Kapitalismus und Migration II

„Mit Recht gegen Grenzen"

Juridische Kämpfe um das EU-Grenzregime

von Maximilian Pichl
Juni 2016

*

I. Einleitung

Die aktuellen Auseinandersetzungen um das EU-Grenzregime haben eine Renationalisierung der Diskurse und Praktiken um Migrations- und Asylpolitik bewirkt. Innerhalb der Europäischen Union haben Grenzschließungen und einseitig vollzogene Obergrenzen bei der Flüchtlingsaufnahme nicht nur dazu geführt, die von Geflüchteten frequentierte Balkan-Route zu schließen, sondern die europäische Freizügigkeit insgesamt infrage gestellt. Bemerkenswert ist, wie selbstverständlich politische Akteure davon ausgehen, die Flüchtlingspolitik rein nationalstaatlich gestalten zu können. Die deutsche Bundesregierung verabschiedete innerhalb dieses Kontextes eine Kaskade an Asylrechtsverschärfungen (vgl. Hohlfeld 2016). Vergessen werden die Entwicklungen der vergangenen dreißig Jahre, die durch Rechtsänderungen der EU und strategisch geführte juridische Kämpfe vor den europäischen Gerichten ein genuin transnationales Asylrecht hervorgebracht haben.

Gerade in Zeiten der Krise ist es wichtig, auf die historische Kontingenz der Entwicklungen zu verweisen. Ein Blick auf die Entwicklung des EU-Grenzregimes zeigt, wie widersprüchlich und umkämpft die Flüchtlingspolitik war und bis heute noch ist. Ich möchte daher einige bedeutsame Elemente des EU-Grenzregimes bis zum so genannten „Sommer der Migration“ (vgl. Speer/Kasparek 2015) im August und September 2015 in gebotener Kürze nachzeichnen. Mein verbindendes Element sind hierbei die rechtlichen Kämpfe um die europäische Migrationspolitik und die Verlagerung der Migrations- und Fluchtrouten durch die MigrantInnen, die immer wieder eigensinnig auf repressive Grenzschließungen reagiert haben (vgl. Buckel 2013). Ich möchte zeigen, dass die Geschichte des EU-Grenzregimes zugleich eine Geschichte der Emergenz eines europa- und völkerrechtlichen Projektes ist. Im Gegensatz zu den 1990er Jahren, als der damalige Asylkompromiss zu einer Aushöhlung des Rechts auf Asyl geführt hat (vgl. Kannankulam 2014), lässt sich zeigen, dass in der heutigen EU Grenzabschottung nicht allein nationalstaatlich funktionieren kann. Entsprechend sind auch die Strategien von progressiven Akteuren, die die Abschottung der EU aufheben wollen, stark auf transnationale Rechtskämpfe fokussiert. Die historische Darstellung ist zwangsläufig unvollständig und wird sich auf tragende Elemente des Grenzregimes konzentrieren, die für ein Verständnis der aktuellen Krise der Migrations- und Asylpolitik relevant sind.

Freilich sind menschenrechtsbasierte Politiken ambivalent (vgl. Pichl/Vester 2015): Schon der Verfassungsrechtler Otto Kirchheimer hat hinsichtlich gewerkschaftlicher Kämpfe in der Weimarer Republik vor einer „Entpolitisierung“ durch Recht gewarnt. Innerhalb der rechtlichen Arena würde „jeder tatsächlichen, jeder Machtentscheidung auszuweichen versucht […], alles wird neutralisiert dadurch, daß man es juristisch formalisiert“ (Kirchheimer 1976: 36f.). Hinter dieser Analyse steht die durchaus zutreffende Annahme, dass innerhalb gerichtlicher Auseinandersetzungen komplexe gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse mitunter ausgeblendet werden. Der Komplex sozialer und ökonomischer Machtverhältnisse innerhalb des Nord-Süd-Verhältnisses ist schlicht nicht durch juridische Verfahren repräsentierbar. Ein Rechtsfall verlangt vielmehr nach einem klaren Sachverhalt, rechtlicher Verantwortlichkeit und einklagbaren Rechten.

