Editorial

Dezember 2020

Extremismus- und Totalitarismusparadigmen sind Leitplanken des bürgerlichen Verfassungsstaates, mit deren Hilfe der Raum des politisch Legitimen seit 1949 bis heute systematisch eingegrenzt wird. Wenn auch aktuell die extreme Rechte im Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit steht, so war das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ von Beginn an gegen die politische Linke gerichtet und ist es in weiten Teilen bis heute. Sarah Schulz verdeutlicht das in ihrem einleitenden Beitrag des Schwerpunktes. Als Ausgangspunkt der „illiberalen Rechtstradition“ der Bundesrepublik konstatiert sie eine Fehlinterpretation der Machterlangung der Nazis. Mit der Behauptung, die zu liberale Weimarer Republik habe ihren „Feinden“ nicht entgegentreten können, setzte sich zu Beginn der BRD ein „antipositivistisches“ Rechtsverständnis durch, mit dessen Hilfe politische Ziele nicht nur nach Legalität, sondern auch nach Legitimität beurteilt werden. Wie aus einem solchen Verständnis in Verbindung mit dem Antikommunismus der Nachkriegszeit ein Instrument vor allem gegen die politische Linke geschmiedet wurde, macht Dominik Feldmann deutlich. Am Beispiel des „Radikalenerlasses“, der daraus folgenden Berufsverbote und der „Demokratieerklärung“, mit deren Hilfe staatlich geförderte Projekte gegen die extreme Rechte in den 2010er Jahren unter (Links-)Extremismusverdacht gestellt wurden, zeigt er Kontinuität und Wandlung des Extremismusansatzes bis in die Gegenwart. Die aktuell und im Wochentakt bekannt werdenden Verstrickungen von Angehörigen der Sicherheitsbehörden mit Ideologie und Akteuren der extremen Rechten, wie „NSU 2.0“, „Nordkreuz“ oder „Uniter“, sind Thema des Beitrages von Martina Renner und Sebastian Wehrhahn. Sie machen dabei einen neuen „Tätertyp“ der Rechten aus, mit dem das Konzept der extremen Ränder und der legitimen Mitte noch einmal ad absurdum geführt wird. Die Totalitarismustheorie hat als ältere Schwester des Extremismusansatzes eine klare geschichtspolitische Funktion in der Relativierung der NS-Vergangenheit. Gerd Wiegel zeigt, wie diese Funktion in spezifischer Art und Weise von der AfD und ihrem Umfeld genutzt wird. Faschismus und NS-Regime werden als linke Varianten totalitärer Diktaturen behauptet, um so den Konservatismus von seiner Verbindung zum Faschismus frei zu sprechen. Auch international spielt der Totalitarismusansatz wieder eine größere Rolle. Stefan Bollinger verdeutlicht, wie totalitarismustheoretische Versatzstücke für aktuelle geschichtspolitische Auseinandersetzungen und besonders für den neuen Kalten Krieg gegen Russland genutzt werden.

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Corona-Krise und Kapitalismus: Der zweite Teil des Beitrags von John Bellamy Foster und Itan Suwandi beschäftigt sich mit den destruktiven Tendenzen des Spätkapitalismus, der alle Sphären der Natur durchdringt und so globale Pandemien befördert. Sie setzen sich auch mit Positionen auseinander, die armen Ländern den Verzicht auf Maßnahmen gegen die Pandemie empfehlen. Diese Haltung bewerte das Gesundheitsrisiko von Millionen Menschen im globalen Süden geringer als die Unterbrechung globaler Lieferketten, von denen auch die Wirtschaft der reichen Länder abhängt. Jörg Goldberg, André Leisewitz und Jürgen Reusch gehen davon aus, dass die Corona-Krise auch mittelfristig die Entwicklungsperspektiven des kapitalistischen Weltsystems verändern wird. Sie konstatieren für die Bundesrepublik starke wirtschaftliche und soziale Belastungen für Lohnabhängige und Mittelschichten. Die Verzichtforderungen der Kapitalseite finden in den öffentlichen Medien Resonanz, Gewerkschaften und soziale Bewegungen sehen sich unter massivem Druck und führen Abwehrkämpfe. Das erschwert die notwendige Herausbildung breiter gesellschaftlicher Reformallianzen. Peter Behnen thematisiert Diskussionen innerhalb der Linken über Folgen der im Kontext der Coronakrise betriebenen Geld- und Fiskalpolitik. Er bestreitet inflationäre Gefahren, wendet sich aber auch gegen die moderne Geldtheorie, die einen Zusammenhang zwischen Preisen und Geldmenge verneint.

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Gewerkschaften und Corona-Krise: Für das erste Halbjahr 2020 ist aufgrund des Corona-Lockdowns ein im Vorjahresvergleich geringes Streikaufkommen zu verzeichnen (Dirk Müller/Juri Kilroy). Zugleich ist jedoch eine Welle von pandemiebedingten Konflikten zu konstatieren, die sich gegen Betriebsschließungen, Arbeitsplatzabbau, Lohnsenkungen richteten oder Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz betrafen. Für die Tarifrunde 2021 in der Metall- und Elektroindustrie fordert der Vorbereitungskreis für eine offensive Gewerkschaftspolitik, ein Zusammenschluss von hauptamtlichen IG Metallern, angesichts der dramatischen Strukturkrise in der Branche die in diesem Jahr aufgeschobenen Konflikte um eine soziale und ökologische Transformation anzugehen. Dabei müsse die Forderung nach einer Vier-Tage-Woche eine zentrale Rolle spielen. In diese Richtung argumentieren auch Margareta Steinrücke und Stephan Krull. Ein kollektives Ringen um die kurze Vollzeit könne die soziale Komponente der notwendigen sozial-ökologischen Transformation sein. Der gesellschaftliche Zuspruch dafür sei groß.

