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Bevölkerungsdynamik und Geschlechterverhältnis

von Helmut Knolle
Dezember 2017

Im ersten Kapitel seines Romans „Effi Briest“ schildert Theodor Fontane, wie im Milieu des preußischen Landadels der 1880er Jahre Ehen geschlossen wurden, und er macht dabei sehr genaue Angaben zum Alter der Braut und des Bräutigams. Wir erfahren außerdem, dass es in diesen Kreisen, auch unter den Frauen, Konsens war, dass die Braut sehr jung, der Bräutigam hingegen nicht „zu jung“ sein durfte. Sowohl die Eltern Briest als auch die Tochter und der Schwiegersohn erfüllen die Altersnorm. Vater Briest ist etwas über 50, Mutter Briest ist 38, Baron Instetten ist ebenfalls 38 und Effi ist 17. Ganz am Anfang erzählt Effi ihren Freundinnen, dass ihre Mutter und der gleichaltrige Instetten früher einmal ein Liebespaar waren, aber nur für kurze Zeit. Denn „es kam, wie’s kommen musste, wie’s immer kommt. Er war ja noch viel zu jung, und als mein Papa sich einfand, der schon Ritterschaftsrat war und (das Gut) Hohen-Cremmen hatte, da war kein langes Besinnen mehr, und sie nahm ihn und wurde Frau von Briest.“ Und nun, 18 Jahre später, hält Instetten um Effis Hand an, und Mutter Briest rät ihrer Tochter zum Ja: „Er ist freilich älter als du, was alles in allem ein Glück ist, dazu ein Mann von Charakter, von Stellung und guten Sitten ...“. Da gibt es auch für Effi „kein langes Besinnen mehr“, und schon am nächsten Tag ist Verlobung. Danach beeilt sie sich, ihrer Freundin Hulda die Neuigkeit zu überbringen. Auf dem Weg zu ihr sagt sie sich: „Ich glaube, Hulda wird sich ärgern. Nun bin ich ihr doch zuvorgekommen.“

Niemand zwingt Effi Briest, so jung einen Mann zu heiraten, der 21 Jahre älter ist, und doch tut sie es, und zwar ohne „langes Besinnen“. Etwas Ähnliches meinte die deutsche Feministin Frigga Haug, als sie in ihrem Aufsatz „Opfer oder Täter?“ schrieb: „Indem sie Ehe und Mutterschaft in dieser Weise wollen ..., willigen die Frauen freiwillig in ihre Unterwerfung ein.“[1] Haug hat versucht, solches Verhalten von Frauen aus der Psychologie zu erklären. Hier soll nun gezeigt werden, dass auch die demographische Situation eine Rolle spielt. Der kolumbianische Romancier Garcia Marquez hat das auf den Punkt gebracht. In seinem Roman „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ heißt es: „Für die Frauen gab es nur zwei Altersstufen: das heiratsfähige Alter, das höchstens bis zum zweiundzwanzigsten Lebensjahr ging, und das Alter der ewigen Jungfern für die Sitzengebliebenen“[2]. Warum war das so? Warum mussten die Frauen sich beeilen, wenn sie heiraten wollten, die Männer hingegen nicht? Diese Frage muss zuerst beantwortet werden.

Zu viele Frauen?

Die Beispiele aus der deutschen und lateinamerikanischen Romanliteratur lassen sich ergänzen durch Stimmen aus dem viktorianischen England, die alarmiert waren durch die „ungeheure und wachsende Zahl alleinstehender Frauen in der Nation, eine Zahl, die in ihrer Disproportion und Anomalie anzeigt, dass die Gesellschaft krank ist“[3]. Ein vor mehr als 30 Jahren erschienenes Buch mit dem Titel „Too Many Women?“[4] hat das Thema systematisch behandelt. Da ging es um die Frage: Ist die heterosexuelle Einehe mit den natürlichen Gegebenheiten vereinbar, oder anders ausgedrückt: gibt es ein ungefähres zahlenmäßiges Gleichgewicht zwischen heiratsfähigen Männern und Frauen, wie es in der „besten aller Welten“ sein sollte? Die Frage ist nicht neu. Schon die rationalistische Theologie der Aufklärungszeit hatte sich um den Nachweis bemüht, dass die göttliche Ordnung auch in dieser Hinsicht perfekt sei. Der in Berlin tätige lutherische Pfarrer Johann Peter Süssmilch (1707-1767), der als Begründer der Demographie in Deutschland gilt[5], behandelte das Thema in seinen „Betrachtungen über die göttliche Ordnung in den Verhältnissen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen“. Er zeigte mit Statistiken, dass die Überzahl der Knaben bei Geburt durch ihre höhere Sterblichkeit ausgeglichen wird. Weil nun etwa im Alter von 20 Jahren das Gleichgewicht erreicht wird, glaubte Süssmilch, alles sei in Ordnung. Doch so einfach ist die Sache nicht.

