Klimakrise: Industriepolitik und Kapitalinteressen

Schneller Kohleausstieg – Alternative zum klimapolitischen Nichtstun der Bundesregierung

von Franz Garnreiter
Juni 2018

Das renommierte Tyndall Centre for Climate Change Research veröffentlichte Ende des letzten Jahres – mit spezieller Blickrichtung auf die EU-Länder – eine Untersuchung, in der es eine Vielzahl von einzelnen Studien unter der Fragestellung auswertete: Was ist erforderlich zur Erfüllung des Pariser Klimabeschlusses, die Klimaerwärmung auf unter 2°C zu halten (Anderson/Broderick 2017). (Dass das höhere Ziel einer Begrenzung auf 1,5°C noch erreicht werden könnte, halten die Autoren für völlig unwahrscheinlich.) Unter den sehr optimistischen Annahmen,

- dass die Entwaldung und die Emissionen von Kohlendioxid (CO2) aus industriellen Prozessen (v.a. Zementherstellung) massiv und rapide zurückgefahren werden und

- dass die Entwicklungs- und Schwellenländer ihr (gemeinsames) Maximum an Treibhausgas-Emissionen spätestens 2025 erreichen und ab da mit einer Rate von 10 Prozent jährlich senken,

bleibt für die EU-Länder – um das 2°C-Ziel einzuhalten – noch eine Menge an Treibhausgas-Emissionen in Höhe von 23 bis 32 Mrd. Tonnen CO2 übrig. Das entspricht dem Sechs- bis Neunfachen der aktuellen jährlichen Emissionen. Sechs bis neun Jahre „Weiter so“ und das 2°-Limit ist, sogar bei diesen sehr optimistischen Randbedingungen, auch theoretisch nicht mehr einzuhalten. Die Autoren fordern, dass die EU sofort mit einer massiven Reduzierung um 12 Prozent jährlich beginnen und bis 2035 eine Reduzierung um 95 Prozent erreichen muss. Das ist unvergleichlich anspruchsvoller als die 40 Prozent Reduzierung bis 2030, die die EU als „freiwillige Selbstverpflichtung“ in den Pariser Verhandlungen abgegeben hat. „Ein dringendes Programm, aus dem EU-weiten Verbrauch von Erdgas und anderen fossilen Energien auszusteigen, ist ein zwingendes Gebot jeder wissenschaftlich begründeten und auf Gerechtigkeit gründenden Politik zur Erfüllung des Pariser Abkommens“ (Ebd., S. 5).

Es ist offensichtlich, dass unter den realen politischen Gegebenheiten auch das Ziel, ein 2°C-Limit einzuhalten, illusionär geworden ist. Die in Paris abgegebenen „freiwilligen Selbstverpflichtungen“ reichen ja auch nur zu einer Dämpfung der Erwärmung auf 3°C bis 4°C. Das entschwundene 2°C-Limit darf aber nicht dazu führen, die Bemühungen um Klimaschutz einzustellen – im Gegenteil.

1. Deutsche Klimapolitik: Heuchelei und Nichtstun

Die Kanzlerin bezeichnete auf der Bonner Klimakonferenz Ende 2017 (der COP23, d.h. der dreiundzwanzigsten Nachfolgekonferenz nach dem Erdgipfel in Rio 1992) die Klimafrage als „Schicksalsfrage für die Menschheit“.

Da hat sie Recht. Einerseits. Die von der bisherigen Politik und Wirtschaftsweiseausgehenden Verwüstungen für die Bedingungen menschlichen Lebens müssen hier nicht nochmals dargestellt werden (vgl. Garnreiter 2016). Vielleicht nicht zufällig warnte der BND-Präsident, begleitend zur Bonner Konferenz, vor „weit mehr als einer Milliarde Menschen“ (SZ, 15.11.2017), die künftig Grund genug haben, vor zerstörter Umwelt, Hunger und Gewalt zu flüchten.

Andererseits: Diese Aussage der Kanzlerin ist grenzenlos heuchlerisch. Denn der Widerspruch zwischen wohlfeilen Versprechungen und dem faktischen Nichtstun der Berliner Regierung (und der meisten anderen Regierungen) könnte größer kaum sein. Dabei steht Deutschland besonders in der Pflicht: Es gehört zu den größten Emittenten unter den fast 200 Ländern – aktiver Klimaschutz ist hier also besonders dringlich. 1991 beschloss die Regierung, die Treibhausgas-Emissionen bis 2005 um 25 Prozent gegenüber dem Wert von 1990 zu senken (damals waren es 1.250 Mio. Tonnen CO2-Äquivalente[1]). Bis 2005 wurden nur 20 Prozent Reduzierung erreicht, wobei diese 20 Prozent zu mehr als der Hälfte auf dem besonderen Umstand der Deindustrialisierung der DDR beruhen. Der eigentlich totale Fehlschlag kümmerte nicht weiter, 2007 wurde eine Reduzierung um 40 Prozent (gegenüber 1990) bis 2020 beschlossen, also maximal 750 Mio. Tonnen in 2020. Mit diesen vollmundigen Versprechen (und dem Schub aus der DDR-Deindustrialisierung) erwarb sich Deutschland den Ruf als Klimaschutz-Weltmeister. Bis 2016 hat Deutschland nur eine Reduzierung um 27 Prozent erreicht. 2016 stieg der Ausstoß sogar um 0,3 Prozent auf 909 Mio. Tonnen CO2-Äquivalente (siehe Abb. 1), und auch 2017 ist er nach ersten Berechnungen nur minimal um 0,5 Prozent gefallen (BMU 2018). In den Jahren seit 2005 wurde eine Reduzierung um nur 0,9 Prozent im Jahresdurchschnitt erreicht; seit der Krise 2009 per Saldo gar nichts mehr. Nicht einmal die Regierung hält es noch für möglich, in die Nähe des 2020-Zieles zu kommen; sie gesteht zögernd „Handlungslücken [!] zur Erreichung des Klimaziels 2020“ ein (Koalitionsvertrag, S. 126). Egal. 2020 kann man ruhig vergessen, die Regierung hat ja mittlerweile schon neue und noch schönere Ziele beschlossen: Bis 2030 sollen die Emissionen um 55 Prozent sinken, bis 2040 um 70 Prozent, bis 2050 um 5 Prozent[2]. Das Karbonzeitalter soll dann beendet sein. Und: „Das Minderungsziel 2030 wollen wir auf jeden Fall erreichen“ (Koalitionsvertrag). Wie schön, wenn die Regierung eines ihrer erklärten Ziele auch erreichen will. Auch wenn es – siehe den einleitenden Absatz – ewig entfernt liegt von den zur Einhaltung des 2°C-Limits nötigen Aktivitäten.

Abb. 1: Entwicklung der Treibhausgasemissionen in Deutschland und erklärte Reduzierungsziele (in Mio. Tonnen CO2-Äquivalenten)

Abb. siehe PDF!

