstellung von Ordnung von oben herab, sondern als eine soziale Beziehung, die sich durch alle Räume zieht“ (Canclini, zit. nach ebd.: 40) verstanden werden. Der Beziehung sozialer Bewegungen zur verdichteten Macht des politischen Systems muss die angemessene Aufmerksamkeit geschenkt werden, während gleichzeitig die Erforschung dieser Beziehung nicht ausreicht, um den gesamten politischen und kulturellen Einfluss und die Bedeutung sozialer Bewegungen zu begreifen.

In Oaxaca galt nicht nur der autoritär regierende Gouverneur Ulises Ruiz als Problem, sondern auch das Modell des politischen Systems (vgl. Ramírez 2010: 96). Die lauteste Forderung der APPO war zwar die Absetzung des Gouverneurs, doch standen dahinter eine Reihe verschiedener Appelle an Staat und Gesellschaft, mit denen sie die Parameter der vermeintlich demokratischen Gesellschaftsform in Frage stellten. Verlagern wir also den Blick auf die Konstruktionsleistungen der APPO. Sie sind die weniger offensichtlichen Ergebnisse ihres sozialen und politischen Kampfes, den sie durch die Schaffung und Aneignung öffentlicher Räume (public spheres) führte. Die in öffentlichen Räumen geformten politischen Forderungen und politischen Alternativvorschläge (cultural politics) werden im Folgenden beschrieben und in ihrer Wirkung auf die politische Kultur Oaxacas untersucht.

Zählen wir zunächst all jene public spheres auf, in denen sich die APPO artikulierte oder kommunizierte: Demonstrationen, Versammlungen, landesweite Protestmärsche, Besetzungen (des Stadtzentrums, des Parlaments und der Staatsanwaltschaft), Straßenbarrikaden, angeeignete Radiostationen sowie einen Fernsehkanal, Streetart (Graffitis) sowie durch das Internet und die Ausrichtung eines alternativen Volksfestes (Guelaguetza popular) in Opposition zu dem von der Regierung ausgerichteten kommerziellen Fest. Im Folgenden können aufgrund ihres inhaltlichen Umfangs nicht alle public spheres auf ihre Wirkung untersucht werden. Deswegen werden beispielhaft die Versammlungen auf cultural politics hin untersucht, in denen sich die APPO konstituierte und wesentliche Forderungen formulierte.

Die Versammlungen der APPO

Nachdem die Lehrer am 14. Juni 2006 vom Zócalo vertrieben wurden, besetzten sie diesen am darauf folgenden Morgen wieder, mit der unerwarteten und massiven Unterstützung verschiedener kleiner linker Bewegungen und Teilen der Gesellschaft, die nicht organisiert waren. Zwei Tage darauf berief die Sektion 22 der SNTE in den Gebäuden der autonomen Universität Benito Juárez in Oaxaca (UABJO) die erste Versammlung ein. Mit ihr wurde ein Raum für den Dialog und die Koordinierung verschiedener unabhängiger sozialer Organisationen geschaffen. Ihre Teilnehmer einigten sich auf eine gemeinsame Hauptforderung: Die Absetzung des Gouverneurs Ulises Ruiz (vgl. Bolos 2010: 233). Die Ablehnung des Gouverneurs wandelte sich während des Konflikts 2006 immer mehr in eine Zurückweisung des gesamten Regimes. Ulises Ruiz wurde in der öffentlichen Wahrnehmung zur „Inkarnation der schlechtesten Aspekte einer autoritären Regierung und einem untragbaren Unterdrücker“ (Esteva 2008: 71). Die Korruption und der Autoritarismus begannen nicht erst durch ihn, allerdings erreichten sie in seiner Amtszeit eine Intensität, welche die Mehrheit nicht mehr tolerierte.