Tabelle 1: Bevölkerung Mexikos (1979) im Alter zwischen 15 und 44 Jahren[6]

Tabelle siehe PDF !

Süssmilchs These ist richtig, wenn die Bevölkerung konstant ist. Bei Wachstum muss aber die Wachstumsrate zusammen mit dem unterschiedlichen Heiratsalter von Männern und Frauen berücksichtigt werden. Eine Bevölkerung, die sich längere Zeit ohne Störungen durch Kriege oder andere Katastrophen und ohne markante Änderung des Reproduktionsverhaltens entwickelt hat, zeigt eine charakteristische Altersverteilung, die durch die altersspezifische Sterblichkeit und die Wachstumsrate bestimmt ist. Tabelle 1 zeigt die Größe der relevanten Altersgruppen in einer schnell wachsenden Bevölkerung (Mexiko 1979). Man sieht, dass es in jeder Altersgruppe etwa gleich viel Männer und Frauen gibt. Wenn also die Ehen immer zwischen Gleichaltrigen geschlossen würden, dann wäre es rein numerisch möglich, dass alle Frauen heiraten. In Wirklichkeit heiraten aber die Frauen im Mittel einige Jahre früher als die Männer. Würde dieser Altersunterschied fünf Jahre betragen, dann gäbe es in einer Bevölkerung mit diesem Altersaufbau etwa 20 Prozent mehr heiratswillige Frauen als Männer.

In den 1960er Jahren erschienen die ersten demographischen Analysen dieses Phänomens, das im Englischen als „marriage squeeze for women“ bezeichnet wird.[7] Eine deutsche Übersetzung wäre etwa „Heiratsengpass für Frauen“. Stattdessen kann man auch von einem nuptialen (von lat. nubere = heiraten) Frauenüberschuss sprechen. Der nuptiale Frauenüberschuss kann auftreten, auch wenn es insgesamt ebenso viele Männer wie Frauen gibt, denn er wird verursacht durch stetiges Wachstum der Bevölkerung und den Unterschied im mittleren Heiratsalter. Die Analyse eines Modells, in dem gleiche Geburten- und Sterberaten für beide Geschlechter vorausgesetzt werden, führt zu der folgenden Näherungsformel[8]: F+ = w (hm - hf ). Hierbei ist F+ der nuptiale Frauenüberschuss (Verhältnis der Zahl der heiratswilligen Frauen zur Zahl der heiratswilligen Männer - 1), w die Wachstumsrate der Bevölkerung, hm das mittlere Heiratsalter der Männer und hf das mittlere Heiratsalter der Frauen, jeweils bei Erstheirat. Da in der Formel ein Produkt erscheint, gibt es theoretisch zwei Möglichkeiten, F+ verschwinden zu lassen: entweder das mittlere Heiratsalter der Geschlechter wird gleich, oder w wird null. Auch ein nuptialer Männerüberschuss ist möglich, nämlich dann, wenn hm - hf positiv und w negativ ist, d.h. wenn die Bevölkerung schrumpft.

Solange die Frauen auf das häusliche Leben eingeschränkt waren, wurden sie dazu ermuntert und gedrängt, früh zu heiraten. Die Männer hingegen mussten erst eine Berufsausbildung und den Militärdienst absolvieren, bevor sie heiraten konnten. Die Differenz (hm - hf ) war also immer positiv, und in einzelnen Fällen konnte sie mehr als 20 Jahre betragen. Deshalb bestand der nuptiale Frauenüberschuss in allen Ländern, in denen die Bevölkerung schnell wuchs, also in Europa und Amerika von etwa 1750 bis 1914, und er besteht in Lateinamerika, Afrika und Teilen Asiens bis heute. Solange die Scheidung unmöglich oder sehr selten war, konnten deshalb viele Frauen nie heiraten. Sie lebten dann meist im Haushalt der Eltern, die sie im Krankheitsfall pflegen mussten, und nach deren Tod bei einem verheirateten Bruder oder anderen Verwandten. In katholischen Ländern konnten die überzähligen Frauen in ein Kloster eintreten, und oft wurden sie dazu auch gezwungen. Viele erfüllten als Lehrerinnen eine wichtige Funktion für die Gesellschaft, genossen aber auch dann nicht viel Ansehen. Andere heirateten einen verwitweten Mann.

