Editorial

Juni 2017

Aktuell spielen – nicht zuletzt im Vorfeld der Bundestagswahlen und der vielfältigen Versuche, das Feld der „sozialen Gerechtigkeit“ zu besetzen – Fragen der Frauendiskriminierung durch den alltäglichen Kapitalismus eine prominente Rolle. Es geht um „Gender pay gap“, Teilzeitfalle, Benachteiligung bei Renten, die Verbesserung der öffentlichen Kinderbetreuung, also Konflikte zwischen Lohnarbeit, Kapital und Staat im Zusammenhang mit der sich ausweitenden Frauenerwerbstätigkeit. Bereiche mit hoher Frauenbeschäftigung sind in den letzten Jahren zu Brennpunkten gewerkschaftlicher und betrieblicher Auseinandersetzungen geworden. Zu erinnern ist an die Arbeitskämpfe 2015 im Bereich der Sozial- und Erziehungsdienste oder 2016 im Krankenhausbereich. „Feminisierung der Lohnarbeit“ ist Schwerpunkt dieses Heftes.

Christa Wichterich untersucht die Widerspruchskonstellationen in den „Womenomics“, der kapitalistischen Verwertung weiblicher Arbeitskraft im globalen Maßstab. Zuwächse an Erwerbsbeteiligung in manchen Weltregionen werden konterkariert durch Rückgänge in anderen, die angebliche „Frauenfreundlichkeit des neoliberalen Kapitalismus“ geht mit einer Deregulierung von Beschäftigungsverhältnissen einher. Die Ausbeutung von Frauen ist das Geschäftsmodell bei der Kommerzialisierung von „Sorge-Arbeit“ im internationalen Erziehungs- und Pflegesektor. Die „paradoxe Integration“ von Frauen in die Erwerbsmärkte, so Wichterich, verstärkt die „Widersprüche in den ökonomischen und Geschlechterverhältnissen“. Dass und wie Erwerbsarbeit von Frauen im Kapitalismus stets geprägt ist von Lohndiskriminierung und damit zusammenhängenden weiteren wirtschaftlich-sozialen Diskriminierungen erläutert Ursula Schumm-Garling mit Bezug auf die Wirklichkeit der Bundesrepublik. Frauen sind in wachsendem Maße berufstätig, erleben Erwerbsarbeit aber als Teilzeitfalle, die direkt in die Altersarmut münden kann. Die Ablösung der Alleinernährer-Familie seit den 1970er Jahren hat für die allermeisten Frauen keine eigenständige ökonomische Existenzsicherung ermöglicht, sondern zu einem Zweiverdiener-Modell mit zählebigen Einschränkungen, Brüchen und Konfliktfeldern geführt. Nelli Tügel behandelt soziale Protestbewegungen und Streiks in frauendominierten Berufsfeldern am Beispiel der von ver.di initiierten Krankenhausstreiks der letzten Jahre. Auslöser ist hier die Verquickung von Lohndiskriminierung und extrem belastenden Arbeitsbedingungen, verbunden mit neuen partizipativen Organisationsformen im Dienstleistungsbereich, hier vor allem in den Gesundheits- und Sozialberufen mit hohem Frauenanteil. André Leisewitz geht historischen Trends der Feminisierung der Lohnarbeit und ihren Widersprüchen nach. These ist, dass die auch heute gegebene Grundstruktur der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung und Diskriminierung der Frauen sich im Übergang von vorkapitalistischen Formen der Arbeit zur kapitalistischen Lohnarbeit herausbildet. Eine Übersicht über Entwicklungstrends der weiblichen Erwerbs- und Lohnarbeit seit Anfang des 19. Jahrhunderts zeigt ein Stagnieren der weiblichen Erwerbsquote bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts; seit den siebziger Jahren steigt sie, vornehmlich als Teilzeitarbeit. Die Gründe für die lange Stagnation und den Anstieg in den letzten 40 Jahren werden diskutiert.

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Postkapitalismus: Werner Goldschmidt befasst sich im vierten Teil seines Berichts über aktuelle kapitalismuskritische Literatur mit Beiträgen zur Transformationsfrage, die vor allem im Umfeld der Rosa-Luxemburg-Stiftung entstanden sind. Deren Stärke wird u.a. in ihrem Potential gesehen, die unterschiedlichen progressiven Kräfte zu vereinen. Allerdings werde die „Hegemoniefähigkeit“ der herrschenden Klassen unterschätzt. Ergänzt wird diese kritische Sichtung der Transformationsliteratur durch Bezüge auf hierzulande wenig bekannte US-amerikanische Autoren des „soziologischen Marxismus“, für die die Entwicklung von Kapitalismus und Marxismus eng verbunden ist. Der Autor kündigt einen Schlussteil dieser Serie für Z 111 an.