Zugleich ist jedoch zu konstatieren, dass die Bezugnahme auf das Recht gleichsam ein Ausdruck aktueller Kräfteverhältnisse ist. Progressive und linksradikale Akteure in der EU verfügen oft nur über schwache soziale Bewegungen und kollektive Akteure, die außerhalb der Gerichtssäle Machtentscheidungen herbeiführen können. Wie schon Ingeborg Maus konstatiert, ist „ziviler Ungehorsam“ heute auf Gerichte ausgerichtet und die Skandalisierung öffentlicher Probleme erfolgt nicht im Vorfeld von politischen Entscheidungen, sondern stets nachträglich, um Öffentlichkeit für Gerichtsentscheidungen zu schaffen (Maus 2011: 354) – ein Umstand, den Maus explizit kritisch sieht, wobei sie einen problematischen Machtzuwachs der Gerichte gegenüber den politischen Arenen beobachtet. Zugleich ist die Bezugnahme auf das Recht und insbesondere die Menschenrechte nicht nur Ausdruck von Strategien: Denn das Recht selbst ist Ausdruck von Kräfteverhältnissen und sozialen Auseinandersetzungen. In den Menschenrechten manifestieren sich bereits gewonnene soziale und bürgerrechtliche Kämpfe, die zu Konzessionen von Herrschaftsprojekten gegenüber Subalternen geführt haben. Schon Karl Marx beschrieb im „achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“, wie sich die Instrumente der Bourgeoisie als immanente Kritik und Maßstab gegen sie selbst wandten: „Der Rednerkampf auf der Tribüne ruft den Kampf der Preßbengel hervor, der debattierende Klub im Parlament ergänzt sich notwendig durch debattierende Klubs in den Salons und in den Kneipen, die Repräsentanten, die beständig an die Volksmeinung appellieren, berechtigen die Volksmeinung, in Petitionen ihre wirkliche Meinung zu sagen. Das parlamentarische Regime überläßt alles der Entscheidung der Majoritäten, wie sollen die großen Majoritäten jenseits des Parlaments nicht entscheiden wollen?“ (Marx 1960 [1852]: 154)

Die fehlende organisatorische Kraft der Linken innerhalb der politischen Sphäre, lässt sich zumindest insoweit juridisch kompensieren, als dass ein Gerichtsurteil mit Konsequenzen ausgestattet ist. Ein gewonnener rechtlicher Kampf hat Auswirkungen auf die Kräfteverhältnisse und kann Irritationen und Dynamiken innerhalb der politischen Arena auslösen. Eine politologisch informierte Analyse rechtlicher Kämpfe ist deshalb unerlässlich, um eine Geschichte sozialer Kämpfe zu beschreiben – gerade auch der Kämpfe um die europäische Migrationspolitik.

II. Die Genese des EU-Grenzregimes

Die Migrations- und Asylpolitik war bis Ende der 1990er Jahre eine reine nationale Aufgabe. Zwar fanden an den nationalen Außengrenzen durchaus Maßnahmen der Grenzabschottung statt. Dennoch konnten MigrantInnen Anfang der 1990er Jahre beispielsweise über die Straße von Gibraltar von Marokko nach Spanien gelangen, ohne wie heutzutage lebensgefährliche Überfahrten zu riskieren. Freilich waren die in Spanien ankommenden MigrantInnen sodann illegalisiert und ohne gewerkschaftliche Vertretung weitestgehend rechtlos gestellt.

