Umbau der Chemiekonzerne

von André Leisewitz
Dezember 2016

Die Chemie- und Pharmaindustrie der Bundesrepublik befindet sich seit den 1990er Jahren in einem massiven Umbruch. Das betrifft insbesondere die Neustrukturierung der großen Konzerne. Die starken weltwirtschaftlichen Veränderungen im internationalen Kapitalismus (Aufstieg und Industrialisierung peripherer Länder – insbesondere Südostasien, VR China); große Dynamik des Welthandels und der Internationalisierung; Finanzialisierung) und die wachsende Bedeutung der Gen- und Biotechnologie für die Branche waren Auslöser weitreichender Konzernumbauten, in deren Gefolge einer der IG-Farben-Nachfolger (die Hoechst AG) als Konzern sich auflöste und eine Vielzahl neuer Unternehmen entstand. Dieser Prozess ist nach wie vor im Gange und der aktuell besonders spektakuläre Fall der geplanten Monsanto-Übernahme durch die Bayer AG ist nur ein weiterer Schritt in dieser Neustrukturierung, die gleichermaßen die internationale Chemie- und Pharmaindustrie betrifft.

1.

Ein Blick in die Statistik der angekündigte und z.T. vollzogenen weltweiten Fusionen und Übernahmen (M&A) zeigt, dass die internationale Chemieindustrie ganz vorne dabei ist. Im längerfristigen Vergleich ist kaum eine Branche so intensiv an den großen transnationalen M&A-Aktivitäten beteiligt wie die Chemie- und Pharmaindustrie, mit Ausnahme der Finanzwirtschaft.[1] Bei den 30 weltweit größten (geplanten oder realisierten) M&A-Transaktionen der Jahre 1999-2015 (also nicht nur cross-border Übernahmen, wie in der UNCTAD-Statistik) entfallen auf Transaktionen im Chemie-Pharma-Sektor 20 Prozent vom Gesamtvolumen.[2]

Die vier größten 2015/2016 angekündigten Chemie-M&A (Tab. 1) lassen die globale Dimension des Konzernumbaus, unterschiedliche Motive und Perspektiven bereits erkennen.

Der im November 2015 öffentlich gemachte Plan zur Fusion der Pharma-Konzerne Pfizer (USA) und Allergan (Irland) war aus steuertechnischen Gründen (Vermeidung der höheren US-Steuern) als Übernahme des größeren (Pfizer) durch das kleinere Unternehmen konzipiert; nach Ankündigung von Maßnahmen gegen Steuerflucht durch die US-Regierung wurde der Deal ad acta gelegt; Allergan wurde 2016 mit 150 Mio. USD von Pfizer entschädigt.

Tab.1 Angekündigte große Fusionen/Übernahmen im Chemie- und Pharmasektor 2015/2016

Tabelle siehe PDf !

Quelle : Bloomberg 2015 ; 2016

Die seit längerem von Aktionären geforderte und im Dezember 2015 angekündigte Fusion der beiden traditionsreichen US-Chemie-Konzerne Dow und Dupont[3] als „Fusion unter Gleichen“ hängt noch; die EU hat wettbewerbsrechtliche Bedenken angemeldet. Durch die Fusion würde kurzfristig der weltgrößte Chemiekonzern entstehen (ca. 110.000 Beschäftigte, Umsatz 86 Mrd. USD), der aber, so die Planung, anschließend in drei eigenständige Unternehmen für Agrarchemikalien, Kunststoffe und Spezialchemikalien wieder aufgespalten werden soll.

Das im Februar 2016 bekannt gewordene Übernahmeangebot von ChemChina an Syngenta stellt den zweiten großen Schritt zur „Neuordnung“ der Geschäftsfelder und Strukturen der großen Chemiekonzerne dar. Monsanto hatte sich im Vorfeld vergeblich um die Übernahme von Syngenta bemüht.

Der dritte Schritt ist die gleichfalls noch offene Übernahme von Monsanto durch die Bayer AG, die seit 2014 im Bayer-Konzern erwogen, dann aber erst mal auf Eis gelegt worden war.

2.

