Gramsci und die Revolution

von André Tosel
März 2017

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Aktualität Gramscis

Die Diktatur des Finanzkapitalismus und die Verwandlung der Welt in eine Welt ganz neuer Formen von Gewalt sowie permanenter und struktureller Kriege können nicht das historische Desaster verbergen, das in der Hegemonie des Neoliberalismus liegt – der organischen Ideologie des Neokapitalismus. Diese Hegemonie des Neoliberalismus kann nicht als ewig gelten – selbst wenn sie auch noch so kraftvoll dominiert, die Sprache der Medien und der herrschenden Politik bleibt und über kolossale Möglichkeiten der Verbreitung verfügt. Und selbst dann nicht, wenn Foucault jubelnd darlegen konnte, dass sie ihre Kraft aus der theoretischen Unfähigkeit ihrer Gegner zog, die mehr oder weniger zu ihren Unterstützern wurden. Der Neoliberalismus steckt in allen Bereichen des Bewusstseins in der Krise und seine Politik bringt immer deutlichere Oppositionsbewegungen hervor. Überall verbreitet sich das Gefühl, dass diese Welt unannehmbar geworden ist, nicht zu rechtfertigen, nicht bewohnbar, unerträglich – und das vor allem für die, die Gramsci die Subalternen nannte und die immer zahlreicher werden. Überall verstärkt sich das lebendige Gefühl und die vernünftige Überzeugung, dass wir etwas leben und austesten, was Gramsci ein Interregnum nannte zwischen einem Alten, das nicht sterben kann, und einem Neuen, das sich nicht durchsetzen und einen historischen Block bilden kann.

Gramscis Stunde schlägt mit den Fragen, die sich heute aufdrängen: Welches radikale Projekt der revolutionären Umgestaltungen ist noch konzipierbar, wenn nicht das des breiten Klassenkampfs für die Hegemonie der Subalternen, der Mehrheiten, die in der Periode der vom Kapital durchgesetzten weltweiten passiven Revolution verstreut und gespalten wurden? Die führenden und herrschenden Kräfte sind buchstäblich zu allen Formen von Gewalt bereit – Kriege, Repressionen, Herstellung von Ungleichheiten jeder Art, Neofaschismus, Zerstörung ganzer Bereiche zivilisatorischer Errungenschaften, Korruption kosmischen Ausmaßes, unerhörte Finanz-Crashs – um eine Hegemonie aufrecht zu erhalten, was im Grunde schwierig für sie geworden ist, weil sie nicht mehr die integrierenden Kräfte wie ehemals besitzen, sondern weil sie im Gegenteil monströse Maschinen der menschlichen Desintegration geworden sind. Dieses Projekt wird neu formuliert werden müssen – auf dem Niveau der neuartigen Probleme, die unsere historische Situation kennzeichnen und die über das Feld der Philosophie der Praxis hinausgehen wie z.B. die ökologische Frage oder das Problem der Lenkung der biopolitischen Formbarkeit. Wenn Gramsci alles andere als ein Denker ist, von dem man Wunder erwarten kann – die Erneuerung der menschlichen Emanzipationsbewegung bedarf der kritischen Aneignung der reichen, noch in den Gefängnisheften steckenden Erkenntnisse.

Gramsci als politischer Intellektueller – die Jahre 1913-1926

Die Verfolgung von Gramscis Laufbahn und die Lektüre der sehr zahlreichen Artikel von 1913 bis 1926, die er im Laufe seines kämpferischen Lebens vor der Gefängniszeit schrieb, kann seine französischen (und sogar die italienischen) Leser irritieren. Glühender sozialistischer Journalist, Theoretiker und Aktivist der Turiner Fabrikräte, wird er zum eigenständigen leninistischen Führer der jungen Kommunistischen Partei Italiens, indem er eine besondere Form des intellektuellen Kämpfers hervorbringt, die Marx und Jaurès näher steht als die französischen politischen Führer und auch die kommunistischen Intellektuellen der Jahre nach 1945. Dieses Bild intellektueller Figuren [die Gramsci in sich vereint – S. K.] müssen wir skizzieren, bevor wir die Gefängnishefte interpretieren.