Der Abbau der Binnengrenzkontrollen innerhalb der Europäischen Union evozierte gleichsam das Verlangen nach einer gemeinsam koordinierten Asyl- und Migrationspolitik nach außen. Der ehemalige deutsche Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) umschrieb diesen neuen Modus der Grenzpolitik wie folgt: „In einem Europa, in dem an den Binnengrenzen nicht mehr kontrolliert wird, werden die Grenzen jedes Mitgliedstaates an den gemeinsamen Außengrenzen überwacht. Das ist das Prinzip europäischer Integration.“[1]

Durch den Amsterdamer Vertrag von 1997 erhielt die EU die Gesetzgebungskompetenz für migrations- und asylrechtliche Fragen. Dies stellte eine wegweisende Entscheidung dar, denn das Europarecht ist im internationalen Vergleich ein transnationales Recht sui generis. Das Europarecht ist gegenüber dem nationalen Recht direkt vorrangig und wirksam. Die auf europäischer Ebene erlassenen Verordnungen und Richtlinien wurden daher sukzessive in das deutsche Asylrecht umgesetzt, um keine Rechtswidrigkeit der nationalen Regeln mit europäischem Recht zu bewirken.

Die Europäische Union hat ab Anfang der 2000er Jahre eine Vielzahl an asylrechtlichen Regularien erlassen. Die Qualifikationsrichtlinie[2] stellt gemeinsame Standards für alle EU-Staaten auf, unter welchen Voraussetzungen Asylsuchenden ein internationaler Flüchtlingsstatus zu gewähren ist. Der europäische Flüchtlingsbegriff ist weiter gefasst als der deutsche und bezieht auch nicht-staatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung sowie unter besonderen Umständen die Verletzung sozialer Menschenrechte[3] mit ein. Durch die Aufnahme- und Asylverfahrensrichtlinie[4] wurden zudem Standards verabschiedet, die das Asylverfahren und die dort geltenden Rechtsansprüche von Schutzsuchenden betreffen. In mancher Hinsicht waren die europarechtlichen Regeln progressiver als die deutsche Rechtsprechung und Asylgesetzgebung.[5] Dennoch setzten die deutschen Bundesregierungen in der Vergangenheit viele subjektive Rechtsansprüche von Asylsuchenden, bspw. eine angemessene Gesundheitsversorgung, nicht adäquat in das deutsche Recht um, sodass langwierige Streitigkeiten vor den deutschen Verwaltungsgerichten folgten. Zugleich wurden jedoch, neben den rechtlichen Verbesserungen für Flüchtlinge und Schutzsuchende, ebenfalls zahlreiche Rechtspakete verabschiedet, die eine Abschottung der EU gegenüber Flüchtlingen und MigrantInnen zum Ziel hatten.

1. Politik der Auslagerung von Grenzkontrollen

Spanien war historisch betrachtet Anfang der 2000er Jahre eines der Hauptzielländer von MigrantInnen, insbesondere aus den nordafrikanischen und subsaharischen Staaten. Dies hängt auch mit der spezifischen Situation der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla zusammen. Beide Städte stellen das einzige europäische Territorium auf afrikanischem bzw. marokkanischem Boden dar. Wer dort hingelangt, hat die Möglichkeit, einen Asylantrag in der Europäischen Union zu stellen. Schon in den 1990er Jahren wurde zur Abwehr illegalisierter Migration ein Zaun in beiden Exklaven mit finanzieller Unterstützung der EU gebaut, der zu einer wirkmächtigen Ikonographie der öffentlichen Skandalisierung einer „Festung Europa“ wurde. Doch der Festungsbegriff hat seine Tücken und zielt an der komplexen Struktur des EU-Grenzregimes vorbei: „Die griffige Formulierung von der Festung Europa ist ihrerseits zum Mythos erstarrt. Die Metapher hat sich überlebt, sie ist zu harmlos. Europa hat keineswegs defensiv seine Brücken hochgezogen. Was einst Grenzschutz hieß, ist heute territorial entgrenzt; das so genannte integrierte Grenzmanagement findet weit im Vorfeld Europas statt (Wiedemann 2009: 12).“