Die erste große Welle des Umbaus der Chemiekonzerne durch „Desinvestition“ und „Akquisition“ fällt in die 1990er Jahre. Auslösendes Moment der Restrukturierungsbemühungen war die chronische Renditeschwäche der europäischen und besonders der deutschen Großchemie im Vergleich zur US-Chemie: „Operativ und vor Steuern betrachtet, erzielten die europäischen – und vor allem die deutschen – Firmen von 1986 bis 1996 eine um rund zwei Prozent niedrigere Umsatzrendite als die Chemie in den USA. Beim Reingewinn standen sie zwar um gut drei Prozentpunkte besser da als die Chemie in Asien – aber im Vergleich zu US-Wettbewerbern um fast ebensoviel schlechter.“[4] In Europa gab die im März 1996 überraschend angekündigte Fusion der Schweizer Chemie- und Pharmakonzerne Ciba-Geigy und Sandoz zum neuen Großkonzern Novartis[5] das Signal für weitreichende Folge-Reaktionen der IG-Farben-Nachfolger Bayer, BASF und Hoechst.

Um die Dimension des seitdem erfolgten Konzern-Umbaus zu beurteilen ist ein historischer Rückblick angebracht.

Die deutsche Chemieindustrie setzte bis in die 1930er Jahre weitgehend die Standards in der internationalen Chemieindustrie auf Grundlage ihrer hochentwickelten wissenschaftlich-technischen Basis und der großen Verbundunternehmen, die seit Mitte der 20er Jahre in den IG Farben konzentriert waren. Ihr waren weder die britische ICI noch die US-amerikanische oder die Schweizer Konkurrenz wirklich gewachsen. Einen ersten Bruch stellte der zweite Weltkrieg dar – die „Rhine valley companies“ wurden zeitweilig vom Weltmarkt abgeschnitten und die Rüstungsnachfrage des Krieges beförderte einen technologischen Umbruch in der materiellen Basis der globalen Chemieindustrie zur Polymer- und petrochemischen Industrie – damit zog eine „neue Ära“ der Chemieproduktion auf, mit der die US-amerikanischen Chemie- und Öl-Konzerne sukzessive die Oberhand gewannen.[6] Die (west-)deutschen Chemiekonzerne (BASF, Bayer, Hoechst) mussten hier nachziehen[7], blieben aber auf der Basis ihrer Verbundkonzeption dominierende und international konkurrenzfähige Monopole, die in mehr oder weniger allen Sparten der Chemie- und Pharmaproduktion aktiv und z.T. weiterhin führend waren. Die für die (meisten) großen Konzerne der europäischen und besonders der westdeutschen Chemieindustrie charakteristische Verbundproduktion, bei der alle Prozesse von der Rohstoffverarbeitung bis zur Endproduktherstellung an eng vernetzten Standorten unter einem Konzerndach vereint waren, erwies sich lange als Produktivitätsvorteil und Stabilitätsanker. Aber mit dem Druck der Internationalisierung, dem Aufkommen einer starken globalen Konkurrenz mit großen Kostenvorteilen gerade in den Bereichen der konjunkturanfälligen Standard- und „Basischemie“, aber auch in den Bereichen der forschungsintensiven Spezial- und Pharmaprodukte fielen die Bedingungen der Profitproduktion in den unterschiedlichen Sektoren der „integrierten“ Konzerne zunehmend auseinander. Seit den 1980er Jahren zeichnet sich zugleich eine zweite „neue Ära“ der Chemieproduktion ab: die wachsende Bedeutung der biotechnologischen Forschung und das auch technologische „Auseinanderdriften“ von Chemie- und renditeträchtigerer und weniger konjunkturanfälligerer Pharmaproduktion. Damit wuchs die Neigung, renditeschwache und konjunkturanfällige Bereiche auszugliedern.[8]

Die drei IG-Farben-Nachfolger reagierten sehr unterschiedlich.