Man kann diese Originalität festmachen, indem man eine kurze Analyse der Schriften dieser vielschichtigen Periode skizziert, die mit der Verhaftung 1926 und der Einkerkerung ein gewaltsames Ende nimmt. Gramsci repräsentiert hier die Figur eines kämpferischen Intellektuellen, der die Beziehungen zwischen der Politik, der Kultur und der politisch-theoretischen Analyse ständig komplexer ausarbeitet. So bringt er drei aufeinander folgende und ineinander verschachtelte Figuren des Intellektuellen auf den neuesten Stand. Zunächst wird er ein journalistisch arbeitender Intellektueller, ein Kämpfer für Sozialismus und Kultur, Fürsprecher eines konsequenten Sozialismus, den er als politische Revolution und umfassende kulturelle Reform versteht (1914-1919). Nach dem Schock und seiner Anerkennung der bolschewistischen Revolution wird er schließlich zum direkten politischen Akteur während der fruchtbaren Erfahrung der Turiner Arbeiterräte und 1919-1921 zum organischen Intellektuellen der revolutionären Bewegung. Er leitet die junge kommunistische Partei bei der sehr schwierigen Suche nach einer Theorie und einer Strategie der revolutionären Transition angesichts des siegenden Faschismus – das alles, ohne die Verbindung zum Leninismus aufzugeben (1922-1924). Schließlich nimmt er auch die Funktion des führenden Intellektuellen ein, des Politikers im eigentlichen Sinne, nämlich als Generalsekretär der KP Italiens: Er führt den antifaschistischen Kampf mit der Internationale und in ständigem Bezug zur Erfahrung der Sowjetunion, die sich gezwungen sieht, den Sozialismus in einem Land aufzubauen, sich unüberwindbaren Spaltungen gegenüber sieht und komplexe Umorientierungen bewältigen muss (1924-1926). Es ist kein Zufall, wenn der erste theoretische Essay Gramscis, den er auch als solchen ausarbeitete, der Frage des Südens gewidmet ist: Die süditalienische Frage[1] (1926 geschrieben, unvollendet, 1930 publiziert) und wenn er dort die entscheidende Rolle der Intellektuellen hervorhebt, womit er bereits beim Thema der Hegemonie ist. Diese aufschlussreiche Dreiteilung von Gramscis Wirken verdanken wir Marina Paladini Musitelli[2].

In jedem dieser Abschnitte, die wir aus Gründen der Klarheit unterscheiden, ist Gramsci also ein auf höherer Stufe reflektierender Intellektueller, der strategisch nachdenkt über die Funktion des Intellektuellen in der Kultur und in politischen Kämpfen während einer vorgefundenen und in Bewegung befindlichen historischen Konjunktur, die transformiert werden muss mit dem Ziel, Akteur der Massen der Arbeiter und Bauern zu werden, wobei sich gleichzeitig die Funktion des Intellektuellen verändert. (…)

Der Schock der bolschewistischen Revolution und die Revolution gegen das Kapital (1917/1918)

Die in der sozialistischen Kultur vorauszusetzende aktive Kritik des aktuellen Zustands der Gesellschaft nimmt sich der Ereignisse an, die sich gegen Ende des Jahres 1917 überschlagen: im August Hungerrevolten in Turin, italienische Niederlage im Desaster von Caporetto[3], Krise des liberalen Staats und besonders die Explosion der Oktoberrevolution und die Bildung von Sowjets. In dieser Zeit ist Gramsci kein politischer Akteur im eigentlichen Sinne; er unterstützt den unnachgiebigen revolutionären Flügel des Partito Socialista Italiano (PSI) und setzt seine journalistische Arbeit fort. Aber er wird Sekretär der provisorischen Exekutivkommission der Turiner Sektion und faktisch Leiter des Grido del Popolo. In dieser doppelten Funktion nimmt er an der illegalen Versammlung der extremen Linken des PSI in Florenz teil, die er in eine Partei „der revolutionären Unnachgiebigkeit“ umwandeln will und auf dieser Basis tritt er in Kontakt mit Amadeo Bordiga, einem jungen sozialistischen Führer aus Neapel, mit dem er die Gegnerschaft zum Krieg teilt. Er begreift, dass die drei schrecklichen Kriegsjahre eine Reifung des Klassenbewusstseins beschleunigen und dass der Moment naht, in dem sich immense Bedürfnisse des Volkes Bahn brechen und den Sozialismus herausfordern werden – davon fühlt er sich in die Pflicht genommen. Die Revolution von 1917 ist der Ausdruck dieser Reifung und dieser Herausforderung, der sich die Bolschewiken stellen wollten und es auch vermochten.

Also begrüßt Gramsci die Revolution in dem berühmten, im Avanti publizierten Text Die Revolution gegen das ‚Kapital’ (24. November 1917). Er setzt noch eins drauf: Die Bolschewiki haben gehandelt, ohne sich an die Gesetze des historischen Materialismus zu halten, wie sie die trägen Sozialisten verstehen, die erwarten, dass der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen aufbricht und das Ereignis hervorbringt, das das Ende der kapitalistischen Produktionsweise einleitet und die objektive Theorie bestätigt, wonach eine Produktionsweise auf die andere folgt. Diese Vorstellung der historischen Notwendigkeit, die der Aufeinanderfolge von Produktionsweisen eigen ist, findet sich jedoch auch bei Marx, namentlich im kanonischen Text des Vorworts von Zur Kritik der politischen Ökonomie von 1859. Gramsci verurteilt die „positivistischen und naturalistischen Verkrustungen“, die dieser zu einfachen Theorie über die Beziehungen zwischen der ökonomischen Basis (als das Wesentliche) und den politisch-juristischen und ideologischen Überbauten (als abgeleitete Phänomene) entspringen. Um die Zeichen der Zeit zu erkennen, ist die Theorie im Jahr 1917 gezwungen, die Beziehung zwischen Basis und Überbauten neu zu definieren, indem die Funktion der Überbauten bei der Herausbildung der subjektiven kollektiven Willensbildung neu bestimmt wird. In den Gefängnisheften kommt Gramsci oft auf diesen Text und dieses Problem zurück. Er wird dazu gelangen, diesen Zusammenhang zu verwerfen und ihn durch die Theorie des historischen Blocks und der Kräfteverhältnisse zu ersetzen. Es ist seine Beziehung zum Idealismus, die die Kritik an dieser Konzeption des historischen Materialismus ermöglicht wie auch die Neubegründung der Theorie der gesellschaftlichen Objektivität in Begriffen des Handelns, der Aktualisierung und der Realisierung – womit er den subjektiven Idealismus hinter sich lässt.