Der Klimaschutzplan 2050 – Deutsche Klimapolitik nach der
Pariser Klimakonferenz

Auf der Klimakonferenz in Paris Ende 2015 (der COP21) wurde ein überschwänglich gefeierter neuer Ansatz in der internationalen Klimaschutzpolitik vereinbart. Statt wie bisher zu versuchen, einen international verbindlichen Klimaschutzvertrag mit (unterschiedlichen) Verpflichtungen für jedes Land abzuschließen – was in 20 Konferenzen über mehr als 20 Jahre hinweg nicht gelungen ist – wurden diesmal die Länder aufgerufen, „freiwillige Selbstverpflichtungen“ abzugeben. Eine Nicht-Erfüllung dieser Verpflichtungen soll keine Vertragsstrafe nach sich ziehen, sondern die internationale Blamage, nach Ansicht der Initiatoren eine furchtbare Perspektive. Dem kamen mittlerweile alle Länder nach. Den Berechnungen verschiedener Institute zufolge reichen diese Selbstverpflichtungen allerdings nur für eine Begrenzung auf bestenfalls 3°C. Unabhängig davon versprach man sich feierlich, die Klimaerwärmung sicher auf 2°C und möglichst auf 1,5°C zu begrenzen. Dieser Widerspruch scheint bisher keine Regierung zu stören oder gar zu einer Überarbeitung ihrer Selbstverpflichtung anzuregen.

Die damalige Bundesumweltministerin Hendricks machte sich nach der Rückkehr aus Paris daran, einen „Klimaschutzplan 2050“ (BMU 2016) zu formulieren. In einem durchaus aufwendigen Prozess mit Bürgerbeteiligung, Diskussionen mit Interessengruppierungen und mit Wissenschaftlern sollte ein nationales Programm konkretisiert werden – erst einmal konzentriert auf das Zwischenziel 2030 (minus 55 Prozent Treibhausgas-Emissionen gegenüber 1990).

Zu Beginn, im Frühjahr 2016, war der erste Entwurf wohl ein ganz brauchbares Papier. Dann kam die Abstimmung mit den anderen Ministerien, zunächst mit dem damaligen Wirtschaftsminister Gabriel. Dieser kassierte den ersten Entwurf – für seinen Geschmack enthielt er viel zu scharfe Anforderungen an Industrie und Energiewirtschaft. Ähnlich zerrupften andere beteiligte Ministerien (v.a. Verkehr und Landwirtschaft, damals beide in CSU-Hand) die zunehmend inhaltsleeren Versionen des Plans noch weiter. Die Bewertungen seitens der Regierungskollegen lauteten „Horrorkatalog“, „überhastete Vorschläge“, „große Gefahr für Wirtschaft und Wohlstand“, „untragbar“. Erfolgreich bekämpft, also aus dem ursprünglichen Papier gestrichen, wurden von den Klimaschutzgegnern alle Konkretisierungen: ein zügiger Ausstieg aus der Kohleverstromung mit Ausstiegsterminen, Vorgaben für den Heizungsverbrauch von Wohngebäuden, desgleichen für Bürogebäude, eine Verkehrspolitik, die mehr will als von BMW akzeptierte CO2-Emissionsgrenzen, Maßnahmen zur Reduzierung des Fleischkonsums und des Düngereinsatzes, Einsparungsvorgaben für industrielle Prozesse.

So zerfleddert, wie dieser Klimaschutzplan 2050 im Herbst 2016 schließlich verabschiedet wurde, stellt sich die Frage: Warum wollen wir eigentlich Klimaschutz? Dass der Klimaschutz eine große, die gesamte Gesellschaft umfassende Aufgabe ist, davon ist im Klimaschutzplan nichts zu spüren. Das wirkliche Interesse der Regierung am Klimaschutz offenbart sich unter der Kapitelüberschrift: „Klimaschutz als Modernisierungsstrategie unserer Volkswirtschaft“ (S. 10). Konkret: „Dabei ist Klimaschutz ein Treiber … für eine Modernisierungsstrategie, die das Ziel hat, … die internationale Wettbewerbsfähigkeit der industriellen Produktion … in Deutschland auch unter den Bedingungen einer ambitionierten Klimaschutzpolitik zu erhalten“ (S. 57). Also: Wir betreiben Klimaschutz nicht etwa deshalb (hauptsächlich), weil wir den Klimawandel verhindern wollen, sondern unser Ziel ist die internationale Konkurrenzfähigkeit. Wenn schon der Zeitgeist für Klimaschutz weht, dann muss Deutschland der Hauptgewinner sein. Deutschland soll vom möglichen Megamarkttrend Klimaschutz das meiste abschöpfen. Dieses Motto, dieser Tenor in der Sprache, zieht sich durch den kompletten Text – abgesehen von einigen einleitenden Bemerkungen, die wohl noch von Umweltministerialen stammen, und in denen sogar mal von Verantwortung die Rede ist.

Es gibt im gesamten Text von 90 Seiten keinerlei Diskussion, wie sich die Gesellschaft angesichts des Klimawandels ändern muss, welche Herausforderungen auf Bewusstsein und Handeln der Einzelnen zukommt. Begriffe wie Wachstumskritik oder Solidarität tauchen kein einziges Mal in den 90 Seiten auf. Die Begriffe Luxus und Verteilung ebenfalls nicht. Es gibt keinerlei Diskussion, ob der drohende Klimawandel eventuell erfordert, unseren Lebensstil zu ändern, den Luxus der ein Prozent oder der 10 Prozent Reichsten zu kappen, ob eine gesellschaftliche Umverteilung angebracht ist, um die gigantischen Stoffströme und Energieströme einzudämmen, ob die nötigen hohen Energiepreise womöglich mit Vorstellungen von Verteilungsgerechtigkeit in Konflikt geraten und wie darauf zu reagieren ist, ob das hochgezüchtete Konkurrenzdenken der Machthaber und das Gefühl des Überflüssigseins bei den Machtlosen zur notwendigen Solidarität und Verantwortungsübernahme bei der Bekämpfung des Klimawandels passt.

Der Klimaschutzplan 2050 handelt von einem ganz anderen Thema. Es geht dabei vor allem um Wettbewerbsfähigkeit. Der Begriff Wettbewerb kommt 31mal vor in den 90 Seiten über (angeblich) Klimaschutz. Der Begriff Digitalisierung kommt 22mal vor. Mit Industrie 4.0 macht die Regierung jetzt Klimaschutz – um die internationale Konkurrenzfähigkeit der hiesigen Konzerne, der eigenen Global Player, weiter nach vorne zu puschen. Klimaschutz ist hier eine rein technizistisch-betriebswirtschaftliche Angelegenheit, die die Wirtschaftsingenieure durchrechnen sollen. Durchaus konkret wird dieser Plan immer dann, wenn die Regierung der Industrie zu Diensten sein darf und will, etwa: „Die Ausstattung der bewirtschafteten Rastanlagen bis 2017 mit Schnellladesäulen ist Teil dieses Strategierahmens“ (S. 53). Vage bleibt er beim Klimaschutz: „Der Ausbau der erneuerbaren Energien wird auch in den kommenden Jahren eine zentrale Rolle spielen“ (S. 33). Das Fazit dieses völlig desorientierenden Pseudo-Klimaplanes ist folgerichtig: „Der Klimaschutzplan 2050 wird im Jahr 2018 mit einem in seiner Minderungswirkung quantifizierten Maßnahmenprogramm unterlegt, das sicherstellt, dass die 2030er Ziele erreicht werden“ (S. 83), d.h. die 55 Prozent Reduzierung. Also auf gut deutsch: 2017 passiert erst mal gar nichts. 2018 fangen wir mit der Gesetzesarbeit an, dann sehen wir weiter.