Wegen der kürzeren Lebenserwartung gab es in früheren Jahrhunderten zahlreiche Witwen und Witwer in einem Alter, in dem der Wunsch der Wiederverheiratung ganz natürlich ist. Studien in verschiedenen Ländern haben übereinstimmend gezeigt, dass die Zweit- oder Drittehe bei Männern weitaus häufiger war als bei Frauen. Im Jahr 1871 haben in Bologna 117 Witwer, aber nur 46 Witwen geheiratet[9]. Und in vier Bezirken von Glasgow haben im Jahr 1855 nur 150 Witwen, aber 281 Witwer geheiratet.[10]

Die Gründe dafür werden oft in der Ideologie des Patriarchats gesucht, in der allerdings einige (männliche) Demographen selber befangen sind. So wird etwa als Grund angegeben, dass das patriarchalische Rollenstereotyp den Witwer mit Kindern daran hinderte, die Funktionen der Mutter zu übernehmen. Ein Autor fügt noch das sexuelle Bedürfnis hinzu, das er anscheinend nur dem verwitweten Mann zubilligt: „Viele Zweitehen wurden von verwitweten Vätern von kleinen Kindern eingegangen, die nicht nur eine Geschlechtspartnerin brauchten, sondern auch eine Amme und Haushälterin.“[11] Aber war es nicht für eine Witwe in einer Zeit, in der es noch keine Witwenrente gab, sehr schwierig, für sich und ihre Kinder allein zu sorgen? Und warum soll eine Witwe von 30 Jahren keine sexuellen Bedürfnisse haben? Außerdem müsste ja auch erklärt werden, warum es immer genug junge Frauen gab, die einen Witwer geheiratet haben. Die Erklärung ist, dass das Bevölkerungswachstum und der große Altersunterschied zwischen Ehepartnern einen nuptialen Frauenüberschuss hervorgebracht haben.

Die Autoren der Studien in Bologna und Glasgow, die hier zitiert wurden, waren professionelle Demographen, und sie schrieben in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Umso erstaunlicher ist, dass schon August Bebel in der 50. Auflage seines Klassikers „Die Frau und der Sozialismus“ ähnliche Daten verwendet hat.[12] Im Kapitel „Die Chancen der Ehe“ befasst er sich mit dem Zahlenverhältnis der Geschlechter und beruft sich auf Daten der Volkszählungen im Deutschen Reich von 1890 und 1900. Dort heißt es: „Ein sehr starkes Missverhältnis der Geschlechter stellt sich unter den verwitweten und geschiedenen Personen heraus.“ Im Jahr 1900 gab es in der Tat fast viermal so viel verwitwete Frauen wie Männer. Dies kann zwar zum Teil durch die Unterschiede in Heiratsalter und Lebensdauer erklärt werden, aber diese Erklärung versagt, wenn man die Altersgruppen unter 40 herausgreift und außerdem die Anzahl der geschiedenen Männer und Frauen vergleicht. In diesen Altersgruppen von verwitweten bzw. geschiedenen Personen waren die Frauen mehr als dreimal so oft verwitwet bzw. doppelt so oft geschieden wie die Männer (Tabelle 2, Daten nach Bebel 1913, S. 161f.).

Tabelle 2: Zahl der verwitweten und geschiedenen Frauen und Männer im Alter bis 40 im Deutschen Reich (1900)

verwitwet

geschieden

Frauen

152 659

21 901

Männer

46 931

8 590

Hierzu bemerkt Bebel: „Diese Zahlen belehren uns, dass in erster Linie die verwitweten und geschiedenen Frauen von einer Wiederverheiratung ausgeschlossen sind, und zwar auch im heiratsfähigsten Alter.“[13] Bebel nennt aber nur die durch Arbeitsunfälle bedingte höhere Sterblichkeit der Männer als Ursache. Aber obwohl die Zahl der tödlichen Unfälle, die mehrheitlich Männer trafen, höher war als heute, kann das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern dadurch nicht restlos erklärt werden. Die entscheidende Ursache war nämlich in allen drei Staaten der Unterschied im Heiratsalter in Verbindung mit dem unaufhörlichen Wachstum der Bevölkerung.

