Karl Hermann (Kay) Tjaden (1935-2021)

Eingestellt 02.04.2021

02.04.2021

Kay Tjaden wurde am 18. Juni 1935 in Norden (Ostfriesland) geboren und starb am 6. März 2021 in Kassel. Mit ihm hat ein linker Wissenschaftler und Lehrer uns verlassen, den man ohne Übertreibung zu den produktivsten, vielseitigsten und anspruchsvollsten Vertretern des an Marx und Engels orientierten Denkens zählen muss. Nicht zuletzt war er auch Verfasser (häufig auch gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Margarete Tjaden-Steinhauer) von sehr vielen Beiträgen für die Zeitschrift „Z“.

Nach dem Studium in Münster, Frankfurt (hier Abschluss als Diplom-Soziologe) und Marburg promovierte er 1963 bei Wolfgang Abendroth in Politikwissenschaft mit einer Arbeit über die „Kommunistische Partei Opposition“[1], die nach Umfang und theoretischer Vertiefung noch heute als unübertroffen gilt. Danach folgte eine Phase der Beschäftigung mit „Problemen der Entwicklungsländer“ und „Faschismustheorien“ (gemeinsam mit älteren Studierenden und Mitarbeitern), die sich in mehreren Schwerpunktheften der Zeitschrift „Das Argument“ niederschlug. Die sich daran anschließende Forschung an der Habilitationsarbeit über „Soziale Systeme und Sozialen Wandel“ (1969) kann man als ein die herrschende bürgerliche Soziologie akribisch und nahezu vollständig kritisch analysierendes Werk qualifizieren. 1970 wurde Tjaden Professor für Soziologie in Marburg (als Nachfolger von Werner Hofmann), um dann schon 1974 an die neue Universität (Gesamthochschule) Kassel zu wechseln, wo er eine Professur für „Politische Ökonomie und Wirtschaftssoziologe“ antrat. Während in der ersten Hälfte der 70er Jahre die Fortsetzung der Arbeit an einer materialistisch-dialektischen Konzeption gesamtgesellschaftlicher Analyse – als Konsequenz der Beschäftigung mit den dominanten Strömungen der theoretischen Soziologie – folgte sowie die damals neu aufgenommene Debatte um Klassentheorie und Klassenanalyse in einer (mit M. Tjaden-Steinhauer) gemeinsam verfassten, viel diskutierten Studie „Klassenverhältnisse im Spätkapitalismus“ (1973) kulminierte, war die zweite Hälfte der 70er Jahre wieder von neuen Themenstellungen bestimmt. Es folgte eine zweibändige, empirisch gesättigte Studie über die als strukturschwach geltende („Zonenrandgebiet“!) Region „Schwalm-Eder Kreis“, die man zu den ersten marxistisch angeleiteten regionalwissenschaftlichen Arbeiten rechnen muss. Diese auch praktische Veränderungsvorschläge enthaltende Studie bildete einen gewissen Kontrast zu den bis dahin eher theorie-akzentuierten Werken. In dieser Zeit begannen auch die vertieften Reflexionen über eine materialistische Erfassung geschichtlicher Prozesse[2], die dann mit neuen Akzentuierungen seit den 90er Jahren mit den vier Bänden des Arbeitskreises „Subsistenz, Familie, Politik“ (von 1998 bis 2009) fortgesetzt und wesentlich erweitert wurden.

Das Nachdenken über langfristige und teilweise gegensätzliche Konsequenzen gesellschaftlicher und ökonomischer Entwicklungslinien führte zunehmend zur Hinwendung zu der Erforschung materieller Prozesse wie Energie- und Stoffströme und generell von vielen Formen der Naturnutzung bis hin zur damit verbundenen Abfallwirtschaft. Die 1990 (2. Aufl. 1992) erschienene und als ökologische Grundlagenforschung bekannt gewordene Studie „Mensch – Gesellschaftsformation – Biosphäre. Über die gesellschaftliche Dialektik des Verhältnisses von Mensch und Natur“ erörtert zahlreiche zentrale Kategorien aus diesem Feld und sieht die wachsenden Störungen des „Systems Mensch-Biosphäre“ in verschiedenen Bereichen durch allgemeine Steigerung der Gewalttätigkeit im Verhältnis der Menschen zueinander und zur Natur verursacht.