- Die Hoechst AG setzte auf einen schnellen Konzernumbau, spaltete zwischen 1995 und 1999 fast alle Nicht-Pharma-Bereiche ab, stärkte den eigenen Pharmasektor durch diverse Akquisitionen und fusionierte 1999 mit Rhône-Poulenc zu dem „Life Science“-Konzern Aventis mit Pharma- und Agrarsparte. Letztere verkaufte Aventis 2001/2002 an die Bayer AG. Der nunmehr reine Pharma-Konzern Aventis wurde damit aber unversehens zum interessanten Übernahmekandidaten, den 2004 die französische Konkurrenz Sanofi-Synthélabo in einer feindlichen Übernahme trotz heftiger Gegenwehr schluckte. Hier griff der Kleinere nach dem Größeren: Der Umsatz von Sanofi machte 1999-2002 nur ein Viertel bis ein Drittel vom Aventis-Umsatz aus, die Beschäftigtenzahl weniger als die Hälfte.[9]Angesichts eines verlockenden Angebots stimmten die Aventis-Aktionäre (darunter Kuwait Petroleum als Großaktionär) dem Verkauf zu. Der Fall wurde auf höchster Ebene (Schröder-Chirac) verhandelt, aber in Zeiten des Finanzmarktkapitalismus nach Auflösung der Deutschland-AG hatte das wegfusionierte Ex-Hoechst-Unternehmen keinen rettenden Paten mehr.

- Die BASF AG, der Mitte der 1990er Jahre rentabelste[10], aber auch konjunkturabhängigste der drei IG-Farben-Nachfolger mit Schwerpunkt auf chemischen Vor- und Massenprodukten, verfolgte schon seit Ende der 80er Jahre eine Strategie der Optimierung der Verbundvorteile durch intensive Rückwärtsintegration (Öl- und Gasgeschäft u.a. mit Gazprom als eigene Rohstoffbasis und chemieunabhängiger Konjunkturpuffer) und stieß Nichtchemie- und Randbereiche ab. Bei den als Kernbereich definierten Konzernteilen wurde zugekauft, Kooperationen gebildet, der Pharma- und Biotechnologiebereich ausgebaut.

- Die Bayer AG fuhr in gewissem Sinne einen Mittelkurs: Sie war nie so stark auf Kunststoffe und Grundchemie orientiert wie die BASF; Bereiche „höherer Chemie-Veredelung“ (Gesundheit, Agrar, Spezialchemie) spielten bei ihr traditionell eine größere Rolle. Anders als Hoechst zielte Bayer seinerzeit drauf ab, „das führende integrierte Chemie- und Pharmaunternehmen der Welt“ zu werden; das hieß Ausbau der Kernbereiche Pharma, Agrochemie, Polymere und Chemiespezialitäten bei Rückführung der „alten Chemie“.

Die Bilanz dieser erste Umbau-Phase sieht so aus: Von den zehn führenden integrierten Chemiekonzernen Europas von Anfang der 1990er Jahre blieben bis Anfang des 21. Jahrhunderts fünf – Bayer, BASF, ICI[11], Solvay und Akzo – als solche übrig.[12] Vier der Konzerne (CIBA-Geigy, Sandoz, Hoechst und Rhône-Poulenc) hatten fusioniert und ihre Chemiesparten zugunsten der Pharmaanteile verkauft. Henkel als zehnter dieser Großkonzerne hatte sich gleichfalls aus dem klassischen Chemiegeschäft zurückgezogen zugunsten konsumnaher Haushaltschemieprodukte.

Einer der drei damals an die 130 Jahre alten deutschen Chemiekonzerne, die Hoechst AG, ging unter, die beiden anderen konzentrierten sich auf sehr unterschiedliche Wege: die BASF als integrierter Chemie-Mischkonzern, Bayer als Pharma-/Agrarchemie-Konzern mit hohen Anteilen „veredelter“ Spezialchemie. Beiden gemeinsam die aggressive Außenexpansion, nicht mehr (wie zu IG-Farben-Zeiten vor den Raubzügen im WK II) durch Waren-, sondern durch Kapitalexport/Direktinvestitionen und den Aufbau großer internationaler Kapazitäten in den expandieren Chemie-Regionen, also vornehmlich den Schwellenländern (insbesondere China) und den USA.