Ein Teufelskreis

Kehren wir noch einmal zurück zu Effi Briest. Sie ist ihrer Freundin „zuvorgekommen“ und hat mit 17 Jahren geheiratet. Sie war keine Ausnahme. Für junge ledige Frauen ihresgleichen war das Leben im heiratsfähigen Alter ein Wettlauf zu dem Ziel, einen gutaussehenden Mann „von Stellung“ zu heiraten. Weil nun in wachsenden Bevölkerungen die Zahl der jungen Frauen größer ist als die Zahl der ledigen Männer „von Stellung“, können nicht alle dieses Ziel erreichen, und das wissen sie. Natürlich wissen sie es nicht aus Statistiken, aber jede hat eine Tante oder eine ältere Schwester oder Cousine, die „sitzengeblieben“ ist. Deshalb gibt es für sie „kein langes Besinnen“, wenn der erste Mann, der gut aussieht und materielle Sicherheit bietet, ihr einen Antrag macht. Der Wettbewerb zwischen den Frauen lässt also das Heiratsalter noch tiefer sinken als in einer Bevölkerung, die nicht wächst und deshalb keinen nuptialen Frauenüberschuss hat.

Das Heiratsalter der Frau hat in einer Bevölkerung, in der es keine Geburtenregelung gibt, in doppelter Weise Einfluss auf das Wachstum. Zum einen kann natürlich eine Frau, die früh heiratet und von guter Konstitution ist, viele eheliche Kinder gebären. Zum anderen wird durch niedriges Alter der Gebärenden die Generationszeit verkürzt, und auch dadurch wird das Wachstum beschleunigt. Da nun der nuptiale Frauenüberschuss zur Wachstumsrate und zur Differenz im Heiratsalter proportional ist, nimmt er zu, wenn die Bevölkerung wächst und das mittlere Heiratsalter der Frauen sinkt. Die Frauen tragen also durch ihre Entscheidung zur frühen Heirat selber dazu bei, den nuptialen Frauenüberschuss zu reproduzieren und noch zu vergrößern. Es ist ein Teufelskreis.[14] Je eifriger die jungen Frauen sich bemühen, durch frühe Heirat dem Schicksal der alten Jungfern zu entkommen, desto größer wird der nuptiale Frauenüberschuss in der nächsten Generation, und desto schärfer wird der Wettbewerb zwischen den Frauen.

Innerhalb der Rahmenbedingungen des traditionellen Patriarchats stand das Interesse der einzelnen Frau den Interessen der Frauen als Kollektiv entgegen. Die Suche nach dem individuellen Glück verleitete manche junge Frau dazu, früh zu heiraten und, wenn so etwas überhaupt möglich war, auf eine berufliche Karriere zu verzichten. Wenn sie dann viele Kinder hatte, trug sie bei zum Wachstum der Bevölkerung, mit der Folge, dass auch die nächste Generation von Frauen mit dem nuptialen Frauenüberschuss konfrontiert war. Deshalb riet sie, wie die Mutter von Effi, ihren Töchtern zu einer frühen Heirat.

Die demographische Analyse führt also zum gleichen Ergebnis wie die psychologische Argumentation von Frigga Haug. Bei ihr heißt es: „Die einzelnen Frauen finden selbstverständlich ... die gesellschaftlichen Verhältnisse ... zunächst fertig vor. Aber diese Strukturen existieren nur weiter, wenn sie von denen, die in ihnen leben, immer wieder hergestellt werden.“[15]

Die Aktualität des Themas

Das Thema dieses Aufsatzes betrifft die hiesigen Frauen nicht unmittelbar, weil hier das Phänomen des nuptialen Frauenüberschusses gleichzeitig mit dem Bevölkerungswachstum verschwunden ist. Aber es betrifft heute noch die Frauen in den Teilen der Welt, in denen die Bevölkerung immer noch wächst, zum Beispiel in Lateinamerika. Der demographische Ansatz kann teilweise erklären, warum die Suche nach einem Partner und die Angst vor Untreue oder Verlust des Partners das Verhalten der meisten Frauen in Lateinamerika immer noch prägt. Die These, dass der nuptiale Frauenüberschuss für die Frauenbewegung förderlich ist[16], kann zurückgewiesen werden, weil sie den historischen Tatsachen (s.o.) widerspricht.

