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"Heer der Sklaven, wache auf!"

Zum Buch von Domenico Losurdo „Freiheit als Privileg"

Juni 2011

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Warum heute überhaupt eine Geschichte des Liberalismus schreiben? Gibt es den Liberalismus als relevante politische Strömung überhaupt noch? In der deutschen Politikwissenschaft spricht man gern vom „organisierten Liberalismus“ und meint damit die FDP. Meist wird dann mit Bedauern hinzugefügt, dass es um diesen „organisierten Liberalismus“ schlecht stehe. Bei Wahlen bekennen sich gerade einmal 5 Prozent der Wähler zur FDP. In anderen europäischen Ländern sieht es nicht besser aus. Überall steht der „organisierte Liberalismus“ bestenfalls an dritter Stelle, weit hinter Konservativen und Sozialdemokraten. Dieses Duopol beherrscht seit Jahrzehnten die Politik. Der „organisierte Liberalismus“ scheint ein Auslaufmodell zu sein, sogar sein traditioneller dritter Platz im Parteiengefüge wird ihm inzwischen von grünen Parteien bzw. von rechtspopulistischen Bewegungen streitig gemacht.

Auch für Domenico Losurdo hat der Liberalismus seine beste Zeit längst hinter sich. Seine Geschichte dieser geistigen und politischen Strömung lässt er 1914 enden: „Unsere Geschichte des Liberalismus endet mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als, nach Max Weber, auch in den Ländern mit der gefestigsten liberalen Tradition dem Staat ‘legitime Macht über Leben, Tod und Freiheit’ der Individuen und eine ‘schrankenloseste Verfügung über alle ihm zugänglichen Wirtschaftsgüter’ zuerkannt wird.“ (378) Losurdos Buch ist denn auch eine geisteswissenschaftliche Auseinandersetzung mit den großen liberalen Denkern des 18. und 19. Jahrhunderts, vor allem mit Alexis de Tocqueville aber auch mit Edward Burke, John Stuart Mill, Benjamin Constant und anderen. Es sind Politiker, Philosophen und Historiker, deren Namen heute nicht mehr geläufig sind und deren Werke nur noch wenige Experten kennen.

Und doch erregt diese Gegengeschichte des Liberalismus heute großes Interesse. In Italien erreicht das Buch, 2006 erstmals erschienen unter dem Titel Controstoria del liberalismo, nunmehr seine vierte Auflage. Inzwischen liegen auch brasilianische, spanische, deutsche und englische Übersetzungen vor. Große Aufmerksamkeit findet das Werk vor allem aber in den USA, jenem Land, dem sich Losurdo ausführlich widmet. Corey Robin, Autor von Fear, the History of a Political Idea, schreibt: „Jeder der glaubt, er kenne die Geschichte des Liberalismus wird überrascht und zur Korrektur gezwungen sein. Jede Seite ist ein Erlebnis.“

Mit dem Buch Freiheit als Privileg hat der italienische Philosoph Domenico Losurdo nicht allein eine Gegengeschichte des Liberalismus sondern zugleich ein Schlüsselwerk zum Verständnis der gegenwärtig herrschenden Ideologie vorgelegt.

Diese Aktualität erklärt sich daraus, dass zwar der alte Liberalismus als Ideologie heute nicht mehr prägend ist, umso mehr aber der Neoliberalismus. Wir erleben sogar eine Hegemonie dieses Neoliberalismus und zu Recht wird gesagt, dass längst nicht nur liberale sondern auch konservative, christdemokratische, sozialdemokratische und grüne Parteien wirtschafts- und sozialpolitisch von ihm vollkommen dominiert werden. Dabei ist der Neoliberalismus selbst ein vielschichtiger und schillernder Begriff. Als ökonomische Theorie handelt es sich um einen Etikettenschwindel, ist doch ein Zurück in das 19. Jahrhundert, in das Zeitalter des noch aus vielen freien und kleinen Einzelkapitalen bestehenden Kapitalismus, in die Epoche des staatsfernen Laissez faire, nicht möglich. Der von John A. Hobson, Rudolf Hilferding und Lenin am Anfang des 20. Jahrhunderts analysierte Umbruch des „freien Kapitalismus“ zum Finanzkapitalismus, zur permanenten Staatsintervention und hin zur aggressiven imperialistischen Politik nach außen ist irreversibel.[2] Wir leben weiterhin im Zeitalter dieses Imperialismus.