Aus spanischer Perspektive bedeutet „integriertes Grenzmanagement“, dass der spanische Staat durch Verträge und Vereinbarungen mit west- und nordafrikanischen Staaten die Migrationskontrolle sukzessive auslagert. Heutzutage operiert spanisches Grenzpersonal direkt in Mauretanien oder dem Senegal und arbeitet dort mit den lokalen Grenzeinheiten zusammen, um das Ablegen von Flüchtlingsbooten bereits in afrikanischen Gewässern zu verhindern. Die Kooperation zielt darauf ab, unter allen Umständen zu verhindern, dass Schutzsuchende spanische Gewässer erreichen, da sie dann einen Anspruch auf Zugang zum Asylverfahren nach europäischem Recht haben. Zur Unterstützung der spanischen Strategie operiert auch die EU-Grenzagentur Frontex in den spanischen Gewässern, um die See zu überwachen.

Spanien hat heutzutage eines der effektivsten Grenzregime in der EU. Folglich war es vielen Flüchtlingen und MigrantInnen nicht mehr möglich, über Ceuta und Melilla nach Europa zu gelangen. Jedoch versuchten es 2005 erneut über 11.000 Menschen. Die Zaunanlagen wurden danach noch stärker befestigt. Die Fluchtrouten verlagerten sich immer mehr in andere nordafrikanische Staaten, z.B. nach Libyen. Bezüglich der Grenzanlagen in Ceuta und Melilla gibt es in den letzten Jahren auch rechtspolitisch deutliche Bewegung. Der spanische Staat verfolgt das Konzept der „heißen Rückführung“, d.h. Flüchtlinge dürfen keinen Asylantrag in Spanien stellen, sofern sie nicht die meterhohen und mit Stacheldraht bewehrten Zäune und etwaige dahinerstehende Polizeiketten überwunden haben. Aktuell ist vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg eine Klage von zwei Personen anhängig, die im August 2014 im Rahmen einer „heißen Rückführung“ nach Marokko zurückgeschoben wurden, nachdem sie den Zaun bei Melilla bereits überwunden hatten. Der EGMR wird zu prüfen haben, ob diese spanische Praxis gegen das Verbot der Kollektivausweisungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt (Vgl. Rau 2016).

2. Torwächterpolitik im Mittelmeer

Die Migrations- und Fluchtrouten verlagerten sich also von Spanien weg und führten sodann über Libyen als Transitstaat, insbesondere ab dem Jahr 2006. Die Überfahrten über das Mittelmeer rückten auf einmal Italien und Malta in den Fokus. Die damalige italienische Regierung unter Silvio Berlusconi verhandelte mit Libyens Regierungschef Muammar al Gaddafi. Gegen die Zahlung von 4 Milliarden Euro im Rahmen eines „Freundschaftsvertrags“ sollte Libyen seine Grenzgewässer überwachen und Personen von der Weiterfahrt abhalten. Auch in Tunesien verhandelte die EU. Berühmt wurde u.a. ein Fall tunesischer Fischer, die 2007 mehrere Menschen aus Seenot retteten und in italienische Häfen verbrachten. Statt als Lebensretter gefeiert zu werden, kriminalisierte sie der italienische Staat, Inhaftierungen und hohe Geldstrafen folgten. Durch die erneute Abriegelung eines Zugangswegs nach Europa verlagerten sich die Routen nun über die Türkei und von dort nach Griechenland und Bulgarien.