3.

2015/2016, zwanzig Jahre nach Beginn der Restrukturierungsphase oder „neuen Ära“ der Chemieindustrie, erfolgt ein neuer Schub im Umbau der Chemiekonzerne. Den Auslöser machte diesmal die Ankündigung der DuPont-Dow Chemical-Fusion in den USA. Sie stellt eine Reaktion auf die Ertragsprobleme der beiden US-amerikanischen Konzerne dar: Überproduktion, nachgebende Preise, Wachstumsschwäche. Durch Fusion und Aufspaltung sollen die neu entstehenden Konzerne in ihren jeweiligen Segmenten (Massenchemikalien/Kunststoffe, Spezialchemie, Agrarchemie) größere Marktanteile und damit größere Preismacht gewinnen. Die wenig später folgende Ankündigung der Syngenta-Übernahme durch ChemChina baute sofort zusätzlichen Konkurrenzdruck für den Agrarchemie-Sektor auf.

In allen Bereichen sind, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, die beiden übrig gebliebenen IG-Nachfolger BASF und Bayer aktiv. Beide können sich damit dem von den Fusionsankündigungen ausgehenden Umstrukturierungsdruck nicht entziehen. Sie sahen sich seit dem ersten Umbau-Schub vor folgende Probleme gestellt:

- Die BASF hatte ihre Strategie relativ stringent weiterverfolgt, im Ausland große Verbundkomplexe aufgebaut (die größten in Antwerpen und Nanking/China) und eine Reihe anderer Konzerne und Unternehmensteile zugekauft, die ins BASF-Programm passten.[13] Der Pharma-Bereich wurde 2001 abgestoßen. Große Probleme machten in den letzten Jahren dem Konzern die mit dem sich abschwächenden Wachstum in den Schwellenländern offenkundig geworden Überkapazitäten insbesondere bei Massenchemikalien, der Ölboom (Schieferöl und -gas) in den USA (der Plan, dort ein gasbasiertes großes Ethylenwerk zu bauen, musste deswegen aufgegeben werden) und der Verfall des Öl- und Gaspreises. Wintershall, die BASF-Tochter auf diesem Gebiet, hatte zeitweilig etwa die Hälfte zum Konzerngewinn beigetragen, eine Bestätigung der Rückwärtsintegration („Konjunkturpuffer“); jetzt marginalisierte sich dieser Profitanteil. Die BASF trennte sich vom eher belastenden Gashandel („Vermögenstausch“ mit Gazprom, Gashandel gegen Förderlizenzen in Sibirien) und hofft auf ein Anziehen der Ölpreise.[14] Die Konzernführung betont, dass das billige Geld für sie kein Anlass zu unüberlegten Akquisitionen sei. Zwischenzeitlich wurde der Kauf des Agrarchemiekonzerns Syngenta erwogen – nach dem Übernahmeangebot durch ChemChina steht dies nicht mehr zur Debatte. Berichtet wurde auch über Konzernüberlegungen, ein Gegenangebot zur geplanten Großfusion DuPont-Dow Chemical in den USA zu machen. Der Agrarchemiesektor der BASF war gerüchteweise Gegenstand einer Monsanto-Offerte, um die Monsanto-Übernahme durch Bayer zu erschweren.[15] Die BASF könnte aber Nutznießer der aktuellen Großfusionen und -Aufspaltungen (Bayer-Monsanto; ChemChina-Syngenta) werden, da aus kartellrechtlichen Gründen vermutlich beachtliche Unternehmensteile dieser Konzerne abgespalten und vermarktet werden müssen. Deren Volumen soll in der Größenordnung von 11-12 Mrd. Euro liegen; sie würden u.U. gut ins BASF-Konzept passen.[16] Insgesamt gilt die BASF heute als „Sonderfall“, der sich gegen den Trend der Konzernaufspaltung und Fokussierung stemmt und seine Profitabilität weiterhin aus dem Verbundkonzept, der Kontrolle über die konzerninternen Prozessketten und der in vielen Bereichen großen Marktstärke zieht.