Die schon erwähnten vier Bände zu Gesellschaftstheorie und -geschichte, die zwischen 1998 und 2009 erschienen[3], zielten auf eine fundierte Skizze von Einzelbeispielen von der „Urgesellschaft“ bis heute, die einerseits eine uniforme, im Prinzip die gleichen Etappenfolgen unterstellende Entwicklung ebenso hinterfragte, wie andererseits das Konzept einer willkürlichen, zufälligen Entwicklung von Einzelfällen. Dabei war das Verhältnis von Ökonomie (Subsistenz) zu Familie und zu Politik (Staat) jeweils das die Erkenntnis leitende Dreiecksverhältnis.

Kay Tjaden war nicht selten und offenbar gern in Arbeitskreisen und Forschungsgruppen wissenschaftlich tätig, was aber nicht ausschloss, dass er sich gelegentlich für längere Zeit völlig zurückziehen konnte, um eine Studie allein durchzuführen. Auf begrifflich-analytische Klarheit, wenn möglich Eindeutigkeit und formelle Korrektheit legte er großen Wert und konnte darauf recht rigoros insistieren. Gleichzeitig konnte er – was der Autor als junger Student selbst erfahren konnte – sehr intensiv und geduldig Angehörige jüngerer Generationen ins wissenschaftliche Arbeiten einführen. Nicht wenige Vertreter der zweiten oder dritten Generation der sog. „Marburger Schule“ werden dies anerkennend bestätigen.

In den Jahren 1978 bis 1979 sowie 2005 bis 2009 gehörte Tjaden dem Vorstand des „Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler“ (BdWi) an und trug wesentlich dazu bei, diese Vereinigung für Vertreter naturwissenschaftlicher Disziplinen attraktiver zu machen.

Als Jugendlicher war Kay in der – der sozialistischen Arbeiterjugend nahe stehenden – „Jungenschaft“ d.j. 1.11 (tusk) aktiv. Es erscheint als eigenartig, dass eine seiner ersten Publikationen (1958) sowie sein letzter Artikel (2017) der Analyse dieser Gruppierung gewidmet waren.[4] Die dazwischen liegenden Veröffentlichungen und Forschungen, die in ca. sechzig Jahren zu einem „Berg“ angewachsen sind, gilt es noch einmal zu erklimmen und zu sichten. Das wäre eine mittelfristig sinnvolle Aufgabe für mehrere Personen, denn viele – nicht immer und nicht breit rezipierte – Einsichten von Kay Tjaden sind zu wichtig, um sie den Archiven zu überlassen.

Dieter Boris

[1] Der genaue Titel der Arbeit lautet: „Struktur und Funktion der ‚KPD-Opposition’ (KPO). Eine organisationssoziologische Untersuchung zur Rechtsopposition im deutschen Kommunismus zur Zeit der Weimarer Republik“.

[2] Z.B. Gesellschaftsformation und Gesellschaftsgeschichte. Zum Verhältnis von gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeit und geschichtlicher Entwicklung, in: Argument-Sonderband 32, Berlin 1978, S. 35-72.

[3] Gesellschaft von Olduvai bis Uruk. Soziologische Exkursionen, Kassel 1998 (mit M. Tjaden-Steinhauer und Lars Lambrecht);

Gesellschaft von Rom bis Ffm. Ungleichheitsverhältnisse in West-Europa und die iberischen Eigenwege. Kassel 2001 (mit M. Tjaden-Steinhauer);

Sperling, Urte/Tjaden-Steinhauer, Margarete (Hg.): Gesellschaft von Tikal bis irgendwo. Europäische Gewaltherrschaft, gesellschaftliche Umbrüche, Ungleichheitsgesellschaften neben der Spur, Kassel 2004, und

Mies, Thomas/Tjaden, Karl Hermann (Hg.): Gesellschaft, Herrschaft und Bewusstsein. Symbolische Gewalt und das Elend der Zivilisation, Kassel 2009.

[4] Tjaden, Kay: Rebellion der Jungen. Die Geschichte von tusk und von d. j.1.11, Frankfurt 1958, sowie Tjaden, Karl Hermann: Jungenschaftliche Autoritätskritik in Westdeutschland 1945-1960, in: Klaus, Barbara/Feldhoff, Jürgen (Hg.): Politische Autonomie und wissenschaftliche Reflexion. Beiträge zum Lebenswerk von Arno Klönne, Köln 2017, S. 33-40.