„Die Revolution der Bolschewiken […] ist die Revolution gegen das Kapital von Karl Marx. Das Kapital von Marx war in Rußland ein Buch des Bourgeois, weniger ein Buch der Proletarier. Es war die kritische Demonstration der schicksalhaften Notwendigkeit, daß sich in Rußland eine Bourgeoisie entwickeln würde, daß eine kapitalistische Ära beginnen, eine Zivilisation westlichen Typs entstehen würde, bevor das Proletariat überhaupt an seine Erhebung, an seine Forderungen als Klasse, seine Revolution denken könne. Die Tatsachen haben die Ideologien überwunden. Die Tatsachen haben die kritischen Schemata zersprengt, innerhalb derer die Geschichte Rußlands nach den Kanons des Historischen Materialismus hätte ablaufen müssen. Die Bolschewiken verleugnen Karl Marx; sie behaupten mit dem Beweis der expliziten Aktion, dass die Kanons des Historischen Materialismus nicht so ehern sind, wie man denken könnte und gedacht hat.“[4]

Diese explizite Diskrepanz zum „marxistischen“ historischen Materialismus ist deutlich. Die These von der historischen Notwendigkeit und ihrer Epochen ist ein schwaches Element im Denken von Marx, das jedoch Elemente der Selbstkritik enthält. Nun, es ist der Idealismus der hier das Erbe des nichtmarxistischen Marx antritt und die unerlässliche Neudefinition ermöglicht. Paradoxerweise kommt das nicht von Labriola – der später herangezogen wird – sondern vom italienischen Idealismus, besonders von Gentile, der von der Praxis als Handeln spricht. Die Bolschewiki verleugnen die deterministischen und dogmatisch-teleologischen Schemen des Kapitals, d. h. den Fatalismus, der eine in obligatorische Etappen eingeteilte Philosophie der Geschichte blieb. Aber sie leugnen „doch nicht sein [Marxens – S. K.] immanentes, belebendes Denken. Sie sind eben keine Marxisten, das ist alles; sie haben aus dem Werk des Meisters keine oberflächliche Lehre aus dogmatischen und undiskutierbaren Behauptungen errichtet. Sie leben das marxistische Denken, ein Denken, das nie stirbt, das die Fortführung des italienischen und deutschen idealistischen Denkens ist und sich bei Marx mit positivistischen und idealistischen Verkrustungen überzogen hatte. Und dieses Denken setzt als Hauptfaktor der Geschichte nicht die kruden, ökonomischen Tatsachen, sondern den Menschen, die Gesellschaft der Menschen; der Menschen, die sich einander nähern, sich untereinander verstehen, durch diese Kontakte (Zivilisation) einen gesellschaftlichen, kollektiven Willen entwickeln und die ökonomischen Tatsachen verstehen, sie beurteilen und sie ihrem Willen anpassen, bis daß dieser Wille zur Antriebskraft der Ökonomie wird und die objektive Wirklichkeit formt, die lebt, sich bewegt und den Charakter einer hochsteigenden tellurischen Materie annimmt, die kanalisiert werden kann, wohin und wie es dem Willen gefällt.“[5]

So wird gesagt, dass die sich vollziehende geschichtliche Entwicklung nicht vorhersehbar ist, außer in Form schematischer Hypothesen, und dass man mit der Spezifik der Konjunkturen rechnen muss, in denen sich unter bestimmten Bedingungen kollektive Willen formen, die entweder aus relativ stabilen Herrschaftsbeziehungen entstehen oder aus einer Widerstandsbewegung, die diese Beziehungen verschiebt und umwirft. Es ist die Kategorie des dramatischen Handelns, die hier operativ wird. Der Krieg wird zum Drama für Russland: das Kriegsgeschehen ist nicht vorhersehbar. Mit den furchtbaren Leiden, die den Massen auferlegt werden, hat er sie zusammengeschweißt, zunächst auf mechanische Art und Weise. Und die durch gemeinsames Schicksal einander nahe gekommenen Einzelwillen sind dann auf die „sozialistische Verkündigung“ getroffen, die die erlebten Erfahrungen kommunizier- und einsehbar gemacht hat. Unter dem Einfluss dieser Verkündigung haben sich diese Erfahrungen für einen Moment in Willenshandlungen transformiert. „Die sozialistische Verkündigung hat das russische Volk mit den Erfahrungen der anderen Proletariate in Berührung gebracht. Die sozialistische Verkündigung lässt die Geschichte des Proletariats in einem Augenblick dramatisch erstehen, seine Kämpfe gegen den Kapitalismus, die lange Kette von Anstrengungen, sich ideell aus den Banden eines erniedrigenden Servilismus zu emanzipieren, zu einem neuen Bewußtsein zu kommen, gegenwärtiger Zeuge einer kommenden Welt. Die sozialistische Verkündigung hat dem russischen Volk einen gesellschaftlichen Willen gegeben.“[6] Man versteht also, worin das Verdienst des Idealismus besteht: Er hat die Meta-Kategorie zur Unterstützung des Handelns geschaffen. Das entstammt dem Register des Aktualismus, der es erlaubt, die Aktualisierung der sich entwickelnden Geschichte zu verstehen und das ist gut und gerne die Terminologie von Gentile.[7]

