Editorial

September 2020

Verlauf, Tiefe und Ausgang der Corona-Krise sind nach wie vor noch nicht zu überblicken. Während einige Länder sich allmählich aus der Krise herausbewegt zu haben scheinen – wie China –, hat sie andere voll im Griff. Das betrifft nicht nur die USA, sondern das gilt auch für die Bundesrepublik. Im ersten Themenblock dieses Heftes Corona-Krise und Kapitalismus geht es um die Fragen: Welchen Charakter hat diese Krise? Welche Folgen wird sie für das ökonomische, soziale und politische Leben der Gesellschaft nach sich ziehen?

John Bellamy Foster und Intan Suwandi untersuchen den Zusammenhang zwischen modernem Kapitalismus und der Verbreitung von Pandemien. Dabei stehen die globalen Liefer-/Wertschöpfungsketten und die industrialisierte Landwirtschaft im Mittelpunkt. Letztere erweist sich als Hot-Spot von Pandemien, die sich entlang der globalen Lieferketten schnell ausbreiten können. Die Fragilität der Lieferketten wirkt, so die Verf., in Verbindung mit dem labilen Finanzsystem als Krisenverstärkung. In drei Kurzbeiträgen fragen Jörg Goldberg, André Leisewitz und Jürgen Reusch nach dem Verhältnis von Staat, Kapital und Gewerkschaften in der Corona-Krise in der Bundesrepublik. Die Corona-Krise, so Jörg Goldberg, verschärft jene Widersprüche im globalen Kapitalismus, die schon in der Finanzmarktkrise 2008 aufgebrochen waren. Sich zuspitzende hegemoniale Konflikte, der Zusammenhang zwischen Finanzialisierung und niedrigen Realinvestitionen und der Kampf um technologische Spitzenpositionen, auch im Kontext der Klimakrise, führen zu verstärkten systematischen Staatsinterventionen zur Förderung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit. Das zeigt sich auch im Kontext der aktuellen staatlichen Krisenreaktionen in der Bundesrepublik (André Leisewitz). Neben „traditionellen“ Formen der Krisenreaktion zur Belebung der Nachfrage und Absicherung der Unternehmen werden stärker als bisher staatliche Mittel in infrastrukturelle und technologische Projekte gepumpt, mit denen Konzernen und Branchen, die ihre bisherigen fossil basierten Verwertungsmodelle zu Tode geritten haben, neu aufs Pferd geholfen werden soll (Autoindustrie, Stahlindustrie, Wasserstoffstrategie). Die Unternehmerverbände nutzen die Corona-Krise ihrerseits zu Angriffen auf das System der sozialen Sicherung und die Einkommen der Lohnabhängigen. Jürgen Reusch zeigt, dass bei steigender Arbeitslosigkeit und rekordhohen Kurzarbeiterzahlen die durch die Krise geschwächten Gewerkschaften in eine komplizierte Lage geraten. Für diese muss die Verteidigung von Arbeitsplätzen absolute Priorität haben. Dadurch drohen fragile Ansätze der Kooperation mit den Umweltbewegungen zu scheitern, die unabdingbar ist, um Konzepte gegen die soziale und ökologische Krise umzusetzen.