- Die Bayer AG trennte sich ab 2003 in mehreren Schritten von ihrem Chemiegeschäft. Zuerst wurden bis 2005 der Chemiebereich und Teile der Kunststoffherstellung ausgegliedert und als neuer Konzern an die Börse gebracht: Lanxess. Zehn Jahre später folgte 2015 die Ausgliederung der bis dato im Konzern verbliebenen Polymer- und Kunststoffherstellung unter dem Namen Covestro. Verkauft wurde 2006 auch die Diagnostik-Branche von Bayer Health Care (an Siemens, für 4,2 Mrd Euro). Umgekehrt wurden die Bereiche Agrarchemie (Pflanzenschutz, Saatgutherstellung) und Pharma sukzessive durch Unternehmenszukäufe verstärkt: Durch Übernahme der Pflanzenschutz- und Saatgutabteilungen von Aventis (Ex-Hoechst) 2001/2002 stieg Bayer Crop Science als Nummer 2 in die Spitzengruppe der internationalen Agrarchemie- und Saatgutkonzerne auf. Im Pharmasektor kaufte Bayer 2006 die Schering AG (17 Mrd. Euro) und 2014 in den USA den Hersteller rezeptfreier Medikamente Merck & Co. (14,2 Mrd. Euro); dadurch stieg Bayer auch in diesem Sektor zur Nummer 2 weltweit auf. Bayer war damit als großer Player in den Pharma- und Agrarchemiesektor aufgerückt, der sich nach Ausgliederung seiner klassischen Chemieproduktion nunmehr nach Pharma, Consumer Health und Agrarchemie (Crop Science) gliedert.

Mit dem schon seit längerem beabsichtigten Kauf von Monsanto – mit 62 Mrd. USD die größte Übernahme in der Firmengeschichte Bayers und der deutschen Chemieindustrie – dürfte zweierlei beabsichtigt sein: Erstens der Kampf um die globale Marktführerschaft im Bereich Agrarchemie und Saatgutherstellung in Konkurrenz mit ChemChina/Syngenta und dem aus der Aufspaltung der zu erwartenden DuPont-Dow-Fusion entstehenden Agrar/Saatgut-Konzern. Die BASF wäre mit ihrem Agrarchemie/Saatgutgeschäft die Nummer 4. Zweitens die Vermeidung der Gefahr, auf dem seit den 1990er Jahren in mehreren Fusionswellen aufkonzentrierten Pharmamarkt[17] selbst zum Übernahmekandidaten für solche Riesen wie Pfizer o.a. zu werden.

Der Spruch des ehemaligen Bayer-Chefs Marijn Dekker: „Es geht nicht darum, größer zu werden, es geht darum, fokussierter zu werden“[18], bringt insofern nur einen Teil der Wahrheit zum Ausdruck. Mit der „Fokussierung“ wird relative Größe bzw. Dominanz auf den jeweiligen Teilmärkten angestrebt, die notwendig ist, um Kostenführerschaft bei der Produktion und in der Distributionssphäre eine möglichst weitgehende Kontrolle des Geschäfts durch Kundenähe zu erreichen. Und Größe ist auch eine der Voraussetzungen, um sich gegen feindliche Übernahmen zu wappnen, indem den Eignern eine attraktive Rendite geboten und der Konzern teuer gemacht wird. Dass Größe nicht ausreicht, hatte das Ende der Hoechst-Nachfolger gezeigt. Eine notwendige Bedingung dürfte sie aber sein.

Der fortlaufende Umbau der „alten“ Chemiekonzerne hat durch die Abspaltungen in den letzten zwanzig Jahren zugleich zahlreiche neue Chemiekonzerne entstehen lassen, die nach den „Großen“ die zweite Reihe der internationalisierten Chemieindustrie bilden. Dazu gehören u.a. Clariant, Ciba, Celanese, Syngenta, Cognis, Lanxess, Evonik, Covestro. Als die weniger rentablen Unternehmensteile ausgemustert, hatten sie ihrerseits einen harten Konsolidierungskurs zu bewältigen, der mit weiteren Abspaltungen, Zukäufen und Fusionen auf ihrer Ebene verbunden war und ist. Dieser Konsolidierungskurs orientiert sich an verschiedenen Kriterien, die allesamt mit Kostenreduktion, Dominanz auf Teilmärkten und dem Versuch, z.B. als Feinchemie-Zulieferer für die großen (Pharma-)Konzerne Schlüsselstellungen zu besetzen, verbunden sind.