Der Koalitionsvertrag 2018

Der hier skizzierte inhaltsleere Klimaschutzplan 2050 ist aber ohnehin und mit Recht aus der Diskussion verschwunden. Nun haben wir eine neue Regierung mit einem 177 Seiten langen Koalitionsvertrag. Zum Klima, der „Schicksalsfrage für die Menschheit“ laut Kanzlerin, fällt er bescheiden aus: Nur 60 Zeilen, viel weniger als ein Prozent des Textes, beschäftigen sich damit.[3] Das kann nicht sonderlich konkret werden, obwohl als Leitlinie formuliert wird: „Wir setzen uns mutige Ziele für die nächsten vier Jahre.“ (Koalitionsvertrag S. 4, Präambel) Entsprechend wolkig-vage fällt der Text aus: „Wir stehen weiterhin für eine wissenschaftlich fundierte, technologieoffene und effiziente Klimapolitik“, die „unter Beachtung des Zieldreiecks Versorgungssicherheit, Sauberkeit und Wirtschaftlichkeit“ (S. 126) realisiert werden soll. Etwas konkreter wird der Koalitionsvertrag nur in zwei Punkten:

„Den EU-Emissionshandel wollen wir als Leitinstrument weiter stärken“ (S. 143) ist das erste große Ziel. Und zwar soll er künftig mindestens die G20-Staaten umfassen oder besser möglichst alle Staaten. Mit dem Emissionshandel ist der Handel mit CO2-Zertifikaten gemeint. Innerhalb der EU sind seit 2005 alle Kraftwerke und industriellen Großverbraucher (aber nicht die Millionen Kleinverbraucher, z.B. im Verkehr und Raumheizung) verpflichtet, für die Emission einer Tonne CO2 einen Erlaubnisschein, ein Zertifikat, vorzuweisen. Diese Zertifikate können frei gehandelt werden. Sie sind mengenmäßig begrenzt, allerdings sind diese Grenzen – industriefreundlich und klimafeindlich – dermaßen hoch, dass sich im Lauf der Jahre ein riesiger Überschuss aufbaute und der Preis der Zertifikate (der eigentlich CO2-Verbrauchsreduzierungen anreizen sollte) in den Keller fiel. Das ganze System trug daher kaum etwas zum Klimaschutz bei. Zäh und mühsam ziehen sich seit einigen Jahren die Bemühungen hin, diese Überschüsse stillzulegen und den Zertifikatpreis, ggfs. per Mindestpreis-Vorgabe, zu erhöhen. Relevante Einsparimpulse werden noch Jahre auf sich warten lassen.

Einfacher und umfassender wäre es, vom Zertifikatesystem abzugehen und alle in den Handel gebrachten fossilen Energieträger – ab Förderung bzw. ab Grenze beim Import – entsprechend ihrer Klimaschadenswirksamkeit zu besteuern. Dieses Verfahren einer Verbrauchsbesteuerung ist einfacher als die vielen Verbrennungsorte zu überwachen (wenige Förderer und Großhändler statt Tausende Verbraucher); die meisten Energieträger werden auch heute schon mit einer (geringen) Verbrauchssteuer belegt. Und vor allem: Es würden alle Verbrennungsvorgänge, also die gesamte Emission, von dieser Art Klimaabgabe erfasst, statt weniger als die Hälfte wie beim Zertifikatesystem.

Der zweite konkrete Punkt ist die Einsetzung einer Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ (S. 142). Sie soll sich bis Ende 2018 etwas einfallen lassen, um das aufs Schwerste angeschlagene Klima-Weltmeister-Image halbwegs zu reparieren:

- Maßnahmen, um das riesige Versagen beim Reduzierungsziel 2020 noch ein bisschen abzumildern,

- Maßnahmen, um das Reduktionsziel 2030 „zuverlässig“ zu erreichen (das liegt jenseits dieser Legislaturperiode, da kann man noch unbesorgt versprechen),

- „einen Plan zur schrittweisen Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung“, sogar „einschließlich eines Abschlussdatums“.

Wieder einmal werden also Maßnahmen gegen die Klimazerstörung auf die lange Bank geschoben. Und trotzdem kommt noch der Verweis auf die absolute Schranke für jede ernsthafte Klima- und Energiepolitik: Eine Beeinträchtigung der internationalen Konkurrenzfähigkeit soll unbedingt zu vermieden werden; umgekehrt ist ihre notwendige Förderung das höchste Ziel. Viermal wird allein schon in den Abschnitten für Klima und Energie die „internationale Wettbewerbsfähigkeit“ als absolutes Ziel herausgestellt: nämlich der „energieintensiven Industrien“, der „deutschen Unternehmen“, des „Industriestandortes Deutschland“ und „unseres Wirtschaftsstandortes“ (S. 71, 137, 143)[4].

1992 auf der Rio-Konferenz gewann man aus der naturwissenschaftlichen Diskussion die Perspektive, dass man etwa ein halbes Jahrhundert Zeit habe, um die Treibhausgasemissionen sukzessive, systematisch und weltweit auf annähernd Null herunter zu fahren – in den reichen, entwickelten Ländern sofort, forciert und mit Engagement beginnend, um den armen Ländern die Möglichkeit zu geben, eine nachholende materielle Basis aufzubauen und dann die Reduzierungstechnologien zu übernehmen. Tatsächlich ist aber in dem Vierteljahrhundert seit 1992 ein ungeheurer Anstieg von Treibhausgasemissionen festzustellen – das Versagen Deutschlands beim Klimaschutz ist nicht die Ausnahme unter den Ländern, sondern die Regel. Angesichts dessen ist das Aushandeln von völlig unzureichenden Beschlüssen (Paris 2015, EU-Emissionshandel), das zögerliche Überlegen, wie man solche Beschlüsse konkretisiert, das wiederholte Verschieben von konkreten Umsetzungsmaßnahmen auf ein nächstes Jahr und wieder und wieder aufs nächste Jahr letztlich genauso zu werten wie das Nichtstun und Zusehen, wenn in unserer reichen Welt fast eine Milliarde Menschen hungerkrank ist und Millionen jährlich verhungern. Jean Ziegler schreibt: „Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.“ Dasselbe kann man von den Ertrunkenen und Verdursteten aufgrund der jetzt erst richtig beginnenden Klimakatastrophe sagen.

