Zeitschriftenschau/Aktuelle Debatten

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März 2020

Beethoven – Vorkämpfer der klassenlosen
Gesellschaft?

2020 jährt sich zum 250. Mal der Geburtstag des großen Komponisten Ludwig van Beethoven – begleitet von zahlreichen Konzerten, Ausstellungen und anderen Veranstaltungen in Deutschland. Eröffnet wurde das Beethoven-Jahr 2020 mit einem Konzert in seiner Geburtsstadt Bonn und verschiedenen Festreden. Weniger wurde sich hier jedoch mit Beethovens politischen Haltungen, Handlungen und dem sowohl musikalisch als auch gesellschaftlich Revolutionären seines Schaffens beschäftigt. Daher betont auch der Musikkritiker Michael Struck-Schloen in einer Reaktion auf den Auftakt des Beethoven-Jahres, dass eine tief gehende, öffentliche Auseinandersetzung mit Beethoven notwendig wäre, „wenn man Beethoven nicht nur für kommerzielle Zwecke nutzen“[1] wolle.

Betrachtet man im Jahr 2020 – nicht nur dem Beethoven-Jahr, sondern auch 30 Jahre nach der „Wiedervereinigung“ – Debatten, die im Kalten Krieg in der BRD zu Beethoven geführt wurden, wird deutlich, dass Struck-Schloen einen wunden Punkt zu treffen scheint. Im Beethoven-Jahr 1970 (Beethovens 200. Geburtstag) wurde in der DDR auf mehreren Konferenzen und in der Fachzeitschrift „Musik und Gesellschaft“, die mehrere Beethoven-Schwerpunkte setzte und die Debatten der Konferenzen fortführte, nicht nur über die Deutung von Beethovens Werk diskutiert. Auch die Rezeption in der BRD spielte eine Rolle. So warf bspw. der DDR-Musikwissenschaftler Hansjürgen Schäfer der BRD vor, Beethoven vornehmlich kommerziell zu betrachten und damit den politischen, revolutionären Beethoven zu verdrängen.[2] Aus der BRD folgten selbstverständlich ebenso Anschuldigungen. Der inzwischen längst etablierte „Antitotalitarismus“ West-Deutschlands verführte nicht selten zu Vergleichen mit der Kulturpolitik des Nazi-Regimes.[3] In einer von wenigen Aufarbeitungen der Beethoven-Rezeptionen der deutschen Geschichte „Beethoven in German Politics“ kommt der Autor David Dennis zu dem Schluss, dass die BRD-Forschung stets versucht habe, Beethoven zu entideologisieren.[4] Doch negieren kann auch er in Bezug auf die bundesdeutsche Öffentlichkeit nicht, dass das Arrangement Herbert von Karajans für die bis heute verwendete EU-Hymne, die von Leonard Bernstein im Jahr 1989 dirigierte Aufführung der 9. Sinfonie inklusive Abschlusschor „Ode an die Freude“ in Berlin – übrigens mit Textabwandlung „Ode an die Freiheit“ – oder die Aufführung der gleichen Sinfonie zum Auftakt des G20-Gipfels 2017 in Hamburg völlig apolitisch intendiert gewesen seien.

Gründe genug also, sich erneut mit der DDR-Forschung sowie der Deutung von Beethovens Schaffen im Jahr 1970 auseinanderzusetzen und daraus ggf. Impulse für zeitaktuelle Debatten zu gewinnen. In Hinblick auf Beethovens Persönlichkeit betonten politische und wissenschaftliche Eliten seine Sympathien für die Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution sowie sein Eintreten für Humanismus, Freiheit und Fortschritt.[5] Einzelne Beiträge gehen sogar so weit, dass Beethoven die „Anliegen der Arbeiterklasse“[6] vorausgeahnt habe, die Arbeiterklasse also die revolutionäre Zukunftsvision Beethovens erfüllt habe. Doch selbstverständlich erfolgten auch differenziertere Analysen, die Beethovens Leben und seine Musik in einem dialektischen Verhältnis begriffen, um „vulgärmarxistische Simplifikationen und Idealisierungen“[7] zu vermeiden. So stellte der Musikwissenschaftler Frank Schneider fest, dass „das Trennende“[8] nicht übersehen werden dürfe, auch wenn Beethoven „viele Elemente der Marxschen Theorie“[9] antizipiert habe – dieser Verweis spielt auf die „Feuerbachthesen“ an und meint v.a. Beethovens Verhältnis seines Schaffens zur Wirklichkeit.