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Jugend und Politik: Die Kooperation von Umweltbewegung und Gewerkschaften ist gleichfalls Thema im zweiten „Block“, in dem es um politische Bewegungen und Parteien sowie insbesondere die Situation der Jugend geht. Einleitend lassen Julia Kaiser (Students for Future, Leipzig) sowie Eike Broszukat (JAV Opel/Vauxhall, Rüsselsheim) erkennen, dass junge Klimabewegung und jugendliche Gewerkschaftsaktive sich eigentlich deutlich näher stehen, als man es vermuten würde – wenngleich praktisch verbindende Projekte nach wie vor fehlen. Luca Karg und Maurice Laßhof präsentieren Ergebnisse eines Forschungsprojekts der Uni Darmstadt zum Verhältnis beider Gruppen sowie ihrem (Krisen-)Bewusstsein: Auf Grundlage von qualitativen Interviews mit FFF-Aktiven sowie Auszubildenden zeigen sie, dass zwar Unterschiede in deren konkreter tagespolitischer Orientierung bestehen, es jedoch auch viele Gemeinsamkeiten im Blick auf Politik und Gesellschaft gibt –beide Gruppen teilen ein „grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Kapitalismus und die Bereitschaft zu politischem Engagement“. Die normative Orientierung der jungen Generation ist Thema der 18. Shell Jugendstudie von 2019. Elenor Volprich bereitet deren Ergebnisse auf: Umweltverschmutzung, Klimawandel sowie wachsende Feindschaft unter Menschen werden als wichtigste Problemfelder für junge Menschen ausgemacht; die Bereitschaft zum politischen Engagement nimmt unter den Befragten tatsächlich zu. Hier wäre ein expliziter Bezug auf Klassenfragen noch herzustellen. Dafür liefert der Beitrag von Janis Ehling Hintergrundmaterial. Er untersucht die alters- und klassenmäßige Zusammensetzung bundesdeutscher Parteien auf Grundlage mehrerer Mitgliederstudien und arbeitet Veränderungen und Brüche im Generationenverlauf heraus. Gert Hautsch beleuchtet abschließend den Umbruch in Kulturindustrie und Mediennutzungsverhalten durch das Aufkommen von Streamingdiensten und Medienplattformen, wobei jugendliche Konsumenten eine Vorreiterrolle einnehmen – obwohl gerade neue und algorithmengesteuerte Plattformen zu einem oberflächlichen und keineswegs politisch neutralen Medienkonsum einladen.

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Krise und Untergang der DDR 1989/90: Das Ende des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden liegt jetzt 30 Jahre zurück – ein Dauerthema in dieser Zeitschrift. Die gegenüber der alten Bundesrepublik vergleichsweise schwache wirtschaftliche Position der DDR stand, so Jörg Roesler, in engem Zusammenhang mit der ungleich schwereren Reparationslast, die die SBZ und dann die DDR zu tragen hatten. Die DDR zeigte gegenüber dem Westen zwar leicht höhere Produktivitätszuwächse, konnten den starken Rückstand, der sich zwischen Kriegsende und Reparationsende herausgebildet hatte, aber nie aufholen. Jürgen Leibiger kommt in seinem Beitrag zu den Eigentumsverhältnissen in den realsozialistischen Staaten zu ähnlichen Einsichten. Seiner Auffassung nach war es wohl nur bedingt das offensichtliche Demokratiedefizit, das die DDR und andere osteuropäische Staaten in eine Sackgasse führte, sondern in erster Linie der Verzicht auf eine Vielfalt unterschiedlicher gesellschaftlicher wie privater Eigentumsformen. Das Schicksal des „revolutionären Herbstes ̓89“ in der Noch-DDR zeichnet Stefan Bollinger nach. Die kurze Aufbruchsphase in diesem Jahr der Anarchie und Utopie mit vielfältigen Initiativen für einen basisdemokratischen Sozialismus war von Anfang an von entscheidenden Ungleichzeitigkeiten geprägt: Die Phase einer „basisdemokratischen Selbstermächtigung“ verlor mit der Maueröffnung am 9. November 1989 jede Grundlage – jetzt war der Hegemon des Umbruchs nicht mehr der DDR-Bürger, sondern die westdeutsche politische Klasse und das Kapital. Während SED-Reformer, Modrow-Regierung und die Bürgerbewegungen noch an einer neuen, souveränen, vielleicht demokratisch-sozialistischen DDR feilten, waren die Verhältnisse längst konservativ-nationalistisch gekippt worden. Yana Milev schließt mit einer „ethnologischen Analyse“ der kulturellen Enteignung der DDR-Bevölkerung an dieses Ergebnis an und rechnet mit „Diktaturaufarbeitung“ und „Demokratieerziehung“ der Ostdeutschen ab. Sie zeigt, dass im Osten Deutschlands mit der brutalen Abrechnung mit der DDR, ihren Funktionseliten, aber auch den einfachen Bürgern eine „Ethnisierung“, ja „Rassisierung“ der Ostdeutschen – soweit sie sich nicht ausdrücklich unterwarfen – durchgesetzt wurde, die deren (Selbst-)Wahrnehmung als „Bürger 2. Klasse“ begründet.