In den nächsten Monaten folgten Aktionen und Spaltungsversuche der Regierung, die nicht nur Übereinstimmungen zwischen den beiden großen Sektoren der Bewegung förderten. Denn einerseits gab und gibt es eine Vielzahl von Organisationen unterschiedlicher politischer Ausrichtung und sozialer Basis, andererseits gibt es die Sektion 22 der nationalen Lehrergewerkschaft. Letztere hat etablierte Führungen, die auf breiter sozialer Basis Unterstützung finden und diverse Forderungen formulieren. Die Sektion 22 der SNTE folgt typischerweise einer gewerkschaftlichen Logik, mit „Präsenz auf nationaler Ebene und politischen Interessen, welche ihre gewerkschaftlichen Forderungen dominieren.“ (Bolos 2010: 233) Aus dieser ersten „Versammlung des Volkes von Oaxaca“, entstand ein provisorisches Komitee aus 30 Personen, welches bis zum 12. November 2006 agierte.

An jenem Tag, in der letzten Phase der Auseinandersetzungen mit der Regierung, wurde der konstituierende Kongress der APPO abgehalten, um eine neue Etappe der Bewegung einzuleiten. An der Veranstaltung nahmen über 1.000 Delegierte teil, außerdem kamen nahezu 500 nationale sowie internationale Gäste. Sie entwarfen einige programmatische Inhalte der Organisierung und Strukturierung und planten unmittelbar bevorstehende Schritte der Bewegung. In Arbeitsgruppen wurden Themen diskutiert, welche das neoliberale Wirtschaftsmodell und die Armut im Land betrafen sowie die politische Situation des Landes nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen. Sie verwiesen auf den Autoritarismus in Oaxaca, die Krise der politischen Institutionen und die Notwendigkeit ihrer Transformation. Um dies zu erreichen wurde eine neue Verfassung gefordert, die notwendige Reformen möglich machen sollte. Martínez ordnet die Vielzahl unterschiedlicher Vorschläge und Forderungen in vier Kategorien nach politischen, Wahlen betreffenden, ökonomischen und sozialen Aspekten. Die politischen Positionen beinhalteten u.a. die Anerkennung von Volksversammlungen, die Durchsetzung der Gewaltenteilung, den Respekt der Autonomie indigener Gemeinden und die politische Partizipation von Frauen. Bei dem Thema Wahlen ging es vornehmlich um die Diskussion kürzlich erlassener Gesetze, durch die Mandate automatisch verlängert werden konnten. Außerdem wurde für neue Formen der Bürgerbeteiligung (Plebiszite, Möglichkeiten zur Abberufung von Mandatsträgern, Implementierung eines indigenen Völkerrats) plädiert. Des Weiteren sollte eine zweite Wahlrunde möglich werden und indigene Entscheidungsformen in staatlichen Instanzen Eingang finden. Ein besonders großer Themenbereich betraf die wirtschaftlichen Aspekte Oaxacas: Die Erarbeitung von Mechanismen, durch die Produzenten und Konsumenten in direkten Kontakt miteinander treten können. Die Schaffung von Kooperativen und von Projekten, die nachhaltige regionale Entwicklung voranbringen sollen. Ein Gesetz für Transparenz und öffentliche Rechnungslegung wurde gefordert. Indigene Territorien und ihre Umweltressourcen sollten respektiert und die Megaprojekte im Rahmen des Puebla-Panama Plans ausgesetzt werden. Der Umfang sozialer Themenbereiche verdeutlichte noch mehr die Vielfalt der Kongressteilnehmer und deren Probleme. So wurde über Mechanismen der Gesundheitsvorsorge diskutiert, über Arbeits- und Bildungssicherheit, über emanzipatorische Bildung, die kritisch und frei sein müsse und die Interkulturalität durch mehrsprachigen Unterricht in den Schulen fördern solle. Die Themenpalette reichte weiter von der monetären Unterstützung für Studenten, über die Förderung alternativer Medien, bis hin zu Lösungsansätzen und Versöhnungsvorschlägen für territoriale Konflikte (vgl. Martinez 2007: 136f.).