Während es für die Zeit vor 1900 nur spärliche Daten gibt, an denen die oben skizzierte Theorie verifiziert werden kann, bieten heute die Demographischen Jahrbücher der Vereinten Nationen umfangreiches Datenmaterial aus fast allen Ländern der Erde. Daten, die sich auf das Heiratsverhalten beziehen, wurden zum letzten Mal in der Ausgabe für das Jahr 1990 publiziert.[17] Diese dient als Quelle für das Folgende. Wegen der höheren Lebenserwartung gibt es heute in vielen Ländern nur wenige Witwen und Witwer im Alter unter 50. Deshalb wird hier nur das Heiratsverhalten von geschiedenen Personen betrachtet. Dabei wird sich ein deutlicher Unterschied zeigen zwischen den Ländern in Europa, wo die Bevölkerung nicht mehr wächst oder sogar schrumpft, und den Ländern in Lateinamerika, wo sie immer noch wächst.

Tabelle 3: Gesetzliches Minimum des Heiratsalters und Anteile der Frauen und Männer, die mit weniger als 20 Jahren heiraten, in ausgewählten Ländern 1998

Tabelle siehe PDF !

Quelle: Demographic Yearbook of the United Nations 2000 (erschienen 2002), Table 24

Zunächst lässt sich erkennen, dass das höhere Heiratsalter der Männer auch heute in westlichen Ländern vorherrscht. Die Tabelle 3 enthält Daten aus 9 Ländern in Lateinamerika und Europa. Überall zeigt sich das gleiche Bild: die Heirat im Alter unter 20 ist bei den Frauen zwei- bis fünfmal so häufig wie bei den Männern. In vielen Ländern liegt zudem das gesetzliche Minimum des Heiratsalters für Frauen zwei oder drei Jahre tiefer als für Männer. Es fällt auf, dass die überwiegend katholischen Länder Brasilien, Chile, Ecuador und sogar Spanien 1998 die Heirat mit zwölf Jahren immer noch zuließen. Das zeigt an, dass in diesen Ländern auf Schul- und Berufsbildung der Mehrheit der Frauen wenig Wert gelegt wird.

Tabelle 4: Bevölkerung (in Mill.) in den Jahren 1981 und 1990 (bzw. 1989 für BRD) und Wachstumsrate in ausgewählten Ländern

Tabelle siehe PDF!

Wir können also davon ausgehen, dass der zweite Faktor in der obigen Formel, die Differenz im Heiratsalter, durchweg positiv ist. Jetzt fragen wir nach der Wachstumsrate w. Tabelle 4 zeigt den starken Zuwachs der Bevölkerung in einigen lateinamerikanischen Ländern in der Zeit von 1981 bis 1990, der sich deutlich abhebt von dem schwachen Wachstum in den europäischen Ländern. Deshalb ist der nuptiale Frauenüberschuss in Europa fast ganz verschwunden, aber nicht in Lateinamerika. Das ist daran erkennbar, dass die Chancen der Wiederverheiratung von Geschiedenen in Europa für beide Geschlechter gleich sind, während in Lateinamerika die geschiedenen Männer deutlich bessere Chancen haben. Das zeigen die Tabellen 5 und 6.

Tabelle 5: Zahl der Heiraten von geschiedenen Männern und geschiedenen Frauen (1988)

Tabelle siehe PDF !

In der Stichprobe für Lateinamerika sind Länder aus Mittelamerika, dem nördlichen Südamerika und der Andenregion sowie Länder mit sehr unterschiedlichem Entwicklungsstand vertreten. Aus Tabelle 5 ist ersichtlich, wie viele geschiedene Männer und geschiedene Frauen im Stichjahr 1988 geheiratet haben. Wenn man für jedes Land die zwei Zahlen ins Verhältnis setzt, dann sieht man, dass der Quotient in Chile und Venezuela deutlich größer ist als in der BRD und in Polen.

Tabelle 6 zeigt, wie stark die Zahl der geschiedenen Frauen im Alter von 35 bis 39 die Zahl der geschiedenen Männer in der gleichen Altersgruppe übertrifft. Auch hier wird sichtbar, dass geschiedene Frauen in schnell wachsenden Bevölkerungen viel schlechtere Chancen der Wiederverheiratung haben als geschiedene Männer. In Bolivien gab es mehr als dreimal und in Guatemala mehr als viermal so viel geschiedene Frauen wie Männer, während der Quotient in der BRD nur 1,24 und in der Tschechoslowakei nicht einmal 1,2 betrug. Dieser Sachverhalt kann nicht darauf zurückgeführt werden, dass die Frauen bei der Scheidung jünger sind, weil sie früher heiraten. Denn weil sie früher geschieden sind, könnten sie auch früher die zweite Ehe eingehen, was sie in Europa ja auch tun.