Ein Text vom 9. Februar 1918 präzisiert das: „Die authentische Doktrin von Marx“ lautet, dass der Mensch und die Realität, das Arbeitsinstrument und der Wille, nicht voneinander zu trennen sind, sondern sich im historischen Handeln identifizieren: „Die Kanons des historischen Materialismus dienen nur dazu, post festum die Ereignisse der Vergangenheit zu verstehen und daraus Lehren zu ziehen, sie dürfen nicht zu einer Hypothek auf die Gegenwart und Zukunft werden.“[8] Gentile ist für Gramsci „der italienische Philosoph, der das Denken in den letzten Jahren am meisten vorangebracht hat“ und er ist einer der bedeutendsten Interpreten von Marx.[9] Aber es wäre ein Irrtum, Gramsci von daher zu einem idealistischen Philosophen zu machen und das aus zwei Gründen. Zum einen ist das historische Handeln jedes Mal in der Analyse der für die in Gang gesetzte Umwälzung Handelnden darzulegen und zu definieren und darf nicht als allgemeine, von den dabei umgesetzten Konzepten losgelöste Kategorie abstrakt bestätigt werden. Zum anderen ist die offene Vielfalt der Handlungen zu beachten, die in ihrer Bewegung wahrgenommen werden muss, als Handlungen des großen Dramas, in dem sich viele Willen vereinigen, um an einer künftigen Realität zu arbeiten. Diese Realität wird zum „biologisch notwendigen“ spontanen Ausdruck, damit der russischen Menschheit nicht der schlimmste Verfall droht, damit sie sich konkret konzentriert auf die Regeneration ihres tätigen Glaubens an ihre historische Bestimmung, was ein Stimulus bewussten Handelns ist. Gentile spezifiziert nicht die Kette der Handlungen in ihrer Konkretheit, wodurch sie erst zu Handlungen des Dramas aus der Perspektive der tätigen Willen werden. Der aktualistische Idealismus hat den theoretischen Fehler zu „rein“ zu sein, weil er das Handeln an sich in seiner logischen Struktur verherrlicht; aber er ignoriert die Mühe, bestimmte Handlungen des komplexen historischen Dramas zu definieren, die immer von den miteinander kämpfenden Kräften abhängen, deren wirkungsmächtigste durch das Zusammentreffen bestimmter Bedingungen mit ihren Willen das herstellen müssen, was sich als Notwendigkeit ereignen und real werden wird. (…)

Moskau und die Lektion Lenins (1922/1923)

[1921 – S. K.] ist die Periode der Offensive der Arbeiterklasse beendet und es muss eine alternative Taktik [für die eben gegründete KPI] gefunden werden zur sektiererischen Verteidigung, die sich allein auf die Kritik des Versagens der Sozialisten gründet, worauf sich die Parteiführung unter Bordiga versteift hatte. Das von Sinowjew geleitete Exekutivkomitee der Internationale, das die in Livorno vollzogene Spaltung verteidigt hatte, nimmt die Niederlage zur Kenntnis, die das biennio rosso, die zwei roten Jahre, beendeten. Es schlägt eine strategische Wende vor und arbeitet Thesen für eine „Arbeitereinheitsfront“ aus, die die gespaltenen Teile der Arbeiterbewegung wieder vereinen und der faschistischen Welle, die Europa durchbrandet, Widerstand leisten soll. Der II. Parteitag der KP Italiens findet zwischen dem 20. und 24. März 1922 in Rom statt. Auf Betreiben Bordigas lehnt er mit sehr großer Mehrheit die Einheitsfront ab und votiert für entgegengesetzte Thesen einer proletarischen Offensive. Zugleich wird entschieden, dass Gramsci, der die Thesen von Rom ablehnt, die Partei in Moskau repräsentieren soll, im Exekutivkomitee der 3. Internationale. (…)

Der Kontakt mit der sowjetischen Realität und die Lektion Lenins war entscheidend für die Transformation des politischen Intellektuellen in den Parteiführer während dieser wenigen Jahre, in denen Gramsci die Bildung der neuen Führungsgruppe der KPI vorantrieb. Es ist die strategische Frage der Linie der Einheitsfront, mit der Gramsci zum politischen Intellektuellen wird, der durch die Macht der Ereignisse zum Führer wird. Vor Ort, in der Hauptstadt der Revolution, entdeckt er die enorme Komplexität jeden revolutionären Prozesses und das unhintergehbare Band, das die nationalen Perspektiven mit der Veränderung der internationalen Situation verbindet.