Die drei wesentlichen Ziele des Kongresses im November waren: Erstens die Konstituierung der Bewegung in einer dauerhaften bundesstaatlichen Organisation zu Diensten der Völker Oaxacas – was letztlich nicht erreicht werden konnte. Zweitens sollte die Revolte des Jahres transformiert werden in eine friedliche, demokratische und humanistische Revolution. Schließlich wollte man sich im Kampf gegen den Neoliberalismus und Ungerechtigkeit national sowie international vernetzen. Drittens ging aus der Versammlung der staatliche Rat (Consejo Estatal) der APPO hervor, welcher repräsentiert wurde durch 260 Gemeinderäte, Repräsentanten aus den acht Regionen Oaxacas und weiteren diversen Sektoren.

Gustavo Esteva, ein angesehener Intellektueller aus Oaxaca, schreibt, dass man sich im Kongress am ehesten über die antikapitalistische Haltung ihrer Teilnehmer einig wurde, allerdings nicht darüber was diese genau beinhaltet. Die Meinungen reichten von gemäßigten reformistischen Positionen bis zu solchen, die Reformismus als lähmend für die Entwicklung einer Revolution ablehnten. Diese Beispiele sind nur die „Spitze des Eisberges“ (Esteva 2008: 78) der Themen, welche über den Kongress hinaus in Oaxaca diskutiert wurden. Weder das provisorische Komitee, in dem sich die APPO gründete, noch der im November 2006 einberufene Kongress repräsentierten die APPO in Gänze. Außerdem hatten sie zu keiner Zeit die Kapazitäten zu überprüfen und zu kontrollieren, was die beteiligten Bewegungen und Einzelpersonen bei gemeinsamen Aktionen und Demonstrationen tatsächlich unternahmen. Esteva hebt drei demokratische Kräfte hervor, welche in der APPO die meiste Zustimmung gefunden hätten. Zunächst die Bemühung um den Ausbau der formalen Demokratie, welche in Mexiko nicht selten durch Wahlfälschungen untergraben wird. Gesetzesreformen und die Umwandlung von Institutionen sollten erreichen, dass Wahlergebnisse den tatsächlichen Willen des Volkes wiederspiegeln. Die Forderungen nach partizipativer Demokratie nahmen in den letzten Jahren in Oaxaca ebenfalls zu. Es sollten u.a. Plebiszite zugelassen, Mandate revidierbar und Transparenz in der Haushaltsführung durchgesetzt werden. Während sich diese beiden Kämpfe um Demokratie auf Reformen konzentrierten, die soziale Bewegungen von der Regierung fordern, behandelte der dritte Aspekt demokratischer Kämpfe das, „was die Menschen selbst machen können, um ihre Lebensbedingungen und sozialen Beziehungen zu transformieren.“ (Ebd.: 73) Man bezog sich dabei auf Praktiken indigener Gemeinden und Munizipien, welche seit Generationen ihre eigenen Autoritäten wählen und Regierungsformen ausüben, die im Gegensatz zu den verfassungsrechtlichen Institutionen stehen. Jene Erfahrungen wollte man nutzen, um selbstorganisiert sozialen Wandel herbeizuführen, der von unten ein neues politisches System fördern sollte. Fortschritte der formalen Demokratie wurden auf diesem Weg nur als politischer Schutz für die Transformation angesehen.

All die angesprochenen sozialen und demokratischen Kämpfe, Forderungen und politischen Meinungen drückten sich 2006 in dem Aufstand der APPO aus. Dabei war Oaxaca nur eine „sensible Antenne für das was im ganzen Land“ (ebd.: 79) passiert, so Esteva. Wir können mit Hilfe von Alvarez u.a. ein Fazit zur Bedeutung von cultural politics der APPO für die politische Transformation Oaxacas ziehen: „Weil das Subalterne in Lateinamerika aus historischer Sicht auf den Status von de facto Nicht-BürgerInnen degradiert worden ist, muss die Vervielfältigung öffentlicher Schauplätze, in denen soziokulturelle, geschlechterspezifische, rassistische sowie wirtschaftliche – und nicht nur politische – Ausgrenzung in Frage gestellt und resignifiziert werden könnten, auch als integraler Bestandteil der Ausdehnung und Vertiefung der Demokratisierung gesehen werden.“ (Alvarez u.a. 2004: 47)