Dennoch gelang es immer wieder einzelnen Schiffen, die libyschen Kontrollen zu umgehen. Eines dieser Schiffe wurde 2009 von der italienischen Marine aufgebracht und mit über 200 Personen an Bord nach Libyen zurückgeschifft (vgl. Pichl/Vester 2015). 23 der betroffenen Flüchtlinge klagten daraufhin vor dem EGMR mit Unterstützung von vielen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen (Rechtssache Hirsi u.a. gegen Italien).[6] Sie rügten ihre kollektive Abschiebung ohne individuelle Prüfung ihrer Fluchtgründe und dass der italienische Staat sie in Libyen lebensbedrohlichen Gefährdungen ausgesetzt habe, z.B. der Folter in Gefängnissen. Noch während des Verfahrens ereignete sich der arabische Frühling. In vielen Staaten, darunter auch Libyen, wurden die Machthaber gestürzt. Die Torwächterpolitik der EU geriet zunehmend unter Druck und kollabierte schließlich. Zugleich entschied der EGMR in vollem Umfang für die Kläger und gegen den italienischen Staat. Italien habe auf dem Mittelmeer eine effektive Hoheitskontrolle über die Kläger innegehabt und ihnen durch die Rückschiebung den Zugang zum Asylverfahren verwehrt. Das Urteil ließ das souveränitätsrechtliche Denken – das die Staatsgewalt dort aufhöre, wo die Land- oder Seegrenze endet – implodieren. Auch auf der Hohen See habe der Staat gewisse Kontrollbefugnisse, übe Hoheitsgewalt aus und sei damit auch vollumfänglich an Grund- und Menschenrechte gebunden. Das Hirsi-Urteil ist heute ein wirksamer rechtlicher Maßstab, der Grenzabwehrmaßnahmen von EU-Staaten der Kritik zugänglich macht und die Staaten zwingt mit dem Urteil konforme Regelungen auszugestalten.

Der EGMR und die Aufstände in der nordafrikanischen und arabischen Welt fügten dem Europäischen Grenzregime Risse zu. Nach dem Urteil war der italienische Staat gezwungen, Menschen aus Seenot in eigene Häfen zu verbringen. Die im Jahr 2013 einsetzende Militäroperation Mare Nostrum rettete über 150.000 Menschen das Leben – bis sie auf Druck EU und insbesondere der deutschen Bundesregierung eingestellt wurde. Einer Studie der Goldsmith University in London zufolge, die zahlreiche EU-Dokumente ausgewertet hat, gingen die EU-Behörden und Frontex davon aus, dass der Rückzug des italienischen Staates aus dem Mittelmeer zu mehr Todesfällen führen würde. Im April 2015 ereignete sich die bis dato größte Katastrophe mit 800 toten Flüchtlingen. Nach Ansicht der Studienherausgeber Charles Heller und Lorenzo Pezzani hatte die Abschreckung klaren Vorrang vor der Rettung von Menschenleben.[7] Die Vorgaben des Hirsi-Urteils, Flüchtlinge zu retten und ihnen einen Zugang zum Asylverfahren zu gewähren, wurden durch die EU und ihre Mitgliedstaaten unter Kenntnis aller Umstände umgangen.

3. Juridische Erfolge gegen die Dublin-Verordnung

Die neuen Fluchtrouten führten ab 2007 über Griechenland in die EU. Der Schwerpunkt rechtlicher Kämpfe gegen das Grenzregime lag seit dem auf dem Widerstand gegen die Dublin-Verordnung (vgl. Oeser/Pichl 2015). Nach dieser müssen Flüchtlinge ihren Asylantrag im ersten Staat stellen, über den sie die EU betreten haben. Deshalb wurden insbesondere die Außengrenzenstaaten wie Griechenland, Italien, Bulgarien oder Malta für Asylanträge zuständig. Doch in Griechenland gab es zu diesem Zeitpunkt kein wirksames Asylsystem, vielmehr wurden Flüchtlinge willkürlich inhaftiert, da es an geeigneten Unterbringungszentren mangelte. Zugleich führte die einsetzende Wirtschaftskrise dazu, dass Griechenland noch weniger in der Lage war, die Aufnahme der Flüchtlinge zu organisieren. Durch das No-Border Camp auf Lesbos 2009 konnten inhaftierte Flüchtlinge und ihre Unterstützer die unmenschlichen Haftbedingungen öffentlich skandalisieren. Menschenrechtsorganisationen aus der gesamten EU dokumentierten Rechtsverstöße und forcierten Klagen vor den europäischen Gerichten. Der EGMR entschied 2011, dass Asylsuchende nach der Dublin-Verordnung nicht mehr nach Griechenland überstellt werden dürfen. Deutschland und andere Staaten wurden daraufhin für die Asylanträge von Flüchtlingen, die in Griechenland registriert waren, zuständig.