2. Die Machbarkeit eines schnellen Kohleausstiegs

Ungeachtet der hohen klimapolitischen Bedeutung eines Kohleausstiegs gehört er zu den umstrittensten Maßnahmen. Die bisherige Regierung, das Koalitionspapier 2018 und auch das Jamaika-Sondierungspapier sprechen zwar von der Dringlichkeit, aus klimapolitischen Gründen den Kohlestrom zu reduzieren. Nirgendwo ist aber von einem angesteuerten, gewollten Endtermin für den Prozess des Ausstiegs die Rede. Das Umweltbundesamt hat den Ansatz eines Strategiepapiers vorgelegt (UBA, November 2017), das erste notwendige Maßnahmen bis 2020 notiert:

- Stilllegung von alten Braunkohlekraftwerken im Umfang von 5 Gigawatt (GW/Millionen kW) Erzeugungsleistung, etwa ein Fünftel der bestehenden Kapazitäten. Das soll eine Emissionsreduzierung um 16 bis 20 Mio. Tonnen CO2 bringen.

- Begrenzung der jährlichen Laufzeiten der Braunkohlekraftwerke auf 4.000 Volllaststunden[5]. Greenpeace schätzt die dadurch reduzierbaren CO2-Emissionen auf 30 bis 40 Mio. Tonnen.

Zusammen sind das rund 50 Mio. Tonnen, weniger als ein Viertel der derzeitigen Emissionen aus den Kohlekraftwerken. Nach dem Papier des Umweltbundesamtes würde sich der Kohleausstieg bis nach 2030 hinziehen. 2030 würde immer noch ein Fünftel der heutigen Kohlestrommengen in Kohlekraftwerken erzeugt. Man kann wohl davon ausgehen, dass sich niemand in den Regierungsstellen und den zugeordneten Ämtern einen schnelleren Ausstieg vorstellen kann.

Das ist absolut unzureichend, wenn man Klimaschutz ernst nehmen will. Hier sollen im Folgenden Umfang und Möglichkeiten für einen sehr viel schnelleren Kohleausstieg aufgezeigt und diskutiert werden. Dabei orientiere ich mich nicht an den juristischen Problemen und Grenzen, sondern daran, was klimapolitisch erforderlich und was technisch gut, also zeitnah, umsetzbar ist, was also eine schlagkräftige Klimaschutzpolitik leisten sollte.

Die Lücke zwischen dem 40-Prozent-Reduzierungsziel für 2020 und dem mutmaßlichen Istwert in 2020 dürfte sich auf rund 150 Mio. Tonnen CO2 belaufen. Ein völliger Ausstieg aus der Kohleverstromung würde die Emissionen um mehr als diese 150 Mio. Tonnen reduzieren. Ein großer Schritt. Ein Großteil eines solchen Kohleausstiegs könnte in wenigen Jahren vollzogen werden. Die Energiewirtschafts-Expertin Claudia Kemfert vom DIW: „Die Klimaziele [für 2020] wären durchaus noch zu erreichen, wenn man [unter anderem] die alten und ineffizienten Kohlekraftwerke sofort vom Netz nehmen würde“ (DIW, Wochenbericht 3/2018).

Atomausstieg plus Kohleausstieg: Welchen Umfang hat das?

Die CO2-Emissionen aus der Stromerzeugung dürften sich 2017 auf rund 290 Mio. Tonnen belaufen, also auf fast ein Drittel der deutschen Emissionen insgesamt (BMWi 2018; eigene Hochrechnung aus dem bisherigen Trend). Steinkohle und Braunkohle steuern rund 37 Prozent zur Stromerzeugung bei, aber etwa 77 Prozent zu den Emissionen. Pro Kilowattstunde (kWh) Strom sind sie also fast sechsmal so klimazerstörerisch wie der Durchschnitt der anderen Einsatzstoffe. Im Einzelnen belaufen sich die CO2-Emissionen in Gramm pro kWh Strom auf etwa: Braunkohle 1020, Steinkohle 780, Erdgas 340, Gesamtdurchschnitt incl. Regenerative, Müll, Atom 470 (unterschiedliche Angaben finden sich in der Literatur je nach Kraftwerks-Wirkungsgrad). Deutschland hat unter den reichen Ländern den höchsten Kohleanteil in der Stromerzeugung, diesbezüglich ähnlich wie die armen Länder der Welt.

Das zu überwindende Haupthindernis: Die Profitmaximierung der Stromkonzerne

Im Jahr 2017 setzte sich die deutsche Stromerzeugung aus den in Tab. 1 zusammengestellten Beträgen nach Energieträgern zusammen (Tab. 1, nach BMWi 2018). Der Kohleausstieg darf natürlich den laufenden Atomausstieg nicht stoppen oder gar rückgängig machen. Dieser ist Ende 2022 beendet. Zusammen müssen daher insgesamt 318 Terrawattstunden (TWh) Atom- und Kohlestrom ersetzt werden, also knapp die Hälfte der Gesamtstromerzeugung.

210 TWh Strom wurden 2017 aus den Regenerativen Wind, Sonne, Biomasse, Wasserkrafterzeugt. Vor 20 Jahren, 1997, belief sich der Regenerativstrom auf 23 TWh, fast alles traditionelle Wasserkraft. Schon damals war das Hochziehen von regenerativem Strom erklärte Politik. Gleichzeitig wuchs der inländische Stromverbrauch nur noch wenig, in den 20 Jahren um insgesamt 9 Prozent. Dennoch investierten die Stromkonzerne weiter in neue Kohlekraftwerke. Naheliegend, dass das zu Auslastungs- und Überproduktionsproblemen führte. Klar, dass die Stromkonzerne die Regenerativen als Störenfried, als Überschussstrom definieren, dass sie ihren fossil-atomaren Marktanteil auf Biegen und Brechen verteidigen wollen. Andererseits, wenn man die erklärte Energiewende und Klimaschutzproblematik ernst nimmt oder ernst nehmen würde, dann ist natürlich der aus Klimaschutzgründen zurückzudrängende Fossilstrom der Überschussstrom. Diese bizarren Fehlinvestitionen der hoch bezahlten Strommanager führten zu einer dramatischen Entwertung der Anlagen (Aktienbewertung) vor allem der großen Stromkonzerne (Garnreiter 2018).

Tabelle 1: Anteile der einzelnen Energieträger an der Stromerzeugung der Bundesrepublik Deutschland 2017

Tabelle siehe PDF!

Bekanntlich kann bei den Regenerativen, vor allem bei Wind und Sonne, die Stromerzeugung sehr stark schwanken. Zum Ausgleich gegenüber der Stromnachfrage gibt es drei Instrumente:

- Stromspeicher, langfristig das wichtigste Instrument: Forschung hierzu und ihr Ausbau müssten vordringliche Ziele sein;

- Nachfragelast-Management: Gesteuerte Verlegung der Stromnachfrage in Zeiten eines hohen Angebotes;

- Andere Kraftwerke füllen die Lücke.