Zum einen muss die UdSSR aus dem Kriegskommunismus heraustreten und einen Produktionsapparat errichten, wozu sie den aktiven Konsens der Arbeiter braucht, der jedoch zu erweitern ist durch den der Bauern, die die Mehrheit der Bevölkerung bilden. Jetzt ist es nicht mehr die den Staatsapparat erobernde Revolution, die auf der Tagesordnung steht, sondern die völlig neuartige Errichtung der revolutionären Macht in einem riesigen Land, dessen Staat, der durch die permanente Feindschaft der kapitalistischen Staaten gefährdet ist, die Produktion wieder in Gang bringen muss, indem er den aktiven Konsens der Arbeiter herstellt, indem er ihn auf die Bauernmassen ausdehnt, und indem er sogar Kompromisse mit den bürgerlichen Schichten von kompetenten spezialisierten Intellektuellen eingeht. Hier stellt sich das Problem der Diktatur des Proletariats, ihres Inhalts und ihrer Formen. Es definiert sich durch die Dringlichkeit, mit der eine zweifache strukturelle Gefahr gebannt werden muss: zum einen die Verselbständigung des Staatsapparats mit seiner Bürokratie und seinem Rückgriff auf polizeiliche Gewalt, zum anderen der Vertrauensverlust der Massen, deren Kreativität in der Produktion nicht mehr durch das Prinzip der Sowjets herausgefordert wird, was sie in der Konsequenz auf Positionen des Anarchismus und der Rebellion führt (Aufstand von Kronstadt). Die wachsende Feindschaft des Kleinbürgertums gegenüber der von der proletarischen Führung eingeschlagenen Politik macht es nötig, die Schlagworte und die Methoden des „Frontalangriffs“ aufzugeben, womit man Hoffnungen geweckt hatte, die sich als Illusionen erwiesen. Man muss einen Rückzug organisieren, um eine „neue Offensive“ vorzubereiten, die auf einer wieder in Gang gekommenen Produktion und einen erweiterten Konsens gründet. Die Politik der inneren Einheitsfront der Kräfte, die die Transformation ansteuern, wird notwendig und nimmt die Form der der Neuen Ökonomischen Politik an, die Lenin 1921 einführt; 1923 stirbt er. Das Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern muss zum Kern des Zusammenschlusses aller Kräfte werden, die vom kapitalistischen System unterdrückt wurden.

Zum anderen muss man – auf der internationalen Ebene – die Niederlagen der Arbeiterbewegung in Italien und mehr noch die in Deutschland zu Kenntnis nehmen, einem höchst wichtigen Land, von dem die Bolschewiki erwarteten, dass sich von hier aus die Revolution verallgemeinern würde. Der IV. Kongress der Internationale, an dem Gramsci im November 1922 teilnimmt, formuliert die neuen Aufgaben der kommunistischen Parteien. Die Kapazität der Widerstandskraft des Kapitalismus war unterschätzt worden und die frontale Revolution steht im Westen nicht mehr an. Der evidente Krisenzustand an sich hatte nicht genügt, die Diagnose der Agonie zu bestätigen, die man 1918-1920 unweigerlich kommen sah. Eine paradoxe Parabel rückt in den Bereich des Möglichen: Der Niedergang des Kapitalismus kann einhergehen mit zeitweiligen Phasen des Aufschwungs, der Wiederbelebung der Produktivität und die Notwendigkeit der Erneuerung kann von einem konservativen, ja reaktionären Block gekapert werden, wodurch die soziale Rebellion blockiert wird. Gramsci hat zunächst Schwierigkeiten, die Losung der Einheitsfront zu akzeptieren, die die Spaltung von Livorno[10] und die Legitimität der italienischen Partei sinnlos zu machen scheint, denn sie forderte ein Bündnis mit den Elementen des italienischen Sozialismus, von denen man sich aus guten Gründen getrennt hatte. Aber er begreift schnell, dass die neue Losung dem neuen Analysebild und der Interpretation der italienischen und internationalen Realität entspringt, und dass sie besser geeignet ist, die Niederlage der Arbeiterbewegung in den europäischen kapitalistischen Ländern zu verstehen wie auch die von der Konsolidierung der Revolution in der Sowjetunion hervorgerufenen sozialen und politischen Spannungen.

Überall in Europa hatte der 1. Weltkrieg keineswegs die Eroberung der Macht durch das Proletariat zur notwendigen Folge, aber er hatte das Entstehen neuer politischer Balancen begünstigt, die nicht nur das Überleben des Systems erleichterten, sondern auf neue despotische Lösungen hinausliefen wie den Faschismus. Es war nicht die Revolution gegen das Kapital, die auf der Tagesordnung stand, sondern die Konterrevolution des Kapitals, die auch Marxens Kapital nicht vorhergesehen hatte. Anachronistisch und falsch war die dem vulgären historischen Materialismus entsprungene Überzeugung geworden, nach der die Fakten der Produktion – Wachstum und Krise – sofortige politische Auswirkungen nach sich ziehen müssen. Es war nötig, das Verhältnis von politischen Überbauten und Kultur neu zu durchdenken.

