Buchbesprechungen

MEGA IV/26: Marx’ Exzerpte zur Geologie

von Rainer Holze zu Karl Marx
Dezember 2011

Karl Marx/Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA). Hrsg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung Amsterdam. Vierte Abteilung, Exzerpte, Notizen, Marginalien, Band 26: Karl Marx, Exzerpte und Notizen zur Geologie, Mineralogie und Agrikulturchemie, März bis September 1878, bearbeitet von Anneliese Griese, Peter Krüger und Richard Sperl, unter Mitwirkung von Peter Jäckel, Daniel Neuhaus, Manfred Neuhaus und Gerd Pawelzig, Akademie Verlag, Berlin 2011, Text und Apparat, 1104 S., 168 €

Für die Forschung ist es kein Geheimnis, dass sich Marx in seinen letzten Lebensjahren mit Verve naturwissenschaftlichen Studien gewidmet hat. Dass wir über seine einschlägigen Unternehmungen zuverlässig unterrichtet sind, verdanken wir in hohem Maße Anneliese Griese und ihren getreuen Helfern. Die Berliner Philosophiehistorikerin gilt nicht nur als Spiritus rector der vieldiskutierten Neuedition von Engels’ Manuskripttorso „Dialektik der Natur“ in der Marx-Engels-Gesamtausgabe1, sondern hat die Fachwelt nach Beendigung ihrer Lehrtätigkeit an der Humboldt Universität auch durch die Veröffentlichung der naturwissenschaftlichen Exzerpte und Notizen von Marx und Engels aus den Jahren 1877 bis 1883 überrascht.2

Im vorliegenden neuesten Band der Marx-Engels-Gesamtausgabe werden die vor 133 Jahren in London entstandenen und seit sieben Jahrzehnten im Amsterdamer Instituut voor Sociale Geschiedenis verwahrten Exzerpte von Marx zu Geologie, Mineralogie und Agrikulturchemie erstmals veröffentlicht.

Es mag kaum verwundern, dass Engels es war, der als erster über diese – für Außenstehende auf den ersten Blick fast exotisch anmutenden – Handschriften aus dem literarischen Nachlass seines 1883 verstorbenen Freundes berichtet hat. So erwähnt er in dem 1892 für das „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“ verfassten Beitrag über Marx neben dessen Studien zur Urgeschichte, Agronomie, russischen und amerikanischen Grundbesitzverhältnissen auch die Geologie. Marx habe sich damit befasst, so Engels’ damalige Interpretation, „um namentlich den Abschnitt des III. Buches des ,Kapital’ über Grundrente in einer bisher nicht versuchten Vollständigkeit auszuarbeiten“. Bevor versucht wird, diese Studien in einen werk- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext zu rücken, soll zunächst ihr Inhalt skizziert werden.

Es handelt sich um zwei Notizbücher und ein Notizheft aus dem Frühling und Sommer 1878, die im vorliegenden Band gemäß dem philologischen Kanon der MEGA ediert werden, nämlich so, wie Marx sie hinterlassen hat. Am umfangreichsten sind mit 540 Druckseiten die Auszüge aus dem „Student’s manual of Geology“ (S. 139–679)3 des Darwinfreundes Joseph Beete Jukes (1811–1869), der an großen maritimen Forschungsreisen um Australien teilgenommen hatte, bevor er in den Dienst des Geological Survey of Ireland trat und an der Londoner School of Mines lehrte. Die von Marx benützte dritte Auflage des Werkes hatte der spätere Präsident der Royal Society Sir Archibald Geikie (1835–1924) nach dem Tode des Autors aktualisiert, ergänzt, ja zu einem Kompendium des zeitgenössischen geologischen Wissens verdichtet. Ursprünglich als Lehrbuch für Studierende gedacht, konnte es deshalb auch jenen, die bereits auf wissenschaftlichem Gebiet tätig waren, als Handbuch bzw. Nachschlagewerk treffliche Dienste leisten. Der Leser trifft auf eine nicht nur für die Victorianischen Zeitgenossen moderne, von Darwins Evolutionskonzeption inspirierte und geprägte Gesamtdarstellung der sich als eigenständige Wissenschaftsdisziplin konstituierenden und zur Leitwissenschaft emporstrebenden Geologie.

Wie beeindruckt Marx von dieser Synthese des geologischen Wissens seiner Zeit war, mag die Tatsache erhellen, dass er das „Manual of Geology“ von Jukes und Geikie so gründlich und ausführlich wie kaum ein anderes naturwissenschaftliches Werk studiert hat.