Sehr gut als „Lückenfüller“ geeignet sind moderne Gaskraftwerke, die in Minuten hoch- und heruntergefahren werden können. Zudem haben sie einen hohen Wirkungsgrad: Sie wandeln 60 Prozent der im Gas steckenden Energie in Strom um, Kohlekraftwerke dagegen nur 40 Prozent. Das macht sich auch im Unterschied der oben angegebenen Emissionsfaktoren bemerkbar. Gaskraftwerke sind also ideal als Ergänzung zum regenerativ erzeugten Strom – solange es nicht ausreichende Stromspeicherkapazitäten gibt! Dagegen sind vor allem Atom- und Braunkohlekraftwerke völlig unflexibel in ihrer Fahrweise. Anfahren und abschalten dauert viele Stunden bis Tage. Atom und Kohle können also die Schwankungen beim benötigten Reststrom nicht zeitgerecht ausgleichen.

Aber: Kohle und Uran sind billiger als Erdgas, also profitabler für die Konzerne, wobei das allerdings nur dann gilt, wenn man – wie bei der unternehmerischen Kostenkalkulation üblich – die Umwelt- und die Gesundheitsschäden außer Acht lässt. Diese Schäden, in der Ökonomen-Fachsprache Externe Kosten, werden nicht vom Verursacher, sondern von Dritten getragen, etwa von den Geschädigten oder von der Öffentlichen Hand. Sie liegen bei Kohle pro kWh mehrfach höher als bei Erdgas, und insgesamt belaufen sie sich auf 46 Mrd. Euro jährlich (UBA, November 2017), etwa 1,5 Prozent des BIP.

Aus Konzernsicht ist also, zur Profitmaximierung, Atom und (Braun-)Kohle gegenüber Erdgas klar vorzuziehen. Gaskraftwerke werden – in Zeiten allgemeiner Stromüberproduktion – demzufolge immer weniger betrieben. Etwa drei Viertel der Zeit stehen sie still, während Braunkohle- und Atomkraftwerke zu annähernd 90 Prozent des Jahres mit Volllast laufen (die restliche Zeit wird benötigt für Revisionen, Wartung, Reparaturen, Brennstoffstabwechsel dieser meist uralten Maschinen). Verrückt ist, dass gerade die modernsten, effizientesten Gaskraftwerke stillstehen. Beispiel: Die Blöcke 4 und 5 des Gaskraftwerkes Irsching bei Ingolstadt (zusammen 1400 MW Leistung, mehr als ein AKW) wurden 2010 fertig gestellt. Sie wurden damals als die Kraftwerke mit dem weltweit höchsten Wirkungsgrad und sehr guter Schadstoffminderung gefeiert. Abgesehen vom Probebetrieb liefen sie seither so gut wie überhaupt nicht und der Eigner Eon will diese Kraftwerke endgültig stilllegen. Stattdessen laufen die ältesten und umweltschädlichsten, abgeschriebenen und billigsten Kohlekraftwerke auf Volllast.

Aber es geht noch irrsinniger: Immer häufiger werden die Situationen, wo die zahlreicher werdenden Windmühlen bei kräftigem Wind Strom einspeisen wollen, das aber nicht können, weil die Stromnetze (in Zeiten geringerer Nachfrage, etwa nachts oder am Wochenende) voll und verstopft sind mit Atom- und Kohlestrom. AKWs durchlaufen lassen und den Strom verschenken ist billiger als ein AKW herunter- und wieder hochfahren. Als Konsequenz werden immer häufiger Windmühlen wegen Netzüberlastung abgeklemmt (einfaches, primitives Engpassmanagement). 3,7 Mrd. kWh möglicher regenerativer Strom wurden 2016 dadurch verloren bzw. nicht eingespeist. Das sind 0,6 Prozent des deutschen Stromverbrauchs, entspricht also dem Verbrauch einer durchschnittlichen deutschen Halbmillionenstadt inklusive Industrie. 2012 waren es erst 0,4 Mrd. kWh, die auf diese Weise verloren gingen – Verluste, die im Lauf der Zeit anwuchsen und 2015 sogar 4,7 Mrd. kWh erreichten. Der Großteil der Abklemmungen ereignete sich in Norddeutschland (Schleswig-Holstein), wo der Dauerbetrieb der AKWs (Brokdorf) den Abtransport des Windstroms blockierte. Der gesetzliche Einspeisevorrang für die Regenerativen verwandelt sich hier so zu einer realen Nachrangigkeit hinter Atomstrom. Der Neubau von Wind- und Solaranlagen wurde derweilen mit engen jährlichen Obergrenzen herunter geregelt, insbesondere in den norddeutschen Atom-Wind-Konfliktgebieten (ausgestrahlt/netzverstopfer, 2018). Die Folge sind Absatzprobleme bei den deutschen Windstromanlagenbauern, die in Kapazitäts- und Personalabbau münden / zu münden drohen (IGM 2017) – völlig bizarr angesichts der Dringlichkeit, von Kohle auf Wind überzugehen.

Trotz des Klimazerstörungspotenzials des Kohlestroms wurden allein seit 2010 Kraftwerkskapazitäten für Braunkohle im Umfang von fast 3.000 MW und für Steinkohle von fast 9.000 MW gebaut bzw. grunderneuert. Zusätzlich stehen noch 3.000 MW im Planungs-/Genehmigungsverfahren (UBA, August 2017; UBA, November 2017). Das ist zusammen ein Erzeugungspotenzial, das etwa doppelt so hoch ist wie das aller aktuell laufenden AKWs zusammen. Hätte man früher, meinetwegen erst im Jahr 2000, mit wirklicher Klimaschutzpolitik begonnen, hätte man damals auf Gaskraftwerke gesetzt und natürlich erstrangig auf Regenerative, dann hätten wir heute nicht annähernd dieses Kohle-Problem, dann könnten wir heute den Kohleausstieg schon fast erledigt haben. Aber es geht noch weiter: Bei der derzeitigen Diskussion um die Erweiterung des Braunkohle-Tagebaus geht es um ein (schon genehmigtes!) Abbaupotenzial von 4,2 Mrd. Tonnen Braunkohle (UBA, November 2017). Allein damit könnte man den Betrieb der Braunkohlekraftwerke im heutigen Umfang noch drei Jahrzehnte weiterführen, zusätzlich zum Potenzial der schon bestehenden und längst noch nicht ausgebeuteten Tagebaue. Ein weiterer unfassbarer Widerspruch zwischen billigen Klimaschutzbeschlüssen und dem realen Handeln.

Ist der Ersatz von Kohlestrom durch Erdgasstrom sinnvoll?