4.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich also, dass das große Übernahmefieber, das seit den 1990er Jahren auch im Chemiesektor zu beobachten ist, weitgehend Ausdruck der Restrukturierung des fungierenden Kapitals dieser Branche ist; Abspaltung und Neuzusammensetzung von Konzernteilen, Unternehmensverkäufe und -aufkäufe gehören hier zusammen. Es geht insofern nicht einfach um Kapitalzentralisation, sondern primär um Neuformierung mit dem Ziel, die jeweiligen Reproduktionsbedingungen der Konzerne möglichst weitgehend unter Kontrolle zu bekommen, um die Entwicklung bestimmen zu können und nicht selbst im Strudel der monopolistischen Konkurrenz unterzugehen. Perspektivisch erwartet der Chemie-Verband weitere Anteilsgewinne in den Bereichen Spezialchemie und Pharma auf Kosten der Basischemie.[19]

Tab. 2: Anteil der 6 größten Chemie- und Pharma-Unternehmen an Unternehmenszahl, Beschäftigten und Umsatz in der BRD 1990 - 2014 (in Prozent)

Tabelle siehe PDF !

Quelle: Stat. BA., FS 4, R. 4.2.3

Zum Schluss ein Blick auf die Konzentrationstabelle für die Chemie- und Pharmaindustrie in der BRD (Tab. 2). Der Umsatzanteil der sechs größten Unternehmen in der Chemieindustrie ging in den 1990er Jahren deutlich zurück und nimmt seitdem erst allmählich wieder zu; das Niveau von 1990 hat er noch nicht wieder erreicht. Die Abwicklung der „alten Chemie“ und der Konsolidierungskurs der Großunternehmen schlagen sich besonders in ihrem abnehmenden Beschäftigtenanteil nieder. Anders im Pharmasektor, der im Zuge der Konzernumstrukturierung ausgebaut wurde: Umsatz- und Beschäftigtenanteil der sechs Großen sind gewachsen. Der Konzernumbau hat in dieser Verschiebung seine Spuren hinterlassen.

[1] Auf Basis der Unctad-Daten für transnationale M&A-Aktivitäten der Jahre 2009-2015 nach Wirtschaftssektoren ergibt sich ein Anteil der Chemie-Branche („Chemicals and chemical products“) bei den Akquisitionen von 17,5 Prozent am Gesamtvolumen der M&A – der höchste Wert im industriellen Sektor („manufacturing“); die Finanzbranche dominiert mit 38 Prozent vom Gesamtvolumen. Ber. n. UNCTAD, World Investment Report 2016, S. 207.

[2] Ber. n. IMAA, M&A Statistics 2016.

[3] Vgl. FAZ v. 10. und 11.12.2015. Damit hatten sich die Investoren gegen den DuPont-Vorstand, der ausgewechselt wurde, durchgesetzt.

[4] Handelsblatt v. 11. 3. 1998. Der Umbau setzte in den USA schon Ende der 80er Jahre ein. Die Vereinigungskonjunktur nach Angliederung der DDR hatte – im Vergleich zur US- oder der Schweizer Chemie – den Anpassungsdruck für die deutsche Chemieindustrie Anfang der 1990er Jahre gemildert.

[5] Sandoz hatte im Vorjahr seine gesamte Chemikaliensparte verkauft und sich durch Zukauf eines amerikanischen Babynahrungsherstellers als Pharma- und Nahrungsmittelkonzern präsentiert. Nach der Fusion zu Novartis wurden Cibas Spezialchemie-Sektoren ihrerseits abgespalten; sie wurden später mit der ausgegliederten Spezialchemie von Hoechst in dem neuen Konzern Clariant zusammengeführt. Die 1999 ausgegliederte Agrarsparte von Novartis wurde mit der Agrarchemie von AstraZeneca zu dem neuen Konzern Syngenta fusioniert, der nunmehr von ChemChina übernommen werden soll.