In dem Zitat wird nicht die Erweiterung formaler oder partizipativer Demokratie angesprochen, aber der Einfluss auf politische Kultur. Die APPO ermöglichte, in öffentlichen Diskussionsräumen über bestehende politische und gesellschaftliche Verhältnisse zu reflektieren und gebräuchliche politische Begriffe in Frage zu stellen bzw. alternative Deutungsmuster vorzuschlagen. Vor allem durch den offen kommunizierten Vergleich von hegemonialem Status quo und Erwartungen an die politische Organisation des Zusammenlebens entstanden Neudefinitionen zentraler Begriffe, die in die Selbstorganisation der Bewegung eingingen (z.B. in die basisdemokratische Entscheidungsfindung) und in Politik übersetzt wurden.

Deutlich wurde, dass das „Politische“ auch in Organisationsprozessen außerhalb des Staates beobachtet werden kann. Die Öffentlichkeit ist das umkämpfte Terrain „und alternative öffentliche Schauplätze entstehen, an denen die Diskurshoheit der dominanten ÖffentlichkeitsakteurInnen herausgefordert und Bevölkerungsmeinungen beeinflusst werden.“ (Schön 2008: 159) Darin zeigt sich der Beitrag sozialer Bewegungen zur Demokratie in Mexiko wie in anderen Staaten Lateinamerikas, welcher in der „Vermehrung multipler öffentlicher Sphären“ gesehen werden kann „und nicht nur in ihrem Erfolg hinsichtlich der Bearbeitung von Forderungen innerhalb offizieller Öffentlichkeiten.“ (Alvarez u.a. 2004: 47)

Darüber hinaus ist anzunehmen, dass der Einfluss der APPO auf die politische Kultur Oaxacas erheblich dazu beitrug, dass nach den Gouverneurswahlen 2010 nach 81 Jahren auch in Oaxaca die PRI den Regierungsvorsitz abgeben musste. Es gibt zwar weitere für den historischen Regierungswechsel verantwortliche Faktoren, vor allem ist die Allianz verschiedener oppositioneller Parteien in einem Wahlbündnis zu nennen. Doch ist das veränderte Wahlverhalten der Bevölkerung Oaxacas nicht allein aus dem Koalitionsverhalten der Parteien zu erklären, sondern beträchtlich durch die erstarkte außerparlamentarische Opposition gegen die PRI, in Form der sozialen Bewegung der APPO, und durch den Einfluss ihrer cultural politics auf die politische Kultur.

Literatur

Alvarez, Sonia E./Arturo, Escobar, The Cultural and the Political in Latin American Social Movements, in: Alvarez, Sonia E./Dagnino, Evelina/Arturo, Escobar (Hrg.), Culture of Politics – Politics of Culture. Boulder 1998.

Alvarez, Sonia E./Dagnino, Evelina/Arturo, Escobar, Kultur und Politik in sozialen Bewegungen Lateinamerikas, in: Kaltmeier, Olaf/Kastner, Jens/Tuider, Elisabeth (Hrg.), Neoliberalismus – Autonomie – Widerstand. Münster 2004.

Bolos, Silvia, Conflicto y protesta: La Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca (2005-2010), in: Estudios Sociológicos, 28 (2010).

Esteva, Gustavo, Crónica de un movimiento anunciado, in: Giarraca, Norma, Cuando hasta las piedras se levantan, Oaxaca/Mexiko 2008.

Gibson, Edward, Neo-Patrimonialism and Subnational Authoritarionism in Mexico. The Case of Oaxaca, in: The Journal of Politics in Latin America (GIGA), 2 (2010).

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