Ist der Erdgasverbrauch klimaverträglich? Definitiv nein. Für eine genauere Betrachtung gilt zunächst, dass das Verbrennen von Erdgas nicht ganz so schädlich ist für das Klima wie das Verbrennen von Kohle. Das Verbrennen einer Energiemenge von 1 Gigajoule (GJ) in Form von Erdgas (das sind etwa 25 m³) führt zu CO2-Emissionen in Höhe von 56 kg. Aus derselben Energiemenge in Form von Ölprodukten resultieren 70 bis 80 kg, bei Steinkohle sind es 94 kg und bei Braunkohle 111 kg CO2 (also doppelt so viel wie bei Erdgas) (UBA 2018). Erdgas führt also zu den im Vergleich niedrigsten Emissionen, weist also die niedrigste Treibhauswirksamkeit auf. Hinzu kommen zugunsten des Erdgases die schon angesprochene bessere Kraftwerks-Regelbarkeit und der erheblich höhere Kraftwerks-Wirkungsgrad.

Nun besteht Erdgas fast gänzlich aus Methan, und unverbrannt in die Atmosphäre entlassenes Methan ist nach Kohlendioxid CO2 das zweitwichtigste Treibhausgas. Es hat einen Anteil an der Klimaerwärmung von etwa 20 Prozent (CO2 knapp 75 Prozent, die restlichen zusammen gut 5 Prozent). Methan bewirkt besonders stark den Treibhauseffekt: ein Molekül Methan wirkt bei einem Betrachtungszeitraum von 100 Jahren rund 25mal so schädlich wie ein Molekül CO2[6]). Es stellt sich daher die Frage: Wenn bei Förderung, Transport und Verbrauch von Erdgas unverbrannte Teile dieses Erdgases in die Luft freigesetzt werden, wenn also Methan emittiert wird, bleibt dann der Erdgaseinsatz in der Stromerzeugung immer noch vorteilhafter als der Kohleeinsatz?

Anderson/Broderick (2017) vom schon genannten Tyndall Centre haben zur Analyse dieser Frage eine Vielzahl von Studien und Untersuchungen ausgewertet. Sie ermitteln eine enorm hohe Streubreite der Methanemissionen in der Gasindustrie. Die Höhe der Methanfreisetzung ist offensichtlich stark abhängig von der Sorgfalt bei Förderung und Transport. Darüber hinaus ist bei der Fördermethode Fracking das Risiko von Methanemissionen weitaus höher als bei herkömmlich konventioneller Förderung. Und weiter führt auch der Transport per LNG (Liquefied Natural Gas), zu mehr Risiken (und auch zu erheblich mehr Treibstoffbedarf) als der Pipelinetransport des Erdgases. Bei LNG wird Gas in flüssige Form verdichtet und per Schiff über die Meere transportiert. Bislang ist das eine sehr teure Transportform, die hauptsächlich für die Versorgung von Japan mit Nahost-Erdgas verwendet wird. Die USA, deren Erdgasförderung wesentlich auf Fracking beruht, wollen ihr Erdgas künftig mit LNG-Schiffen auf dem europäischen Markt verkaufen.

Die Ergebnisse von Anderson/Broderick: Berücksichtigt man die Methanemissionen, dann erhöht sich die Treibhauswirksamkeit der Verbrennung von Erdgas bei einer Versorgung über Pipelines im Mittel um 10 Prozent, bei einer Versorgung über LNG um 24 Prozent[7]. Angesichts der Tatsache, dass die Treibhauswirksamkeit der Verbrennung von Steinkohle um 67 Prozent und bei der Braunkohle sogar um fast 100 Prozent über der von Erdgas liegt, ändert eine Berücksichtigung der Methanemissionen nicht die Rangfolge der Treibhauswirksamkeit der Energieträger. Sie verringert aber den relativen Vorteil des Erdgases, ihre „Klimaverträglichkeit“. Im Übrigen gibt es auch beim Kohlebergbau Methanemissionen: das regelmäßig unverbrannt ausgeblasene Grubengas besteht wesentlich aus Methan, die gefürchteten Schlagwetter unter Tage sind Methanexplosionen. Und auch bei der Ölförderung gibt es als Begleitgas Methan, das üblicherweise (aber nicht immer) abgefackelt wird.

Fazit: Es ist klimapolitisch sinnvoll, bei der Verstromung Kohle durch Erdgas zu ersetzen, solange es noch nicht genügend Regenerativstrom gibt, so lange noch nicht genügend Strom eingespart werden kann und solange es noch nicht genügend Speichermöglichkeiten zum Schwankungsausgleich gibt. Es ist aber unabdingbar, den Erdgasstrom nach dem Kohleausstieg mit aller Kraft durch Regenerativstrom zu ersetzen.

Schritte zum Atom- und Kohleausstieg

Was wären die zentralen Schritte für einen schnellen Atom- und Kohleausstieg, für den Ersatz von rund 320 TWh?

1. Kein Stromexport mehr: 50 TWh. Bis vor einigen Jahren war der deutsche Außenhandelssaldo mit Strom immer in der Nähe von Null. Mit zunehmendem Regenerativstrom und dem Nicht-Abschalten der alten konventionellen Kraftwerke nahm der Stromexport drastisch zu auf 54 Mrd. kWh in 2017. „Hauptursache für diesen Stromexport ist die hohe Kohlestromproduktion“ (Agora 2017) – den Atomstrom hat Agora hier vergessen. Hauptabnahmeländer sind Österreich, Schweiz, Niederlande: Länder, die überwiegend nicht durch exzessiven Kohlestrom bekannt sind. Rein rechnerisch produzieren fünf der sieben noch laufenden Atomkraftwerke allein für den Export. In diesem Ausmaß könnte man fossil-atomare Stromproduktion stoppen und die entsprechende Kraftwerksanzahl stilllegen. Juristisch dürfte es vermutlich schwierig werden, die Konzerne von Exportoffensiven abzuhalten.

2. Massiver Anschub für Wind- und Photovoltaikstrom: 120 TWh. In der Hochphase 2010 bis 2015 nahm die Erzeugung von Wind- und Sonnenstrom jährlich um fast 15 TWh zu. Die Merkel-Regierungen änderten aber wiederholt das EEG (das den regenerativen Strom fördern soll) und zwängten die Regenerativen in immer engere Schranken. Die CSU brachte mit der 10H-Regel den Ausbau des Windstroms in Bayern heute schon zum Stillstand (Rückgang um 99 Prozent). Das Umweltbundesamt befürchtet, dass der Ausbau des Windstroms dadurch in einigen Jahren völlig zum Erliegen kommen wird (UBA, November 2017). Die Anlagenbauer leiden unter inländischem Nachfrageschwund. Eine forcierte Klimaschutzpolitik müsste dagegen – alle Technik bekannt, Kosten niedrig, Kapazitäten verfügbar – einen Ausbau der Regenerativen um 120 TWh problemlos innerhalb von fünf oder höchstens acht Jahren umsetzen können. Das Umweltbundesamt fordert – als Minimalziel! – einen Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugung auf 50 Prozent des Stromverbrauchs in 2025 (UBA, November 2017). Das ist eine ähnliche Größenordnung. Immer dringender wird dann aber die Lösung der Stromspeicherung: Forschungen zu den Speichermöglichkeiten, Möglichkeiten und Perspektiven von Power-to-Gas, Stromnachfragesteuerung.