[6] Vgl. Alfred D. Chandler, Shaping the industrial Century. The remarkable Story of the Evolution of the Modern Chemical and Pharmaceutical Industries, Cambridge/London 2005, S. 140ff.

[7] Raimond G.Stokes, Opting for Oil. The Political Economy of Technological Change in the West-German Chemical Industry, 1945-1961, Cambridge 1994, S. 244ff.

[8] Die Vorstände der drei großen Chemiekonzerne – Mitte der 1990er Jahre übrigens keine Chemiker mehr, sondern Volks- (Dormann, Hoechst) oder Betriebswirte (Schneider, Bayer) bzw. Juristen (Strube, BASF) – sprachen die Probleme offen an. Der ehemalige Hoechst-Konzernchef Hilger konstatierte: „Wir haben eine stark verflochtene und bis zu den Vorprodukten integrierte Produktion. Was früher ein Vorteil war, stellt heute eine Belastung dar.“ Schneider erklärte seine Bereitschaft, die „alte Chemie“ abzustoßen, sehr einfach: „Wir sind ein Unternehmen, das zuerst die Aufgabe hat, Gewinne zu machen.“ Der Spiegel 18/1997, S. 109 ff.

[9] Handelsblatt v. 27.1.2004, FAZ v. 29.1.2004.

[10] Handelsblatt v. 9.8.1996.

[11] Die alte ICI (Imperial Chemical Industries), 1926 in der Konkurrenz zu Du Pont und den IG Farben aus britischen Chemiefirmen zu einem der größten britischen Monopole fusioniert, wurde nach langem Niedergang 2007 von Akzo Nobel übernommen und endgültig zerlegt. Dazu Chandler, a.a.O., S. 253ff. ICI hatte sich in den 1990er Jahren auf Spezialchemie konzentriert, ihre Grundchemie verkauft und 1993 die Pharmasparte unter dem Namen Zeneca ausgegliedert. Aus Zeneca entstand nach Fusion mit dem schwedischen Pharmakonzern Astra (1999) einer der größten Pharma-Konzerne (AstraZeneca). Der Henkel-Konzern übernahm bei der Fledderung der ICI von Akzo einen Teil des ICI-Geschäfts (Klebstoffsparte) für 4 Mrd. Euro. Siehe Handelsblatt v. 13.8.2007.

[12] Chandler, a.a.O., S. 143.

[13] U.a. 2000 die Agrarchemie-Sparte von American Home Products (3,8 Mrd. USD); 2006 die Bauchemie-Sparte von Degussa (2,2 Mrd. Euro); im gleichen Jahr die US-amerikanische Engelhardt-Corporation (Katalysatoren; 3,8 Mrd. Euro); 2010 den Schweizer Konkurrenten Cognis(3,1 Mrd. Euro) und 2016 die aus der alten Metallgesellschaft hervorgegangene und zwischenzeitlich mehrfach verkaufte Chemetall(3,2 Mrd. Euro) Übersicht FAZ v. 18.6.2016.

[14] Ein fallender Preis für Öl als Vorprodukt für die Herstellung von Massenchemikalien sollte eigentlich günstig für den Chemiekonzern sein. Gegenwärtig führte er jedoch zum Preisverfall auch für die Chemieprodukte und zusätzlich zu einbrechender Nachfrage, da die Abnehmer auf weiter fallende Preise spekulierten und keine Läger aufbauten. Damit verschärft sich das Problem der Überkapazitäten, die entscheidenden Skalenvorteile der Großproduktion gehen verloren.

[15] FAZ v. 28.7.2016.

[16] FAZ v. 7.9.2016, nach Berechnungen von Keppler Chevreux.

[17] Vgl. die Konzernbiographien bei Chandler, a.a.O., S. 177ff.

[18] FAZ v. 11.12.2015.

[19] VCI, Die deutsche chemische Industrie 2030. VCI-Prognos-Studie 2015/2016, S. 27ff.

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