Editorial

Dezember 2019

Die Beiträge des Schwerpunkts im vorliegenden Heft sind im Kontext der „Marxistischen Studienwoche“ im März 2019 entstanden bzw. dort vorgetragen worden. Die Studienwoche war dem Thema „Geschlechterverhältnisse aus historisch-materialistischer Sicht“ gewidmet (Bericht in Z 118, S. 196ff). Die Diskussion um Geschlechterverhältnisse hat nicht nur durch neue feministische Bewegungen – zu denen z.B. der „Frauen*streik“ vom März d.J. gehörte – Auftrieb erfahren, sondern in erster Linie wohl durch weitreichende soziale und sozialstrukturelle Veränderungen, die mit der stark angestiegenen Frauenerwerbstätigkeit, höherem Qualifikationsniveau, veränderten Familienverhältnissen u.ä.m. zusammenhängen. Kulturelle Brüche zeigen sich in den Debatten über Geschlechter-Identitäten und die „Konstruktion“ von Geschlechterrollen. In den gewerkschaftlichen und politischen Bewegungen spielt insbesondere die Konstatierung von Ungleichheit und die Forderung nach Gleichberechtigung und Gleichstellung eine mobilisierende Funktion. In den Vorträgen und Debatten der Studienwoche wurde versucht, solche Veränderungen und Bewegungen auch begrifflich-theoretisch zu fassen.

Margareta Steinrücke hatte bereits in Z 65 (März 2006) die Ergebnisse einer großen empirischen Studie zu Klasse und Geschlecht aus den 90er Jahren vorgestellt, an der sie selbst mitgewirkt hatte. Kim Lucht und John Lütten fragen im Interview nach Ursachen für die neue Belebung der Debatte um Geschlechterverhältnisse, nach Veränderungen im Feminismus, dem Verhältnis von Klasse und Geschlecht und dem „Subjekt“ feministischer Bewegungen. Eine Übersicht zu Geschlechterverhältnissen im Kapitalismus der BRD geben Bettina Gutperl und Kerstin Wolter. Sie konstatieren u.a, dass die bestehende ungleiche geschlechtliche Arbeitsteilung eine der Ursachen für den hohen Anteil prekärer Beschäftigungsverhältnisse bei Frauen ist. Untersucht wird auch die geschlechterpolitische Dimension staatlicher Sozial- und Familienpolitik (Bsp. Eltern- und Betreuungsgeld). Die Autorinnen stellen eine Belebung von gewerkschaftlichen Kämpfen in Branchen mit hoher Frauenbeschäftigung fest, aber nach wie vor geringe Organisationsquoten. In Parteien und Bewegungen sind Frauen stärker auf der Linken organisiert. Trotz bestehender Ungleichheit zeige sich auf längere Sicht „ein enormer Emanzipationsschub“, der sich auch in einem neuen Selbstbewusstsein der Frauen ausdrücke (S. 38). Tove Soiland problematisiert in ihrem Artikel „Zum problematischen Cultural Turn in der Geschlechterforschung“ Auffassungen in der Geschlechtertheorie, denen zufolge Geschlechterverhältnisse vornehmlich normative Identitätszuschreibungen abbilden. Sie stellt heraus, dass diese Konzeption von Geschlecht als Bestandteil des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft verstanden werden muss. Livia Schubert unterzieht den erstmals 2012 auf Deutsch erschienenen und in der linken feministischen Szene viel rezipierten Beitrag von Silvia Federici zur „Reproduktion der Arbeitskraft“ einer kritischen Kommentierung. Mit einem „Klassiker“ der materialistischen Geschlechtertheorie – Engels „Ursprung der Familie…“ – setzen sich André Leisewitz und Winfried Schwarz auseinander. Es geht im ersten Teil ihres Beitrags um die Entstehungsbedingungen des Textes und um Geschlechterverhältnisse in der menschlichen Frühgeschichte vor der neolithischen Revolution im Lichte heutiger anthropologischer und archäologischer Befunde. Bezug genommen wird auf das in der älteren marxistischen Diskussion lange als „fragwürdige Neuerung“ von Engels abgetane Konzept der „doppelten Produktion und Reproduktion des Lebens“, eine schon früh von Marx und Engels formulierte Kernthese des historischen Materialismus.

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Rechtspopulismus und Wahlen in Ostdeutschland: Die journalistische und sozialwissenschaftliche Literatur zum Aufstieg des Rechtspopulismus ist mittlerweile nahezu unüberschaubar. Dieter Boris prüft die unterschiedlichen ökonomischen, sozialstrukturellen oder kulturalistischen Erklärungsansätze der deutschen Debatte und unterbreitet Vorschläge, mit welchen Fragestellungen produktive Analysen vorangetrieben werden können. Ansätze, die die in der neoliberalen Marktdominanz verankerten strukturellen Determinanten des rechten Aufstiegs in den Blick nehmen, sind seines Erachtens von besonderer Bedeutung. Die vergangenen Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen haben einen Aufschwung der AfD und ihre weitere Verankerung im Parteiensystem gebracht. Die Ergebnisse für die Linkspartei bieten dagegen ein widersprüchliches Bild, das allerdings nicht verbergen kann, dass die Linke vor ernsthaften Problemen und Herausforderungen steht. Diese beiden Themen stehen im Mittelpunkt der redaktionellen Wahlanalyse von Jörg Goldberg, Jürgen Reusch und weiteren Autoren.