Gramsci unterstützt also uneingeschränkt die These der Einheitsfront, nachdem er ermessen hat, dass der Marsch auf Rom[11] die Konsequenz haben könnte, die Arbeiterbewegung in einen Zustand totaler Sklaverei zurück zu versetzen – und das in einer Situation der Schwäche der Produktionsverhältnisse. Zugleich hatte die beschleunigte Industrialisierung in der UdSSR Verwerfungen hervorgebracht, die den Bestand des ersten kommunistischen Experiments auf der Welt gefährdeten. Um es zu retten, musste eine neue Politik entwickelt werden, die Konzessionen an die Bauern und auch an die kleinbürgerlichen Massen machte sowie die Aufrechterhaltung einer Form des Marktes. Hier stellt sich das Problem der Eroberung und der Aufrechterhaltung der Führung des revolutionären Prozesses durch eine Politik und durch Methoden, die es erlauben, die Interessen aller unterdrückter Klassen zu befriedigen und erneut ihren Konsens zu erhalten. Es ist das Problem, eine wirkliche Hegemonie auszuüben. Gramsci macht sich dieses von Sinowjew geschaffene und von Lenin präzisierte Konzept zu eigen, um die Bündnisse der Einheitsfront zu durchdenken, aber er gibt ihm bereits die kulturelle Dimension einer intellektuellen und moralischen Reform. Als das Exekutivkomitee der Internationale Gramsci Ende 1923 nach Wien schickt, hat das den Grund, dass er das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Italiens rekonstruieren soll, das durch die Verhaftung zahlreicher Militanter zerfallen und durch die von Bordiga bestätigte Ablehnung der Einheitsfront nicht handlungsfähig ist. So sieht der unorthodoxe Leninismus von Gramsci aus, der nichts mit dem Marxismus-Leninismus zu tun hat, der sich zur gleichen Zeit, nach Lenins Tod, als Dogma des Apparats durchsetzt, alle Wendungen der aufeinander folgenden Leitungen der KPdSU rechtfertigt und autorisiert, dass die innere Opposition auf die herrschende Linie einer Partei gezwungen wird, die sich irreparabel spaltet. Gramsci versteht, dass die kanonisch gewordene Referenz zum Marxismus-Leninismus zur Folge hat, Oppositionen als Häresie in Bezug auf die richtige Linie aufzufassen, die als Norm dient, um im Nachhinein alle Wendungen zu erklären, indem sie als irrtümliche und zu denunzierende Abweichungen dargestellt werden und als sittliche und politische Fehler, die zu sanktionieren sind.

Gramsci wird von der Einheitsfront nicht mehr abrücken, auch wenn die Internationale sie im Namen des Kampfes gegen den Sozialfaschismus wieder infrage stellen wird und er wird mit den Folgen zahlen für etwas, was für die stalinistische Führung eine Häresie ist. Der Preis besteht in der Isolierung und dem Unverständnis innerhalb der eigenen Partei, eine Art Gefängnis im Gefängnis. (…)

Die Revolution in den Ländern des fortgeschrittenen Kapitalismus (1926)

Die Führungsgruppe der Partei konzentriert ihre Kräfte in der Illegalität[12] auf die Vorbereitung des III. Parteitags, der im Januar 1926 in Lyon stattfindet. Es ist der Parteitag der Neugründung des Organismus, der sich fortan Kommunistische Partei Italiens nennt. Gramsci wird mit 90,8 Prozent der Stimmen gewählt, gegen 9,2 Prozent Stimmen der Bordiga-Linken, die jedoch loyal mitarbeitet. Das Arbeitsprogramm fordert eine Erneuerung der marxistischen Theorie der Machtbeziehungen und verlangt eine Neubestimmung der vulgär-mechanistischen Verbindung von Basis und Überbau. So ist es richtig, wie Marx in dem Text sagt, der diese Dualität inthronisiert – nämlich im „Vorwort“ von Zur Kritik der politischen Ökonomie –, indem er seinen eigenen Gedanken nuanciert und komplexer macht, dass sich die Menschen Konflikte, die sie gegeneinander austragen und die den ökonomischen Widersprüchen entspringen, auf dem Terrain ideologischer Bewusstseinsformen bewusst machen; aber sie führen sie in Bezug zu den politischen und juristischen Institutionen und hier führen sie sie auch bis zum Ende. Ein Bericht vom 2. und 3. August 1926 mit dem Titel Eine Untersuchung der Situation Italiens antizipiert die Thematik der Revolution im Westen: „...in den Ländern des fortgeschrittenen Kapitalismus besitzt die herrschende Klasse politische und organisatorische Reserven, die sie beispielsweise in Russland nicht besaß. Das bedeutet, dass die schwersten ökonomischen Krisen keine sofortigen Rückwirkungen auf politischem Gebiet haben. Die Politik folgt der Ökonomie stets mit großem Verzug. Der Staatsapparat ist sehr viel resistenter, als man oft glauben könnte, und es gelingt ihm, in Krisenmomenten viel mehr regimetreue Kräfte zu organisieren, als es die Tiefe der Krise ahnen lassen würde.“ [13]