3. Verdoppelung des Gasstroms: 80 TWh. „In Deutschland stehen viele Gaskraftwerke ungenutzt herum“ (Agora 2017) oder sie laufen mit niedriger Last. Von 2007 bis 2011 liefen die Gaskraftwerke schon mal sehr viel intensiver, fast doppelt so lange pro Jahr wie heute (4000 Benutzungsstunden). Das war zu der Zeit, als sich in etlichen AKWs Unfälle ereigneten (v.a. Brunsbüttel, Krümmel) und dann nach Fukushima diese und einige weitere alte AKWs abgeschaltet wurden. Die Gaskraftwerke konnten den Ausfall lässig kompensieren. 80 TWh zusätzlich sollten von daher ohne wesentliche Investitionen kurzfristig erreichbar sein. Man könnte als Anreiz den Kohleeinsatz über eine CO2-Steuer drastisch verteuern und die Brennelementesteuer für AKWs wieder einführen.

4. Schließlich die Stromeinsparung: 70 TWh. Reale Marktwirtschaft funktioniert bekanntlich oft schlecht. In den Lehrbüchern werden Effizienz, kostenoptimale Verwendung der Produktionsfaktoren, die denkbar beste Allokation der Ressourcen versprochen. Leider nur in den Lehrbüchern. Das Umweltbundesamt ließ die Klimapolitik evaluieren und kommt dabei unter anderem zum Ergebnis, dass „innerhalb von zehn Jahren zusätzlich [!] insgesamt 100 TWh/Jahr an Strom gegenüber dem Trend prinzipiell wirtschaftlich [!] eingespart werden könnten“ (UBA 2016). 100 TWh Einsparung, die rentabel ist, aber dennoch nicht durchgeführt wird, weil simples Marktversagen dominiert. 100 TWh, die nur mühsam durch teure staatliche Anreizprogramme mobilisierbar sind. Diese Vergeudung (oder marktwirtschaftsbedingte Unfähigkeit) der Unternehmen, rentable Energieeinsparmöglichkeiten zu erkennen und zu realisieren, ist ein völlig normales und weit verbreitetes Phänomen, nicht nur beim Strom, festgestellt in zig Untersuchungen. Man muss hier noch die Größtverbraucher (Chemie, Stahl, NE-Metalle) hinzu nehmen mit einem Verbrauch im TWh-Bereich pro Betrieb, aber mit Strompreisen von 5 ct/kWh oder wenig darüber, die bei so einem Niedrigstpreis natürlich so gut wie keinen Einsparanreiz verspüren: hier muss und könnte mit einer geschickten Preispolitik eine rentable Verbrauchsreduzierung erzielt werden.[8] Dann könnte sicherlich noch ein viel umfangreicheres Reduzierungspotential erschlossen werden. Dann könnte zusätzlicher Stromverbrauch durch die Elektrifizierung des Autoverkehrs auch bei bestehendem Kraftwerkspark befriedigt werden (wobei der Mehrverbrauch durch eine Million E-Autos sich lediglich auf etwa ein halbes Prozent des gegenwärtigen Stromverbrauchs belaufen würde). Oder Dann könnte auch aus der Gasstromerzeugung früher ausgestiegen werden.

3. Die Dunkelflaute

Die zentralen Bedenken gegen einen Kohleausstieg beruhen auf der so genannten Dunkelflaute. Wenn nachts kein Wind weht und zudem noch Winter ist: sind wir dann auf Kohlekraftwerke angewiesen, um nicht frierend im Dunklen sitzen zu müssen? Das ist ein durchaus zentraler Gesichtspunkt, weswegen sich die Ausstiegsdiskussion meistens auf die Strom-Erzeugungsleistung konzentriert, also auf das zum ungünstigsten Zeitpunkt nötige Erzeugungspotential, gemessen in GigaWatt (GW).

Betrachten wir den 11. Januar 2018 abends 19 Uhr, ein deutschlandweit windstiller Abend mit sehr hohen Verbrauchsspitzen (71,6 GW) (Daten aus: Agorameter)[9]. Eine Leistung von 16,5 GW wurde durch regenerative Energien (Laufwasser und Biomasse), durch sonstige, v.a. Müllkraftwerke sowie durch Pumpspeicherkraftwerke dargestellt. Damit verblieben noch 55 GW, die in konventionellen Kraftwerken erzeugt werden mussten. Installiert war 2017 eine konventionelle (Netto-)Leistung von rund 87 GW[10], davon 11 GW Atom, 25 plus 21 GW Stein- und Braunkohle, 30 GW Erdgas (ISE). Das bedeutet: Auch zur ungünstigsten Dunkelflaute-Stunde im letzten Winter hätte man für die inländische Stromversorgung fast nichts von den installierten Atom- und Braunkohlekraftwerken benötigt, wohl aber vom Steinkohlepotenzial. Tatsächlich wurde in dieser Stunde der Strombedarf in etwa hälftig durch Gas- und Steinkohlekraftwerke sowie durch Atom- und Braunkohlekraftwerke erzeugt.

In diesem Zusammenhang muss noch das Vergleichmäßigungspotenzial angesprochen werden, das eine vernünftige Stromwirtschaft mit sich bringen könnte. Zum einen geht es um ein Lastmanagement für die Stromnachfrage: die Verschiebung des Stromverbrauchs hin zu Zeiten, in denen sich die Bedarfsdeckung einfacher gestaltet (geringerer Spitzenbedarf, mehr regeneratives Angebot). Beispiele für ziemlich problemlose Verlagerungsmöglichkeiten sind der Waschmaschinenbetrieb in Haushalten oder industrielle Kühlungs- und Erwärmungsprozesse oder das Laden von E-Autos. Die dena (2012) beziffert das Potential auf 15 GW – allerdings dürfte davon nur ein kleiner Teil über Tage hinweg verschiebbar sein.

Wichtiger sind Stromspeicher. Bisher sind sie auf die kurze Frist ausgelegt (Stunden, Tage). Hier braucht es noch viel Forschung und Entwicklung. „Power-to-Gas“ könnte künftig eine wichtige Rolle spielen, das ist die Erzeugung von Methan mit Hilfe von überschüssigem Regenerativstrom im Sommer und seinem Verbrauch (ggfs. in Gaskraftwerken) im Winter. Saisonspeicher vom Sommer zum Winter sind bei Gas kein Problem. Wenn die Regenerativstromerzeugung ordentlich ausgebaut ist, dann könnte Power-to-Gas eine interessante Alternative zum Betrieb von Kohlekraftwerken in Dunkelflautestunden sein.

Zu berücksichtigen ist schließlich noch der internationale Stromaustausch. Wenn in Norddeutschland Dunkelflaute herrscht, dann kann es ja sein, dass in Frankreich oder Polen oder Skandinavien oder Holland/Belgien kein Windstillstand herrscht, dass diese Länder mit ihren Erzeugungskapazitäten beim deutschen (relativen) Notstand aushelfen können. Ein derartiger gegenseitiger Austausch ist seit langem Routine, ebenso wie es auch zwischen den deutschen Regionen laufend Austausch gibt – unabhängig von längerfristigen Lieferverträgen.