In ihren Kommentaren rekonstruieren die Editoren akribisch, wie Marx dabei vorgegangen ist. Demnach wählte er eine von der Vorlage abweichende Reihenfolge. Er begann damit, Teil II (Geological agencies, or dynamical geology) zu exzerpieren, der die, wie Geikie im Vorwort akzentuiert, im Vergleich zu früheren Auflagen wichtigsten Neuerungen enthält, bevor er sich Teil III („Palaeontology) zuwandte. Dann erst folgten Teil I (Geognosy) mit den Abschnitten „Lithology“ und „Petrology“ und schließlich Teil IV (Stratigraphical geology). In den Exzerpten zu Teil II werden jene Kräfte und Prozesse beschrieben, die die Entstehung von Gesteinen und Gesteinsstrukturen in der Erdkruste bewirken und die Erdoberfläche formen. Während dessen sind die Auszüge aus Teil III dem Studium der Fossilien gewidmet und erörtern deren Bedeutung für das Verständnis der Aufeinanderfolge der erdgeschichtlichen Formationen. Marx’ besonderes Interesse galt den durch wissenschaftliche Expeditionen und Entdeckungsreisen gewonnenen Erkenntnissen der vergleichenden klimatologischen und meeresbiologischen Forschung. In den Exzerpten aus Teil I werden chemische Zusammensetzung und geometrische Formen von Mineralen, die Entstehung und Eigenschaften von Kristallen sowie die Prinzipien des Isomorphismus und die Metamorphose von Gesteinen behandelt. Außerdem werden jene Elemente und deren Verbindungen eingehend beschrieben, aus denen sich die Gesteine bilden. Dies alles geschieht insofern außerordentlich anschaulich, als Marx die Auszüge durch sechs Dutzend, im Textkorpus in schöner Form reproduzierte Handzeichnungen selbst illustriert hat. Bei den von Marx nach Vorlagen aus dem „Manual of Geology“ gezeichneten Abbildungen handelt es sich um geologische Profile und die für einzelne erdgeschichtliche Perioden charakteristischen Fossilien. Die ersten Illustrationen hat Marx mit schwarzer Tinte direkt ins Heft gezeichnet. Später hat er sie mit Bleistift auf Seidenpapier von der Vorlage abgepaust, die Linien nachgezogen und die auf diese Weise reproduzierten und ausgeschnittenen Abbildungen an die betreffenden Exzerptstellen geklebt. (Siehe dazu die Abbildungen auf den Seiten 1019/1020.)

Es seien wenigstens zwei Textproben erlaubt: Auf Seite 226 kommentiert Marx die säulenförmige Absonderung des langsam abkühlenden Basaltes und die dadurch entstehenden polyedrischen Säulen folgendermaßen: „Nicht nur die Sache selbst, sondern auch die Formen, im Menschenhirn entspringend zunächst aus den Naturformen, die ihm in der Arbeit entgegentreten, im activen Verhältniss (Produktions-) zur Natur. So hier die columnar (pillar) Form in Alt-Aegypten, Indien etc durch die Columns, die Monolithische Steine, in Folge der prismatischen Anordnung ihrer joints liefern. Joint = Fuge; joint of Stratification = Schichtungsfuge.“ (S. 451/452) Und an anderer Stelle lesen wir unter dem Rubrum „Practical importance of the Subject“: „Enorme Geldsummen verwüstet in coal-mining allein aus Unwissenheit hierüber; in Kenntniss Jukes’ allein Summen so verausgabt, die Revenue geben würden um jährliche Kosten des Geological Survey des United Kingdom zu zahlen. So costly shafts sunk, wo, wenn sie jemals durchbohren die Triassic u. Permian rocks, sie finden werden, dass Coal measures längst removed u. wo sie also stossen werden auf eine formation that lies below the Coalmeasures.“ (S. 478)

Die Exzerpte des vorliegenden Bandes, so resümieren die Editoren in der dem Kommentarband vorangestellten werk- und wissenschaftsgeschichtlichen Einführung, „widerspiegeln wesentliche Momente der Geschichte der Geologie, der mit ihr verbundenen Mineralogie und der Agrikulturchemie im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert. In seinen Studien rezipiert Marx jene theoretischen Positionen, die sich erst in langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern von James Hutton und Abraham Gottlob Werner, von Charles Lyell und Georges Cuvier durchgesetzt hatten, eine gewisse Synthese ehemals konkurrierender Theorien darstellen und die Basis für die moderne Geologie als historische Wissenschaft bilden.“ (S. 713)