Gramsci verfeinert die Analyse und unterscheidet zwischen den bedeutendsten kapitalistischen Staaten und den Staaten an der Peripherie wie Italien, Polen, Spanien und Portugal. In diesen letzteren Ländern haben die staatlichen Kräfte nicht dieselbe Wirksamkeit wegen der Existenz und der Funktion von Zwischenklassen, „die das Bestreben haben und denen es in gewisser Weise auch gelingt, ihre eigene Politik mit Hilfe von Ideologien durchzusetzen, die häufig Einfluss auf breite Schichten des Proletariats und besondere Suggestivkraft auf die bäuerlichen Massen ausüben.“[14] Um diese Schichten ist mit dem Faschismus zu kämpfen, dem es gelungen ist, die Protesthaltung dieser Schichten zurückzudrängen, die sie in der Matteotti-Krise[15] eingenommen hatten; sie bewegen sich nach einer unvorhersehbaren Logik molekularer Bewegungen. Aus der Sicht der KPI geht es in den peripheren kapitalistischen Staaten darum, sich aus dieser Schwäche zu befreien, indem durch eine Verbindung mit diesen Schichten eine „Gruppierung links von den Mittelschichten“ geschaffen wird. Das heißt, dass sich eine neue Phase der kapitalistischen Krise eröffnet, die Analysen erfordert, die zwischen Zentrum und Peripherie unterscheiden und eine Konkretisierung der zu allgemein gehaltenen Taktik der Volksfront beinhalten. Diese Taktik ist notwendig eine „determinierte Taktik“, die sich „den konkreten Problemen des nationalen Lebens stellt und auf der Basis der Kräfte des Volkes arbeitet, wie sie sich historisch herausgeformt haben“.[16] Die Einheitsfront muss sich von unten entwickeln und vermeiden, ein Bündnis der Parteispitzen zu sein, selbst wenn es sich um Antifaschisten handelt. So sieht der Bezug zu den konkreten Problemen und zur Basis der Kräfte des Volkes aus.

Gramsci stellt hier die Art und Weise infrage, wie sich die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 1923 auf eine Taktik der offenen aufständischen Konfrontation eingelassen hatte. Zum einen war das von der sowjetischen Seite suggeriert worden, die die NEP infrage stellte wegen der Schwierigkeiten des Bündnisses mit den Bauern (Herausbildung einer Klasse wohlhabender Bauern) und zum anderen von der Internationale, die die Taktik der Einheitsfront infrage stellte und behauptete, dass eine unmittelbar revolutionäre Offensive in Europa erneut anstünde. Das Scheitern der KPD ist das Scheitern der faktischen Aufgabe der Taktik der Einheitsfront; der Leiter der Internationale, Sinowjew, hatte diese Wende unterstützt, gegen Bucharin, dem Gramsci politisch nahe steht. Gramsci gründet dieses Programm auf einer mehr und mehr verfeinerten Kritik des Faschismus, den er als regressiven Bonapartismus definiert: er versucht einen Block zu bilden, der ein Bündnis zwischen unzufriedenen und von nationaler Ideologie beeinflussten Mittelklassen und der kapitalistischen Großbourgeoisie schmiedet, die selbst in einem Konflikt mit dem Großgrundbesitz steht. Gramsci schlägt vor, die Partei als einen lebendigen Organismus zu strukturieren, der fähig ist, die Massen anzuleiten und zu disziplinieren – aber ohne Bürokratismus. Die Komitees der Arbeiter und Bauern sollen belebt werden, indem man ihnen die Perspektive der Vereinigung in einer künftigen republikanischen Versammlung vorschlägt. Dieses Ziel der republikanischen und sozialen Demokratie wird das politische Ziel der Gefängniszeit bleiben und wird sowohl von der sowjetischen Führung als auch von der nach 1926 von Togliatti geleiteten KPI als rechte Abweichung denunziert. Wenn Gramsci vor seinem Tod freigelassen worden wäre, hätte er nicht die offizielle Linie [der KPI – S. K.] repräsentiert und wäre wahrscheinlich aus seinen Führungspositionen entfernt worden.

Kurz vor der Eröffnung des Parteitags von Lyon stellte Gramsci der Politischen Kommission die Linie für den 20. Januar 1926 vor: „In keinem Land ist das Proletariat in der Lage, allein die Macht zu erobern und aus eigener Kraft zu behaupten. Es muß sich also Verbündete schaffen, das heißt, es muß eine solche Politik betreiben, die es ihm erlaubt, sich an die Spitze der anderen Klassen, die antikapitalistische Interessen haben, zu stellen und sie in den Kampf zum Sturze der bürgerlichen Gesellschaft zu führen. Diese Frage ist besonders wichtig für Italien, wo das Proletariat eine Minderheit der arbeitenden Bevölkerung ausmacht und geographisch so verteilt ist, dass es nicht wagen kann, einen siegreichen Kampf um die Macht zu führen, bevor es nicht das Problem seiner Beziehungen zur Klasse der Bauern exakt gelöst hat. Der Aufgabe, dieses Problem zu stellen und zu lösen, wird sich unsere Partei in nächster Zeit in besonderem Maße widmen müssen.“[17] Gramsci nimmt also in den strategischen und theoretischen Debatten des europäischen Kommunismus einen einzigartigen und strikt aufrecht erhaltenen Platz ein, der dem des späten Lenin nahe steht, jede Strategie von Klasse gegen Klasse abzulehnen.

* Auszug mit freundlicher Genehmigung des Verfassers aus: André Tosel, Étudier Gramsci. Pour une critique continue de la révolution passive capitaliste, Paris 2016 [Éditions Kimé], S. 13-16, 41-45, 55, 64-66. Übersetzung aus dem Französischen und Italienischen: Sabine Kebir.

[1] Die süditalienische Frage. Beiträge zur Geschichte der Einigung Italiens, Berlin (DDR) 1955.