So ist der Neoliberalismus durch und durch Ideologie, da nur Widerschein einer ökonomisch längst vergangenen kapitalistischen Phase. Dennoch ist diese Ideologie äußerst einflussreich, da sie sich im Kern auf den klassischen Liberalismus beruft, eine Weltanschauung und Politik, die allgemein mit der Befreiung des Individuums, der rassischen und sexuellen Emanzipation, der Herstellung bürgerlicher Gleichheit und der Herausbildung der Demokratie in eins gesetzt wird. In seiner Gegengeschichte untersucht Losurdo dieses vom Liberalismus von sich selbst gezeichnete positive Bild. Er kritisiert dieses Selbstbildnis und kommt zum Ergebnis, dass es in keiner Weise der Realität entspricht. Losurdos Buch ist daher wichtig zum Verständnis der gegenwärtig herrschenden Ideologie des Neoliberalismus. Es ist ein äußerst aktuelles Buch.

Am Anfang steht die Sklaverei

Der Aufstieg des Kapitalismus ist undenkbar ohne die großen Entdeckungen des 15. und 16. Jahrhunderts, die dadurch mögliche Aufnahme des Fernhandels und die sofort einsetzende Unterjochung fremder Völker, ja ganzer Kontinente. Von Beginn an bedienen sich dabei die europäischen Eroberer der Sklaverei. Diese perfideste Form der Entrechtung und Entwürdigung des Menschen durch den Menschen hatte es zwar bereits lange zuvor gegeben, etwa in der griechischen Polis, und auch außereuropäische Kulturen, wie die arabische oder die der Azteken, kannten sie. Doch erst mit den europäischen Eroberungen erhält sie einen systematischen Charakter, wird zur Grundlage eines äußerst einträglichen Handels und schafft mit der Plantagenwirtschaft die Basis der kolonialen Produktionsweise. Die Sklaverei verbreitet sich vor allem auf dem nordamerikanischen Kontinent. Losurdo zitiert Robin Blackburn, der dort im Jahr 1700 von 330.000, von fast drei Millionen im Jahr1800 und schließlich von über sechs Millionen in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts ausgeht. Die Sklaverei ist in dieser Zeit für die USA von entscheidender wirtschaftlicher Bedeutung: „Die Sklaven bildeten das, nach dem Boden, beachtlichste Vermögen des Landes; 1860 betrug ihr Wert das Dreifache des Aktienkapitals der Manufaktur- und Bahnindustrie; die im Süden des Landes angebaute Baumwolle war lange Zeit die wichtigste Exportware der Vereinigten Staaten und half entscheidend mit, die Importe und die industrielle Entwicklung des Landes zu finanzieren.“ (140) Und so sind die ersten Präsidenten der unabhängig gewordenen Vereinigten Staaten alle Sklavenhalter, „ähnlich wie zahlreiche andere Protagonisten der amerikanischen Revolution“. (54)

Außerhalb Nordamerikas ist es Großbritannien, das bei der Zahl der in seinem Weltreich gehaltenen Sklaven noch vor Spanien und Portugal liegt. Es ist unübersehbar: „Die Sklaverei dauert nicht trotz des Erfolgs der drei liberalen Revolutionen (in den Niederlanden, in England und in den USA, A.W.) fort; im Gegenteil, sie erfährt ihre größte Entfaltung im Gefolge dieses Erfolgs.“ Und: „Entscheidend beigetragen zum Aufstieg dieser Institution, die ein Synonym für die absolute Macht des Menschen über den Menschen darstellt, hat die liberale Gesellschaft.“ (51) Liberalismus und moderne Sklaverei erscheinen zum gleichen Zeitpunkt: „Der Aufstieg des Liberalismus und die Ausbreitung der Chattel Slavery (der auf Eigentum am Menschen beruhenden Sklaverei, A.W.) auf rassischer Basis sind das Produkt einer Zwillingsgeburt (...).“ (54)