Heute ist in den ungünstigsten Stunden die Stromversorgung noch klar von der Kohleverbrennung abhängig. Das zu ändern erfordert viel Arbeit. Der erste große und entscheidende Schritt muss sein, die noch notwendigen Kohlekraftwerke nur dann laufen zu lassen, wenn sie unabdingbar nötig sind. Das ist auch heute definitiv weit seltener der Fall als ihre tatsächliche Laufleistung angibt.

4. Fazit

Ende 2022 ist der Atomausstieg beendet, vorausgesetzt, er wird nicht noch revidiert. Allenfalls wenige Jahre später könnte und müsste der Kohleausstieg zu einem großen Teil erledigt sein. Aber auch für so etwas Einfaches wie den Kohleausstieg (einfach im Vergleich zu einer klimaschützenden Verkehrspolitik, Industriepolitik, Wohnungsbaupolitik, internationalen Handels- und Entwicklungspolitik) bräuchte man eine ernsthafte Klimapolitik und ein Überwinden der Profit- und Beharrungsinteressen der Kohle-Strom-Industrie. Null Kohlestrom und sein teilweises Ersetzen durch Erdgasstrom sollten die CO2-Emissionen in der Größenordnung von 200 Mio. Tonnen reduzieren. Das 2030er Klimaziel wäre dann nahe. Die wirklich harte Arbeit an der Dekarbonisierung Deutschlands könnte dann losgehen.

Literatur

Agora Energiewende: Kohleausstieg, Stromimporte und -exporte sowie Versorgungssicherheit, November 2017

Agora Energiewende: Agorameter, https://www.agora-energiewende.de/de/themen/-agothem-/Produkt/produkt/76/Agorameter/

Anderson, Kevin/ John Broderick: Natural gas and climate change, Oktober 2017

ausgestrahlt: www.ausgestrahlt.de/aktionen/netzverstopfer/

Bundesministerium für Umwelt: Klimaschutzplan 2050, 14. 11. 2016

Bundesministerium für Umwelt: BMU-Pressedienst Nr. 065/18 v. 27. März 2018

Bundesministerium für Wirtschaft: Zahlen und Fakten. Energiedaten, Januar 2018

dena: Deutsche Energieagentur, Handbuch Lastmanagement, Berlin 2012

Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: Eine Koalition auf Kosten des Klimas, Wochenbericht 3/2018

Garnreiter, Franz: Die Pariser Klimakonferenz: Anlass zu Euphorie oder zu Skepsis und Sorge? In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 105 (März 2016), S. 130-139

Garnreiter, Franz: Klimazerstörung. Die Verantwortungslosigkeit kapitalistischer Gesellschaften, isw-spezial 30, Januar 2017

Garnreiter, Franz: RWEEON: Monopolisierung vollendet – Vergesellschaftung jetzt nötig, www.isw-muenchen.de, März 2018

Handelsblatt: Wenn es richtig dunkel wird, 15. 11. 2017

IG Metall: Umfrage unter den Betriebsräten der Windindustrie, 2017

ISE: Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme, energy-charts, https://www.energy-charts.de/index_de.htm

klimafakten.de: 143:1 – der Klimawandel ist praktisch kein Thema für die großen Polit-Talkshows von ARD und ZDF, 9. 1. 2018

Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD: Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Februar 2018

Süddeutsche Zeitung: BND: Russland ist „potentielle Gefahr“, 15. 11. 2017

Umweltbundesamt: Wirkungsweise bestehender Klimaschutzmaßnahmen, Februar 2016

Umweltbundesamt: Datenbank „Kraftwerke in Deutschland“, August 2017

Umweltbundesamt: Kohleverstromung und Klimaschutz bis 2030, November 2017

Umweltbundesamt: Nationale Trendtabellen, Januar 2018

[1] Es gibt mehrere unterschiedliche treibhauswirksame Gase, von denen das Kohlendioxid CO2 mit etwa 75 Prozent Anteil das wichtigste ist. Sie können addiert werden, indem man die anderen Treibhausgase auf das Treibhauspotential von Kohlendioxid umrechnet.

[2] Offiziell um 80 bis 95 Prozent. Die frühere Bundesumweltministerin Hendricks präzisierte aber am 12. 11. 2015 im Bundestag: „In Europa wollen wir vorangehen. Bis 2050 wollen wir 80 bis 95 % weniger Treibhausgase ausstoßen. Für Deutschland heißt das: Wir müssen am oberen Ende dieser Grenze liegen.“ Ohnehin sind 95 Prozent Reduzierung nötig, um das 2°-Limit einzuhalten.

[3] So irrelevant der Klimaschutz in der „hohen Politik“ ist, so irrelevant ist er auch in der Mediendiskussion: Nur eine einzige der 143 wichtigen Talkshows im deutschen Fernsehen (Will, Maischberger u.a.) widmete sich 2017 der Klimafrage (klimafakten 2018). Die Klimaproblematik interessiert offensichtlich niemanden mehr in den Medienapparaten.

[4] 80mal geht es im Koalitionsvertrag um Wettbewerb und sogar 270mal um Digitalisierung, alles Dinge, die seinen AutorInnen viel wichtiger sind als die Klimaänderungen.

[5] Erzeugungsmenge, die einer Laufzeit unter Volllast von 4.000 Stunden entspricht. Ein Jahr hat 8.760 Stunden.

[6] Für das Schadenspotenzial des Methans relativ zum CO2 werden Werte zwischen 20 und 100 geschätzt. Methan wirkt nur wenige Jahrzehnte, CO2 dagegen viele Jahrhunderte, weswegen je nach dem betrachteten Zeitrahmen unterschiedliche relative Wirkungsgrade berechnet werden. Setzt man bei Methan einen Zeithorizont von 20 statt 100 Jahren an, so vervierfacht sich rechnerisch die Klimaschädlichkeit.

[7] Mit einer Streubreite bis zum Zwei- bis Dreifachen dieser mittleren Werte.

[8] Beispielsweise durch eine Sonderabgabe von 10 ct/kWh auf den Strompreis, verbunden mit einer gleichbleibenden Zahlung eines Festbetrages an das Unternehmen in Höhe des bisherigen Stromverbrauchs mal 10 ct/kWh. Möglichkeiten und die Rentabilität von Verbrauchsreduzierungen würden massiv steigen, während ihr finanzieller Nutzen (und Anreiz) beim Unternehmen verbliebe. Eine Maßnahme aus dem marktwirtschaftlichen Instrumentenkasten.

[9] In dieser Stunde wurde trotzdem noch eine Leistung von knapp 3 GW exportiert.

[10] Ob alle diese Kraftwerke am 11. 1. 2018 auch einsatzbereit zur Verfügung standen, ist mir unbekannt – vermutlich aber nicht.