Nach der Erstveröffentlichung von Marx’ eingangs erwähnten, zeitlich parallel entstandenen Studien zur Theorieentwicklung der Chemie im Band IV/31 der MEGA schloss der Rezensent des Werkes in der Fachzeitschrift „Angewandte Chemie“ seine Besprechung mit den Worten: „Beim Durchsehen und Durchblättern der Seiten dieses Buches drängt sich unwillkürlich die Frage auf, ob wohl heutige Philosophen ähnlich profunde Kenntnisse besitzen oder sich die Mühe gemacht haben bzw. sich machen, diese zu erwerben. An der Bedeutung der Transformation der Materie für die Gesellschaft hat sich ja nichts geändert, ja sie hat eher noch zugenommen. Dennoch traut man den zeitgenössischen Autoren eine ähnliche Leistung kaum zu, wie etwa die Äußerungen Sloterdijks zu Gentechnik und Molekularbiologie demonstrieren.“4 Man kann gespannt sein, ob der vorzüglich edierte, kommentierte und typografisch mustergültig gestaltete Band IV/26 der MEGA Anlass für ein ähnliches Votum von Fachvertretern der Geologenzunft sein wird.

Die hier erstmals veröffentlichten Studienmaterialien bezeugen Marx’ enormes Interesse an den empirischen Daten, dem im Analogieschluss für eigene Topoi (siehe Gesellschaftsformation) willkommenen begrifflichen Instrumentarium und der Klassifikation der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin.

Es ist evident, und in der Korrespondenz nicht nur mit Engels finden sich Belege dafür, welche Bedeutung Marx seinen naturwissenschaftlichen Studien bei der Arbeit an seinem ökonomischen Hauptwerk, insbesondere in Verbindung mit der Rentenproblematik, beigemessen hat. Es spricht allerdings einiges dafür, dass diese Studien auch darauf gerichtet waren, die theoretischen Prämissen seines Werkes zu präzisieren und sich dabei am methodischen Vorbild der Naturwissenschaften zu orientieren. Unabhängig davon bieten diese Exzerpte, so die Bearbeiter, einen tiefen Einblick in die Arbeitsweise von Marx. Sie dokumentieren die hohe Wertschätzung, die er den Naturwissenschaften entgegengebracht hat. Das mit diesen Exzerpten möglicherweise verbundene weitergehende Anliegen von Marx genauer zu analysieren, gehöre zu den noch offenen Forschungsfragen.

Rainer Holze

1 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA). Erste Abteilung, Werke, Artikel, Entwürfe, Band 26: Friedrich Engels: Dialektik der Natur (1873–1882), Bearbeitung des Bandes: Anneliese Griese, Friederun Fessen, Hella Hahn, Karl Heinig, Martin Koch und Gerd Pawelzig, Dietz Verlag, Berlin 1985, Text und Apparat 72*, 1111 S.; Richard Sperl, Der Beitrag von Anneliese Griese zur historisch-kritischen Edition der naturwissenschaftlichen Exzerpte von Marx und Engels. In: Karl Marx und die Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert, Berlin 2006, S.31–25 (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 2006).

2 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA). Hrsg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung Amsterdam. Vierte Abteilung, Exzerpte, Notizen, Marginalien, Band 31: Karl Marx/Friedrich Engels, Naturwissenschaftliche Exzerpte und Notizen Mitte 1877 bis Anfang 1883, bearb. von Anneliese Griese, Friederun Fessen, Peter Jäckel und Gerd Pawelzig, Akademie Verlag, Berlin 1999, Text und Apparat XV und 1055 S.

3 Daneben enthält der Band Exzerpte aus John Yeats’ „The natural history of the raw materials of commerce“, Friedrich Schoedlers noch heute verlegtem frühem Bestseller „Das Buch der Natur“, James Finlay Weir Johnstons „Elements of agricultural chemistry and geology“, dem „First Annual Report of the Bureau of Labor Statistics made to the General Assembly of Ohio for the year 1877“, Johann Gottlieb Koppes „Unterricht im Ackerbau und in der Viehzucht“ sowie der „Encyclopädie der gesammten theoretischen Naturwissenschaften“ von Matthias Jacob Schleiden und Ernst Erhard Schmid.

4 Henning Hopf, in: Angewandte Chemie, Weinheim, 114. Jg., 2002, H. 21, S. 4322.