Losurdo geht ideologiekritisch vor, indem er die Texte der liberalen Klassiker untersucht, sie auf Widersprüche befragt und sie mit der Wirklichkeit in Kontrast setzt. Was die Rechtfertigung oder die Distanzierung von der Sklaverei bzw. ein Unbehagen an ihr angeht, so finden sich bei den liberalen Klassikern alle möglichen Abstufungen. Einfach und eindeutig liegen die Dinge noch bei Locke und Grotius. Beide sprechen sich unumwunden für die Sklaverei aus. Doch sie sind dabei vorsichtig und tun dies daher nur mit Einschränkungen. Für Locke ist die Sklaverei nur etwas für die Kolonien, nicht jedoch für England, dem „Land der Freien“. Oft wird auf objektive Umstände zu ihrer Rechtfertigung verweisen. Beliebt ist etwa der Hinweis auf die besonderen klimatischen Umstände, die nun einmal die Zwangsarbeit von versklavten Schwarzen auf den Plantagen erforderlich macht, da die schwere Arbeit dort für die Indianer und erst Recht für Weiße unerträglich, ja tödlich ist. So argumentiert etwa Montesquieu (64). Wieder andere, wie etwa Tocqueville, verurteilen zwar die Sklaverei und sogar die Ausrottung der Indianer in den USA, sehen darin aber lediglich Makel, die nicht wirklich zählen. Losurdo arbeitet heraus, dass all dieses Unbehagen, ja selbst die offene Anprangerung dieser skandalösen Umstände, nicht im Geringsten das generell positive Urteil der großen liberalen Denker über die Demokratie in Nordamerika beeinträchtigt. Das trifft vor allem auf Tocqueville zu, dessen Berichte über seine Amerikareise[3] das europäische Bild von diesem Land entscheidend prägten und noch heute als wichtige Dokumente des Liberalismus gelten. In der Auseinandersetzung mit diesem französischen Publizisten, Politiker und Historiker, die sein gesamtes Buch durchzieht, kommt Losurdo bezüglich des Amerikabilds Tocquevilles zum Ergebnis: „Wir wissen, dass das Schicksal der Rothäute und Schwarzen, obzwar bedauert, sich im Augenblick der Formulierung des Gesamturteils über die transatlantische Republik als irrelevant erweist.“ (329)

Woher kommt aber diese Ignoranz bei Tocqueville wie bei den anderen Liberalen seiner Zeit? Der Grund dafür ist sowohl profan als auch zutiefst menschenverachtend: Die Rothäute und die Schwarzen zählen nicht. Entscheidend bei der Bewertung des Grads der Freiheit sind nur die Rechte der weißen Siedler, sie sind die Freien, denen das Land zusteht. Entscheidend für die liberalen Denker ist, dass diese „Gemeinschaft der Freien“ im Unterschied zu den Völkern Europas weder ererbte Privilegien oder aristokratische Vorrechte noch den Druck eines zentralistischen Staates kennt. Sie sind frei, da sie die britische Oberherrschaft und damit die Regentschaft des Monarchen abwerfen konnten. Als Franzose zieht Tocqueville diese „Gemeinschaft der Freien“ jenseits des Atlantiks ausdrücklich seinem Land vor, dass er immer wieder von revolutionärem Fieber geschüttelt sieht, und in dem er das Aufkommen eines Sozialismus fürchtet, den er „unsere Krankheit“ nennt. All das kennt die „Gemeinschaft der Freien“ in den USA nicht. Da durch fortgesetzten Raub an Indianerland immer genügend jungfräulicher Boden zur Verfügung steht und überschüssige Arbeitskräfte daher nach Westen ausweichen können, spielen Klassengegensätze im 19. Jahrhundert dort kaum eine Rolle.

Herrenvolk-Demokratien

Diese Demokratie, die Tocqueville in seinen Berichten den Europäern als Vorbild preist, ist nicht allein nur eine Demokratie für die Weißen: „Folgt man dem Rat bekannter US-amerikanischer Historiker, so empfiehlt es sich, von einer Herrenvolk democracy (und zwar in dieser deutsch-englischen Wortzusammensetzung, A.W.) zu sprechen.“ (141) Von diesem Standpunkt aus erscheint die amerikanische Revolution und die Abtrennung vom englischen Mutterland in einem ganz neuen Licht. Hier befreite sich eine Siedlerkolonie von äußerer Abhängigkeit, um so auch rücksichtsloser und brutaler seine Interessen auf eigene Faust verfolgen zu können.