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Weitere Beiträge: Andreas Wehr gibt die Sicht des verstorbenen Philosophen Domenico Losurdo auf die Niederlage des Realsozialismus wieder. Dessen Hauptargument gegen eine Reduzierung dieser Geschichte auf ein „Scheitern“ ist die welthistorische Wirkung des realen Sozialismus und – gegen alle eurozentristischen Verkürzungen – die Tatsache, dass in China und anderen Staaten die sozialistische Idee und Praxis fortbesteht und sich weiterentwickelt. „Warum sollte man heute noch Friedrich Engels lesen?“ fragt Ingar Solty. Er würdigt Engels‘ Leistungen bei der Herausgabe des zweiten und dritten „Kapital“-Bandes, der Ausarbeitung der historisch-materialistischen Methode, der Popularisierung der gemeinsam mit Marx entwickelten Theorie und bei der Ausarbeitung von „Prolegomena für einen feministischen Marxismus“. Dieter Boris kritisiert die jüngste Publikation des einflussreichen Kultursoziologen Andreas Reckwitz. Bei Reckwitz werde nicht immer klar, welche Kulturformen und Einstellungsmuster Realitätsbeschreibung und welche (bloß) Diskurs oder Imagination seien. In der Reckwitzschen Analyse von „Klassen“ bleiben gerade jene Fragen ausgeblendet (Klassenantagonismus, Klassenkampf, Ausbeutung usw.), die für eine marxistische Klassenanalyse zentral sind.

Mit Anmerkungen zu Thomas Kuczynskis führt Klaus Müller die Debatte darüber weiter, ob die Kategorie des Werts für die Analyse kapitalistischer Warenproduktion reserviert sein sollte. Anette Schlemm plädiert in einer Kritik an Sean Sayers dafür, unterschiedliche Formen der Widersprüchlichkeit in Natur, Gesellschaft und Denken zu unterscheiden. Corona-bedingt entfallen diesmal Tagungsberichte, stattdessen geht es exemplarisch um digitale „Kapital“-Lektüre und eine Kapitalismus-Ausstellung in Bonn.

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Aus der Redaktion: Gratulation zum 80. Geburtstag des profilierten und streitbaren Wirtschaftshistorikers, unseres Beiratsmitglieds und Autoren Jörg Roesler! Wir verweisen auf die für den 7. November in Wuppertal geplante und von „Z“ unterstützte Tagung „Friedrich Engels (1820-2020) – Aktualität eines Revolutionärs“, gemeinsam veranstaltet von Marx-Engels-Stiftung (Wuppertal), Heinz-Jung-Stiftung (Frankfurt/M.) und Rosa Luxemburg-Stiftung NRW. Zu Details sh. die Beilage in diesem Heft. Das aktuelle Heft wird kurz nach Erscheinen, wie schon Z 122, in einer ZOOM-Videokonferenz vorgestellt. Termin und Einwahldaten werden via Homepage, Facebook und Z-Newsletter bekannt gegeben. Z 124 (Dezember 2020) wird sich im Schwerpunkt mit Extremismustheorien beschäftigen. Beiträge zu Lenin und Hegel und ein kritischer Blick auf Habermas sind ebenfalls geplant.

Rezensionen:

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1140577.von-der-verdraengung.html

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