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1917 – 2017: Die Rezeption der Oktoberrevolution durch Antonio Gramsci ist Thema von Sabine Kebir. Gramsci begreift den Oktober auch als antikoloniale Revolution, die nicht nur das vom Westen abhängige Russland, sondern das gesamte imperialistische Weltsystem betriff. Mit dem Aufstieg des Faschismus, den sich daraus ergebenden Fragen antifaschistischer Bündnispolitik und dem Ausbleiben der Revolution im Westen konfrontiert, analysiert Gramsci die unterschiedlichen Bedingungen revolutionärer Politik im Westen und im Osten. Er macht sie vor allem an der unterschiedlichen Ausprägung von Staat und Zivilgesellschaft fest. Wladislaw Hedeler analysiert, ausgehend von Manfred Kossoks Konzept der „peripheren Revolution“, den Verlauf der russischen Revolution des Jahres 1917 und stellt fest, dass für die Akteure selbst der Sturz des Zarismus im Februar, nicht der Oktober, der wichtigste Einschnitt gewesen sei. Auch wenn es der russischen Revolution nicht gelang, eine Weltrevolution auszulösen, so habe sie aber doch die nachholende Entwicklung im peripher-kapitalistischen Umfeld entscheidend stimuliert und insofern durchaus als „Leitrevolution“ gewirkt.

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Marx-Engels-Forschung: Den gegenwärtigen Tendenzen einer Enthistorisierung des Marxismus hält Georg Fülberth in seinem Beitrag über „Engels, Revolution und Krieg“ dessen Genese im Kontext von Industrieller Revolution, politischer Revolution und Kriegserfahrung entgegen. Fülberth behandelt Engels‘ sich im Laufe der Jahre verändernde Bewertung und Analyse der modernen Kriege. Mit Blick auf das 19. Jahrhundert sei für ihn Krieg noch als Motor der Revolution denkbar gewesen. Der späte Engels habe – die Schrecken des ersten Weltkrieges antizipierend – die soziale Revolution als Notwendigkeit verstanden, um dem Krieg als „schrecklichster aller Möglichkeiten“ zuvorzukommen.

Raoul Pecks Film „Der junge Marx“ setzt die biographische und theoretische Entwicklung von Marx und Engels in den 1840er Jahren in Szene. Für den historisch und theoretisch interessierten Zuschauer nimmt Winfried Schwarz eine hilfreiche Einordnung von Schlüsselszenen des Films vor. Neben die Skizze der jeweiligen Szene stellt er den biographisch/historischen Hintergrund von Personen, Handlungsorten und Organisationen und erläutert den Zusammenhang von Theorie- Entwicklung und im Film gezeigten politischen Auseinandersetzungen.

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Weitere Beiträge: Die halbjährliche Berichterstattung zu Streiks und Arbeitskonflikten in der Bundesrepublik auf der Grundlage des an der Universität Jena angesiedelten „Streikmonitor“ hat in Z inzwischen einen festen Platz. Das methodisch Verfahren war vor einem Jahr in Z 106 vorgestellt worden, der erste Halbjahresbericht erschien in Z 108. Im vorliegenden Heft geben Lea Schneidemesser, Jannik Widon und Juri Kilroy eine Übersicht zu den Arbeitskonflikten 2016. Gegenüber dem streikintensiven Jahr 2015 ist die Zahl der Streiks 2016 auf etwa ein Viertel zurückgegangen bei etwa gleich großer Zahl an Streikbeteiligten. „Ähnlich wie in den Jahren 2008, 2012 und 2013 verteilt sich eine große Zahl von Beteiligten auf viele Konflikte mit kurzer Dauer.“ Die Konflikte werden nach Organisationsbereichen, Themen, Regionen und Branchen analysiert. Die AutorInnen stellen fest, dass gerade in Sektoren, in denen der Staat sich zurückgezogen hat (u.a. Deutsche Bahn, Lufthansa), durch die Privatisierung neue Konfliktpotenziale aufgebaut wurden, die zu Arbeitskämpfen geführt haben.

Gisela Notz stellt das Familienbild der AfD in die Tradition rechter, konservativer und reaktionärer Vorstellungen zur Familie und zur Rolle der Frau in der Familie. Demographie und Geschlechterhierarchien sind zentrale Themen der AfD; sie befeuert damit einen konservativen Kulturkampf, der viel zu selten ins Zentrum der Auseinandersetzung mit ihr gestellt werde.

Ralf Krämer geht auf Christian Fuchs‘ Kritik am Buch von Paul Mason in Z 107 ein. Während er – mit Fuchs – betont, dass auch in der „Informationsökonomie“ die Arbeit und deren Ausbeutung grundlegendes Merkmal des Kapitalismus bleiben, wendet er sich gegen den Begriff der „Prosumtion“, in dem Konsum und produktive Arbeit verschmelzen. Es sei scharf zu unterscheiden zwischen warenproduzierender Arbeit einerseits und dem Konsum von Waren andererseits. Die beim digitalen Konsum entstehenden Daten erhielten erst dann eine Warenform, wenn diese von großen Unternehmen (unter erheblichem Arbeitsaufwand) aufbereitet und genutzt würden. Die Verwertung dieser Daten wird als Hauptprofitquelle des Internetkapitals i.S. einer Informationsrente interpretiert.

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Neun Autoren haben Berichte zu Tagungen der Linken beigesteuert. Sie betreffen historische Themen (Spaltung der deutschen Sozialdemokratie, Russische Revolution), Prekarisierung, kriminelles Kapital, marxistische Philosophen, 150 Jahre Das Kapital. Geschichte der Linken, Ökonomie, Herrschende Klasse, Aspekte der Ideologie u.a.m. sind Themen der Buchbesprechungen.

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Z 111 (September 2017) wird als Schwerpunktthema „150 Jahre Das Kapital und die Gegenwart“ behandeln.