4. Die Revitalisierung des Grenzregimes: Umgehung menschenrechtlicher Erfolge

Die kurze Darstellung der vergangenen rechtspolitischen Kämpfe hat zweierlei gezeigt: Erstens ist es mit menschenrechtsbasierten Politiken zumindest gelungen, gewisse Mechanismen des EU-Grenzregimes auszuhöhlen oder sogar außer Kraft zu setzen. Zweitens haben die Flüchtlinge und MigrantInnen auf die repressive Hochrüstung der Grenze oder auf die Einbindung von Drittstaaten in das Grenzregime der EU immer wieder mit der Verlagerung der Routen reagiert. Wie Christian Jakob feststellt, ist die Migration eine „egalisierende Bewegung. Und solange die Aussichten auf eine Existenz, eine Perspektive vor und hinter Europas Toren so ungleich verteilt sind, so lange wird die Migration stark sein.“ (Jakob 2016)

Trotz der rechtlichen Erfolge und der Verlagerung der Migrationsrouten versucht die EU aktuell Mechanismen der Grenzabschottung erneut zu revitalisieren. Der EU-Türkei-Deal mit dem AKP-Regime von Recep Tayyip Erdogan ist quasi die Neuauflage des vergangenen Italien-Libyen-Abkommens. Erneut kooperiert die EU mit einem autoritären Regime, das im eigenen Land Menschenrechte systematisch verletzt und gegen die kurdische Bevölkerung einen mörderischen Krieg führt. Ob auch dieses Mal die Instabilität des türkischen politischen Systems zu einem Zusammenbruch des EU-Grenzregimes führen wird, hängt entscheidend von den sozialen Kräften in der Türkei ab, die auf ein emanzipatorisches Zusammenleben drängen.

Rechtliche Strategien alleine dürften kurzfristig nicht helfen. Zwar ist der Deal so ausgestaltet, dass er einen klaren Bruch mit dem Hirsi-Urteil des EGMR darstellt – so werden Flüchtlinge in die Türkei verbracht, ohne ein faires Asylverfahren in Anspruch nehmen zu können. Dennoch zeigen die vergangenen rechtspolitischen Kämpfe, dass das Recht mitunter lange braucht und oft nur eine Kritik vergangener repressiver Praktiken darstellt. Zugleich darf auch nicht vergessen werden, wie es der Asylrechtsanwalt Matthias Lehnert auf den Punkt bringt, dass zur wesentlichen Grundlage des EU-Grenzregimes „ein institutionalisierter Rassismus [gehört], der das kodifizierte Recht als nützliche und effektive Ausgangsbasis und Legitimationsgrundlage hat“. (Lehnert 2015: 19f.)

III. Die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Kraft

Nach dem kurzen „Sommer der Migration“ 2015 verfolgt die EU erneut einen klaren Kurs der Grenzabschottung. Unter Aufbringung aller Mittel wird versucht, Wege in die EU abzuschneiden. Zwar dürften diese Strategien nicht vollends aufgehen; auch weiterhin werden Menschen in die EU gelangen. Dennoch zeigt sich, dass rechtspolitische Kämpfe alleine nicht weiterhelfen werden. Es bedarf gleichsam einer sozialen, kollektiven Kraft, die in der Lage ist, emanzipatorische Politik auch fernab der rechtlichen Arenen durchzusetzen. Die Niederlage der griechischen SYRIZA-Regierung in der Finanzkrise verdeutlicht dabei die Grenzen, mit denen auf den Nationalstaat bezogene strategische Ansätze verbunden sind.