[2] Marina Paladini Musitelli, Introduzione a Gramsci, Roma-Bari 1996.

[3] Gemeint ist die zwischen 24. und 27. Oktober stattfindende Schlacht am Isonzo (heute Fluss Soča in Slowenien) (S.K.).

[4] Zit. n. d. Übersetzung von Christian Riechers: Die Revolution gegen das Kapital, in: Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis. Eine Auswahl. Herausgegeben und übersetzt von Christian Riechers mit einem Vorwort von Wolfgang Abendroth, Frankfurt am Main 1967, S. 24. (S.K.)

[5] Ebenda.

[6] Ebenda, S. 25-26.

[7] Unter „Aktualismus“ verstand Gentile in der hier infrage stehenden Zeit eine noch nicht politisch definierte Haltung, die einem von Regeln unbeeinflussten Handeln Priorität im Kommen und Gehen des Lebens einräumt. Später wurde Gentile einer der wichtigsten Ideologen des Faschismus. (S.K.)

[8] Antonio Gramsci, La critica critica, aus: La città futura (1917-1918), hrsg. v. Sergio Caproglio, Turin, Einaudi 1982, S. 553. (Lag der Übersetzerin weder auf deutsch noch im italienischen Original vor. Übersetzt nach Tosel; S.K.).

[9] Ebenda, S. 650. Über die zunächst äußerst große und strukturell anhaltende Bedeutung von Giovanni Gentile siehe: Augusto del Noce, Il suicidio della rivoluzione, Milano, Rusconi, 1978. Gramsci wird bei Croce mehr analytisch wertvolle Elemente finden, wenn er in den Gefängnisheften den sowjetischen historischen Materialismus von Bucharin kritisiert, Konzeptionen über die Begrifflichkeit der Beziehungen von Ethik und Politik und über die passive Revolution. Aber die Thematik des Handelns bleibt von Formulierungen Gentiles geprägt. Gramsci korrigiert sie zum Begriff des „unreinen Handelns“ und weist Gentiles Staatsvergottung zurück. Das heißt jedoch nicht, dass der Aktualismus nicht die Metaphysik gewesen ist, auf der Gramscis Denken basiert. Wenn die ganze Anstrengung der Gefängnishefte darauf gerichtet ist, die Brüchigkeit dieser Basis zu kritisieren, die Unbestimmtheit seiner (Gentiles – S. K.) Kategorien im Vergleich zu denen von Croce, steht doch fest, dass Gramsci den Marxismus von Marx nicht auf eine Geschichtsmethodologie reduziert, vielmehr übernimmt er das Konzept der ‚Philosophie der Praxis’, das Gentile in Übereinstimmung mit Antonio Labriola verbreitet, wenn auch vom entgegengesetztem Standpunkt aus als dessen La filosofia di Marx.

[10] Am 15. Januar 1921, zu Beginn des XVIII. Kongress der Sozialistischen Partei in Livorno, erklärten die Kommunisten ihren Austritt und die Gründung einer eigenen Partei (S.K.).

[11] Mussolini erzwang mit einem zwischen 27.-31. Oktober 1922 organisierten Marsch von ca. 50.000 seiner Anhänger auf Rom, bei dem es besonders in den nördlichen Landesteilen zur Erstürmung öffentlicher Einrichtungen und zu Terror gegen Kommunisten und Sozialisten kam, dass der König ihn zum Regierungschef ernannte (S.K.).

[12] Die KPI war zwar nicht verboten und im Parlament präsent, insofern also halblegal. Die Arbeit ihrer Organisationen im Land wurde aber durch faschistischen Terror so stark behindert, dass der Parteitag 1926 ins Ausland verlegt werden musste (S.K.).

[13] Antonio Gramsci, Eine Untersuchung der Situation Italiens. In: La costruzione del Partito Comunista 1923-1926, Turin 1974, S. 121f. (a. d. italienischen Original übersetzt, S.K.)

[14] Ebenda.

[15] Am 10. Juni 1924 verschwand der sozialistische Abgeordnete Giacomo Matteotti spurlos. Da er am 30. Mai eine flammende Rede gegen Wahlfälschungen der Faschisten gehalten hatte, schloss die entrüstete Öffentlichkeit auf einen faschistischen Terrorakt. Aus Protest verließen alle nichtfaschistischen Parteien das Parlament und gründeten im Aventin ein Gegenparlament. Gramscis Vorschlag, die Empörung breiter Schichten zu nutzen, um einen Generalstreik gegen das Regime zu organisieren, folgte keine andere Partei, worauf die Kommunisten ins Parlament zurückkehrten. Die Arbeit des Gegenparlaments schlief bald ein, was Mussolini 1926 zum Vorwand für die Abschaffung des parlamentarischen Systems diente. (S.K.)

[16] Antonio Gramsci, Eine Untersuchung der Situation Italiens, a. a. O., S. 123.

[17] Zit. n. d. Übers. v. Günter Grübel: Antonio Gramsci, Der Parteitag von Lyon. Rede vor der politischen Kommission. Aus dem Protokoll der Sitzung. In: Ders., Zu Politik, Geschichte und Kultur, hrsg. v. Guido Zamiš, Leipzig 1980, S. 139f. (S.K.)

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