Und in der Tat gibt es in Beethovens Werk einige revolutionäre Besonderheiten. Prominentestes Beispiel dafür ist sicherlich seine 9. Sinfonie, in deren 4. Satz mit der bis heute weit verbreiteten „Ode an die Freude“ erstmals Vokalmusik in einer Sinfonie zum Einsatz kam und Grenzen bisher dagewesener Formen überschritten wurden. Diesbezüglich wurde u.a. die im Jahr 1824 vollendete Komposition in Verbindung zum Freiheitsstreben in Zeiten der Restauration gesetzt, die in der Musik ihren Ausdruck fände. Ähnliche Interpretationen finden sich bei der „Eroica“, seiner 3. Sinfonie, welche die Ideen der Aufklärung präsentiere und im Trauermarsch des 2. Satzes alle, die für eine freie Gesellschaft gestorben seien, würdige.[10] Aufmerksamkeit erfahren in den Beiträgen auch Beethovens einzige Oper „Fidelio“ und die Egmont-Ouvertüre, welche im ersten Fall aufgrund textlicher Zugänge und im zweiten Fall in Bezug auf Goethes Drama „Egmont“ gesellschaftlich-politische Interpretationen nahelegen. Doch wurden auch teilweise offene Widersprüche diskutiert, die insbesondere Beethovens Spätwerk betreffen. Seine musikalischen Experimente – insbesondere in seinen späten Streichquartetten –, die teilweise durch Rückgriff auf alte Formmuster geprägt waren, wurden in der marxistischen Forschung oftmals ausgeklammert, da sie auf ersten Blick nur schwer in das revolutionäre Beethoven-Bild der DDR passten.[11]

Sicherlich erscheinen einzelne Interpretationsangebote tatsächlich oberflächlich politisiert, da sie mit großer Distanz zum Material Behauptungen aufstellen, die im Rahmen einer substanziellen Beethoven-Betrachtung nur schwer haltbar sind. Doch gleicht der Vorwurf, man habe Beethoven im Sinne einer „totalitären“ Kulturarbeit ausschließlich instrumentalisiert, einer Irreführung. Denn letztlich ging es 1970 auch darum, die Menschen im Sinne des „Bitterfelder Weges“ einzubeziehen und ihnen Zugänge zu großen Meistern wie Beethoven zu ermöglichen, anstatt angeblich an Objektivität orientierte Wissenschaft parallel zu einer Kommerzialisierung zu betreiben. Zudem war Beethovens Werk zweifellos politisch inspiriert und intendiert. In welcher Hinsicht diese Politisierung heute genau zu deuten ist, gilt es zu diskutieren. Das wäre die Aufgabe von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Als Spuren dahin können vielleicht auch die Debatten um den großen Meister aus dem Jahr 1970 gelesen werden.

Dominik Feldmann

[1] https://www.deutschlandfunk.de/beethoven-jubilaeumsjahr-in-bonn-eine-duennbrettgebohrte.691.de.html?dram:article_id=466089 [letzter Zugriff: 21.01.2020].

[2] Vgl. Schäfer, Hansjürgen (1970): Angst vor Beethoven, in: Musik und Gesellschaft 20, S. 721 ff.

[3] Vgl. Dennis, David (1996): Beethoven in German Politics, 1870-1989, New Haven/London, S. 191.

[4] Vgl. ebd.

[5] U.a. vgl. Stoph, Willi (1971) [1970]: Festansprache, in: Brockhaus, Heinz Alfred/Niemann, Konrad (Hg): Bericht über den internationalen Beethoven-Kongress 10.-12. Dezember 1970 in Berlin, Berlin, S. 1.

[6] Ernst, Erwin (1970): Arbeiterklasse erfüllt revolutionäre Zukunftsvision Beethovens, in: Musik und Gesellschaft 20, S. 313 f.

[7] Goldschmidt (1971) [1970]: Der späte Beethoven – Versuch einer Standortbestimmung, in Brockhaus et al. (Hg): a.a.O., S. 44.

[8] Schneider (1970): Beethoven-Konferenz des Deutschen Kulturbundes in Potsdam, in: Musik und Gesellschaft 20, S. 6.

[9] Ebd., S. 7.

[10] Vgl. Goldschmidt 1971 [1970], S. 50; vgl. Dennis 1996, S. 182.

[11] Vgl. Goldschmidt 1971 [1970], S. 44.