Doch gerade in der Flüchtlingspolitik zeigen sich auch progressive Ansätze. So wurde auf Initiative der linken Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, ein Abkommen zwischen der spanischen Stadt, dem italienischen Lampedusa und dem griechischen Lesbos getroffen. Da der spanische Staat weiterhin nicht zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit ist, hat sich Barcelona eigenständig bereit erklärt 300.000 Euro humanitäre Soforthilfe an die beiden Inseln zu leisten und strukturelle Unterstützung vor Ort in Form von Beratungen für Flüchtlinge und wirtschaftlichem Aufbau zu organisieren. Innerhalb Spaniens organisieren sich bereits einige Städte unter dem Slogan „Städte der Zuflucht“ (vgl. Scheer/Hofmann 2016) und stimmen gegenseitig die Flüchtlingsaufnahme und Sozialpolitik miteinander ab. Ein Europa von unten, ausgehend von den sozialen Kämpfen in den Kommunen und solidarisch mit anderen europäischen Städten, könnte eine progressive Antwort auf das alte Europa der Nationen sein.

Literatur

Buckel, Sonja (2013): „Welcome to Europe“. Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts, Bielefeld.

Hohlfeld, Thomas (2016): Chronik einer fortgesetzten Asylverschärfung. In: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung 105 (März 2016), S. 95-105.

Jakob, Christian (2016): Fluchtrouten verändern sich. Es gibt immer einen Weg nach Europa. In: taz vom 11.4.2016, URL: http://taz.de/Fluchtrouten-veraendern-sich/!5290656/.

Kasparek, Bernd/Speer, Marc (2015): Of Hope. Ungarn und der lange Sommer der Migration. URL: http://bordermonitoring.eu/ungarn/2015/09/of-hope/.

Kirchheimer, Otto (1976): Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus. In: ders., Von der Weimarer Republik zum Faschismus: Die Auflösung der demokratischen Rechtsordnung, Frankfurt am Main, S. 32-52.

Lehnert, Matthias (2015): Kämpfe ums Recht. Neue Entwicklungen im europäischen Flüchtlings- und Grenzschutzrecht. In: movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung 1 (1). http://movements-journal.org/issues/ 01.grenzregime/06.lehnert--kaempfe-ums-recht.html.

Marx, Karl (1960 [1852]): Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: ders./Engels, Friedrich – Werke, Band 8, Berlin/DDR.

Maus, Ingeborg (2011): Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, Berlin.

Oeser, Adrian/Pichl, Maximilian (2015): Mit Recht gegen Recht. In: Hinterland Magazin 29, S. 29-31.

Pichl, Maximilian/Vester, Katharina (2015): Auf den Spuren eines Urteils. Der Hirsi-Fall und das Projekt der Menschenrechte in der Moderne. In: Freie Assoziation 18(1), S. 15-42.

Rau, Simon (2016): „The Borderis not where the Borderis” – Die spanisch-marokkanische Grenze als Beispiel des europäischen Grenzregimes. In: Forum Recht 1/2016, S. 23-27.

Scherr, Albert/Hofmann, Rebecca (2016): Sanctuary Cities: Eine Perspektive für deutsche Kommunalpolitik? In: Kritische Justiz 1/2016, S. 86-97.

Wiedemann, Charlotte (2009): Mythen der Migration. In: Le Monde Diplomatique Juni 2009.

* Vortrag bei der Marxistischen Studienwoche 2016, Frankfurt/M., 17. März 2016.

[1] Vgl. „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 29.3.2007.

[2] Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011, ABl. EU vom 20.12.2011, Nr. L 337/9.

[3] Art. 9 EU-Qualifikationsrichtlinie.

[4] Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180 vom 29.06.2013, S. 96); Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180 vom 29.06.2013, S. 60).

[5] Insbesondere bei der Inhaftierung von Asylsuchenden stellen die Richtlinien jedoch einen Rückschritt gegenüber dem deutschen Haftregime dar.

[6] EGMR, Urteil vom 23.02.2011, Hirsi u.a. gegen Italien, Nr. 27765/09.

[7] Vgl. „Death by Rescue – The Lethal Effects of the EU`s Policiesof Non-Assistance at Sea, http://www.statewatch.org/news/2016/apr/eu-death-by-rescue-summary-for-%20press-final.pdf.

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