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Relektüre Lenin: Nicht wegen seines 150. Geburtstages, sondern wegen seiner politischen Aktualität plädieren Wladislaw Hedeler, Volker Külow und Manfred Neuhaus für eine Relektüre Lenins und für eine historisch-kritische Edition seiner Schriften. Wie beides zusammenhängen kann, demonstrieren sie an ihren Neueditionen von Lenins Imperialismus-Studie und seiner Staatsschriften. Deren Lektüre sei einzubetten in ihren historischen Entstehungskontext wie in die kritische Sichtung ihrer Wirkungsgeschichte. Der im vergangenen Oktober verstorbene Philosoph Alfred Kosing (1928-2020) zeichnet im ersten Teil seines Aufsatzes über Lenins Auffassungen zur Theorie des Sozialismus ihre Entwicklung bis zur Oktoberrevolution nach. Lenin habe sich, so Kosing, einerseits gegen einen abstrakten Utopismus gewandt, andererseits aber auch gegen eine Trennung von Weg und Ziel. Noch in seinen berühmten Aprilthesen lehnte er, wie der Autor betont, eine „Einführung des Sozialismus“ ab. Erst der Verlauf des Ersten Weltkriegs und seine Studien zum Imperialismus hätten Lenin davon überzeugt, dass in Russland eine sozialistische Revolution möglich sei, und zwar als Vorbotin einer europäischen Revolution. Georgios Kolias rekonstruiert Lenins Hegel-Lektüre der Jahre 1914 und 1915 vor dem Hintergrund eines Streites zwischen Hegelianismus und Anti-Hegelianismus. Der Versuch, das Erbe Hegels aus dem Marxismus zu entfernen, ist Kolias zufolge sowohl für den Revisionismus Bernsteins als auch für die (post-)strukturalistische Marx-Rezeption im 20. Jahrhundert kennzeichnend. Bei Hegel habe Lenin nicht nach Antworten, sondern nach offenen Fragen gesucht und im Zuge dessen die Notwendigkeit und Bedeutung einer wissenschaftlichen Dialektik für Gesellschaftstheorie und Weltverständnis aufgezeigt. Trotz des Niedergangs der Linken in Italien wird Lenin dort nicht als „toter Hund“ behandelt – über Tagungen und Publikationen berichtet Emiliano Alessandroni.

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Unter „Weitere Beiträge“ bringen wir in diesem Heft drei ausführlichere Literaturbesprechungen: Neuere Hegel-Literatur wird im „Hegel-Jahr“ von Daniel Göcht, Arnold Schölzel, Richard Sorg und Hans Voß vorgestellt. Jörg Zimmer prüft die theoretischen Implikationen der jüngst veröffentlichten Philosophiegeschichte von Jürgen Habermas. Georg Fülberth hat sich die umfangreiche Kapitalismus-Apologie des Wirtschaftshistorikers Werner Plumpe angesehen und amüsiert sich über dessen Versuche einer Marxismus-Kritik. Die Zuschriften in der Diskussions-Rubrik betreffen Fragen der Werttheorie, die Interpretation der Reproduktionsschemata von Marx durch Rosa Luxemburg und die Diskussion über Formwandel der Globalisierung. Wir hoffen, dass auch Berichte, Zeitschriftenschau und die Buchbesprechungen Anregungen für eine konkrete Kapitalismus-Kritik und die Entwicklung einer über den Kapitalismus hinausweisenden Perspektive liefern.

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Aus der Redaktion: Die Heftpräsentation von Z 124 (Zoom-Meeting) findet am 14. Dezember, 19 Uhr, statt. Thematisch wird es um den Schwerpunkt „Kritik der Extremismustheorie“ gehen. Hier schon der zugehörige Link: https://us02web.zoom.us/j/83533077045. Weitere Informationen zur Heftpräsentation sind der Z-Homepage zu entnehmen. Z 125 (März 2021) wird sich u.a. mit der Kritik des kapitalistischen Gesundheitswesens befassen. Thema der „Marxistischen Studienwoche“ 2021 (15.-19. März 2021): „Formwandel des Kapitalismus und die Rolle von Krisen“ (Näheres S. 145).

Z. im Netz: Neu eingestellt auf der Homepage wurden sämtliche Beiträge der Z-Hefte von 2013 bis 2018. Ihr findet sie als Einzelbeiträge online und am Ende des Beitrags als pdf-Datei. Berichte und Buchbesprechungen finden sich als Gesamtdatei immer unter dem ersten Beitrag der Rubrik. Damit sind – technisch bedingt in unterschiedlicher Form – alle Z-Hefte von 1990 bis 2018 auf der Homepage zu finden. Weiter haben wir hier auf entsprechende Nachfrage alle Bände des IMSF-Jahrbuchs „Marxistischen Studien“ (1978-1989) eingestellt.

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