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Marx-Engels-Forschung: Zwei Autoren behandeln die Kritik Rosa Luxemburgs an den Marx’schen Reproduktionsschemata. Alexander von Pechmann stimmt im Ergebnis Luxemburgs These zu, kapitalistische Akkumulation sei nur im Kontext eines nichtkapitalistischen Milieus denkbar. Führt man die Marx’sche Darstellung einer störungsfreien erweiterten Reproduktion weiter, so hätte das Luxemburg zufolge absurde Konsequenzen, nämlich die dauerhafte Verselbständigung der Produktionsmittelproduktion gegenüber der Konsumtion. Der Kapitalismus müsste so am Realisierungsproblem scheitern. Dagegen zeigt Eduard März in seiner mehr als 60 Jahre alten, hier neu abgedruckten Kritik, dass Luxemburgs Interpretation der Marx’schen Reproduktionsschemata, der auch Pechmann folgt, ein methodischer Irrtum zugrunde liegt: „Beim Marxschen Schema der Reproduktion (…) haben wir es mit einer Identität zu tun.“ Marx zeige lediglich, dass ein Gleichgewicht möglich ist, er will keineswegs den realen kapitalistischen Akkumulationsprozess abbilden, wie Luxemburg annahm.

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Weitere Beiträge: Christian Stache wendet sich in Teil II seiner Untersuchung ökosozialistischer Diskussionen in den USA Fragen der Entwicklung einer marxistischen Theorie für die notwendige ökologisch-sozialistische Revolution als komplexe ökonomische, soziale und kulturelle Herausforderung zu. Er zeigt die Diskussionen um die Dialektik von Natur und Gesellschaft unter heutigen Bedingungen. Vor allem verdeutlicht er die Suche nach einem historischen Subjekt für einen solchen Umbruch zwischen neuen sozialen Bewegungen und einer als Umweltproletariat verstandenen Arbeiterklasse.

Im Streikmonitor geben Dirk Müller und Juri Kilroy eine Übersicht über die Arbeitskämpfe des ersten Halbjahres 2019. Es war die streikintensivste Phase seit Beginn des Streikmonitors. Die Zersplitterung und Dezentralisierung des Streikgeschehens ist unverkennbar. Der Bericht widmet diesmal der Entwicklung in Ostdeutschland besondere Aufmerksamkeit. Dort geht es in den Konflikten vor allem um die Angleichung der Lohnentwicklung an westdeutsche Standards und um Verteidigung oder Rückgewinnung der Tarifbindung. Auch die Arbeitszeit war ein Thema in vielen Streiks.

In Auseinandersetzung mit den Beiträgen von Dräger und Wiegel in Z 119 nimmt Nico Biver die Ergebnisse der europäischen Linken bei den Europawahlen im Mai genauer in den Blick. Der längerfristige Trend bei den absoluten Stimmzahlen zeigt laut Biver, dass die allgemeine Einschätzung eines „desaströsen“ Ergebnisses für die radikale Linke nicht zutrifft und eher einer aus verschiedenen Gründen verzerrten Wahrnehmung der Ergebnisse entspringt. Norman Paech geht im Kontext der NATO-Osterweiterung der viel diskutierten Streitfrage nach, ob der Westen dem damaligen Präsidenten der UdSSR Michael Gorbatschow eine Zusage gegeben hatte, die Grenzen des Militärbündnisses nicht nach Osten zu verschieben. Anhand mittlerweile freigegebener Dokumente stellt Paech heraus, dass es ein solches Versprechen tatsächlich gab, dieses aber bereits Ende der 90er Jahre gebrochen wurde. „Warum Kunst?“ Jürgen Pelzer stellt eine neue Studie von Daniel Göcht zur materialistischen Theorie der Kunst von Georg Lukács vor: „Kunst in ihren verschiedenen Formen ist“, so sein Fazit, „im Kampf um die Befreiung des Einzelnen und der Gesellschaft unverzichtbar.“ (S. 173)

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In den „kleinen Rubriken“ (Kommentare, Zuschriften, Zeitschriftenschau, Berichte und Buchbesprechungen) geht es um aktuelle Bewegungen – u.a. gegen die politische Rechte; feministische, Mieter-, Demokratie-Bewegungen –, um politische Trends – u.a. Gewerkschaftstage, Rechtsentwicklung auf EU-Ebene, Wahlen in Portugal, Klimafrage, Lateinamerika-Solidarität – und um Veranstaltungen und Publikationen zur Kapitalismusanalyse und marxistischen Theorie – von neuen Marx-Engels-Veröffentlichungen bis zu Tagungen des Münchener isw (China) oder der RLS („Kapitalismus: regulieren oder abschaffen?“). Anregungen und Angebote für Beiträge zu diesen Rubriken werden von der Redaktion gerne entgegengenommen!

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Aus der Redaktion: Die Marxistische Studienwoche 2020 vom 9.-13. März in Frankfurt/M. wird „Ökosozialismus“ zum Thema haben. Z 121 (März 2020) behandelt im Themenschwerpunkt die Strategiedebatte der Linken.

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