Tabelle 6: Zahl der geschiedenen und getrennt lebenden Personen im Alter von 35 bis 39 Jahren (1988)

Tabelle siehe PDF !

Die hier vorgelegte Analyse von demographischen Daten hat gezeigt, dass die alte christliche Fortpflanzungsmoral, wie sie noch heute vom Vatikan verteidigt wird, an einem tiefen inneren Widerspruch leidet. Die Forderung an die verheirateten Paare, entweder enthaltsam zu sein oder dem natürlichen Lauf der Dinge stattzugeben, hat in der Praxis ein andauerndes Wachstum der Bevölkerung zur Folge. Das führt zu dem hier beschriebenen Phänomen, dass der Heiratswunsch für viele Frauen nie in Erfüllung geht, und dass Frauen mit Kindern oft von ihren Männern verlassen werden, weil diese eine ledige, noch jüngere Partnerin gefunden haben. Die Spitze der katholischen Kirche, die immer noch am Verbot der Geburtenkontrolle festhält, meint zwar, mit dieser Politik die Werte der Mutterschaft und der Familie zu verteidigen, aber in Wirklichkeit ist sie mit dafür verantwortlich, dass in Lateinamerika Millionen von alleinstehenden Müttern unter schwierigsten Bedingungen Kinder aufziehen müssen, deren Vater mit einer jüngeren Frau das Weite gesucht hat.

[1] Frigga Haug, „Opfer oder Täter? – Über das Verhalten von Frauen“, in: Das Argument 123, S. 643-649 (1980).

[2] Gabriel Garcia Marquez, Die Liebe in den Zeiten der Cholera (aus d. Span.), Köln 1987, S. 381.

[3] Cécile Dauphin, Alleinstehende Frauen, in: Georges Duby und Michelle Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen (aus d. Franz.), Frankfurt/New York 1991, Band 4.

[4] M. Guttentag und P. Secord, Too Many Women? The Sex Ratio Question, Beverly Hills/London/New Delhi 1983.

[5] Herwig Birg (Hg.), Ursprünge der Demographie in Deutschland. Leben und Werk Johann Peter Süssmilchs, Frankfurt/New York 1986.

[6] United Nations, Demographic Yearbook 1980, New York 1982.

[7] Donald S. Akers, On measuring the marriage squeeze, in: Demography 4, 907-924 (1967).

[8] Helmut Knolle, Papagenos Wunsch und die Mathematik, in: Elemente der Mathematik 72 (2017), S. 122-125. Die exakte Formel, die dort abgeleitet wird, lautet: F+ = exp[w (hm - hf )] - 1. Es wird Gleichheit der Geburten- und Sterberaten vorausgesetzt, also das Verhältnis 1:1 zwischen den Geschlechtern auf allen Altersstufen.

[9] Andrea Schiaffino, Quelques donnés sur le remarriage dans un milieu urbain: Bologne aux 19ième et 20ième siècles, in: J. Dupaquier, E. Hélin, P. Laslett, M. Livi-Bacci, S. Sogner (eds.), Marriage and Remarriage in Populations of the Past, London u.a. 1981.

[10] Michael Drake, The remarriage market in mid-nineteenth century Britain, in: J. Dupaquier et al., a.a.O., S. 287-296.

[11] Carlo Corsini, Why is remarriage a male affair? In: J. Dupaquier et al., a.a.O., S. 385.

[12] August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Stuttgart 1913 (50. A.), S. 161-162.

[13] Bebel, a.a.O., S. 216 f.

[14] In der Sprache der Kybernetik ausgedrückt, handelt es sich um einen Regelkreis mit positiver Rückkopplung.

[15] Haug, a.a.O., S. 646.

[16] David M. Heer and Amyra Grossbard-Shechtman, The impact of the female marriage squeeze and the contraceptive revolution on sex roles and the women’s liberation movement in the United States, 1960 to 1975, in: Journal of Marriage and The Family, February 1981, S. 49-65.

[17] Demographic Yearbook of the United Nations 1990 (erschienen 1992). Aus dem umfangreichen Band werden hier die folgenden Tabellen verwendet: Table 31, Marriages cross-classified by previous marital status; Table 41, Population by age, gender and marital status.