Losurdo verweist darauf, dass Großbritannien zuvor als Kolonialmacht die nordamerikanischen Siedler gedrängt hatte, zu einem territorialen Kompromiss mit der indianischen Bevölkerung bereit zu sein, indem Großbritannien die Besiedlung nach Westen auf der Linie der Appalachen begrenzt. Mit der Unabhängigkeit wurde man diesen lästigen Mahner los. Keinerlei Einschränkungen musste man sich mehr bei der Sklaverei auferlegen. Auf diese Weise wurde „die Selbstregierung hier weniger der Ort der Freiheit als vielmehr die Bedingung, das Übel der Sklaverei zu verewigen“ (358). Nur so ist erklärbar, dass in den USA die Zahl der Sklaven bis zum Bürgerkrieg weiter stark anwächst, während sie etwa in den übrigen englisch gebliebenen Kolonien 1834 abgeschafft wird. In den USA besteht sie hingegen noch drei Jahrzehnte länger. Die legale Sklaverei endet erst mit dem Sieg des Nordens über den Süden im Bürgerkrieg. Doch ihre formelle Abschaffung bedeutet noch lange nicht das Ende von Unterdrückung und Diskriminierung der Schwarzen. Schon 1877 kommt es zum Kompromiss zwischen dem Norden und dem Süden, wobei der unterlegene Teil viele Rechte und Privilegien zurückerhält. Es beginnt abermals eine schlimme Zeit für die Farbigen. Nun ist es vor allem die Zivilgesellschaft vom Schlage des Ku-Klux-Klan, die sie demütigt und verfolgt. Aber auch auf staatlicher Ebene leben viele Einschränkungen fort. Die miscegenation, d. h. sexuelle Kontakte zwischen Weißen und Farbigen, bleiben ebenso bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts untersagt wie zahlreiche andere Diskriminierungen, etwa beim Schulbesuch oder bei der Wahl des Wohnorts. Der Autor weist auf den Umstand hin, dass diese Diskriminierungen selbst die Rechte der Weißen erheblich einschränken, etwa durch das strikte Verbot der miscegenation: „Die weiße Bevölkerung insgesamt und die Sklavenhalter selbst sind einer ganzen Reihe von Normen unterworfen, die sogar in die intimste Sphäre des Privatlebens gravierend eingreifen.“ (382) Mit dem Selbstbild einer liberalen Gesellschaftsordnung, die angeblich die Gleichheit und die sexuelle Selbstbestimmung fördert, steht dies alles in einem krassen Widerspruch.

Die Entwicklung der USA stellt keinen Einzelfall in der liberalen angelsächsischen Welt dar. Aus dem Verlust der nordamerikanischen Kolonien zieht London bald Konsequenzen. Die gleichfalls von weißen Siedlern beherrschten Territorien Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika werden nun zuvorkommend behandelt. Lange vor Beginn der allgemeinen Dekolonisierung erhalten sie das Recht der inneren Selbstverwaltung mit der Folge, dass sich auch dort Herrenvolkdemokratien etablieren. Südafrika und Süd-Rhodesien werden sogar zu unverhüllten Rassenstaaten. In Kanada, Australien und Neuseeland wird die einheimische Bevölkerung von den weißen Kolonisten unterdrückt und verfolgt. Erst heute wird das ganze Ausmaß dieser Diskriminierungen öffentlich.

Herrenvolk-Demokratien sind aber keineswegs ein Privileg der angelsächsischen Welt. Frankreich errichtet im 1830 eroberten Algier seine weiße Kolonie. Als Politiker nimmt Tocqueville regen Anteil daran und unterstützt dieses Vorhaben, er erwägt sogar, sich selbst als Siedler in Nordafrika niederzulassen. Und mit Israel existiert noch heute eine klassische Herrenvolk democracy. Ein Land, das übrigens immer auf die USA zählen kann, was mit Sicherheit alles andere als zufällig ist.

Die Lohnsklaverei

Losurdo beschreibt, wie sich im Streit über die Abschaffung der Sklaverei in Nordamerika eine innerliberale Polemik über den Atlantik hinweg entwickelt. Den Vorwürfen englischer Abolitionisten (Vertretern der Abschaffung der Sklaverei, A.W.) antworten die US-amerikanischen Verteidiger mit dem Hinweis auf die erbärmlichen Lebensbedingungen der Lohnabhängigen in England. Losurdo zitiert aus einem Brief des Gouverneurs von Süd-Carolina, James Harry Hammond, an einen englischen Abolitionisten, in dem dieser die sklavenähnliche Behandlung der Lohnabhängigen in England kritisiert: „Wie wagt ihr, mit uns über die Welt der Sklaverei zu sprechen? (…) Wenn ihr wirklich human, philanthropisch und barmherzig seid, gibt es genug Opfer bei euch. Helft ihnen. Befreit sie. Holt sie aus ihrer unmenschlichen Lage und bringt sie auf das Niveau menschlicher Wesen, zumindest der amerikanischen Sklaven.“ (120)

Natürlich ist dies ein heuchlerischer Vergleich, wird in ihm doch darüber geschwiegen, dass Sklaverei Eigentum am Menschen bedeutet und daher niemals auf einer Stufe mit der Lohnsklaverei stehen kann. Doch der Vorwurf des nordamerikanischen Sklavenhalters benennt gleichfalls einen Skandal. Im Kapitalismus werden den Proletariern grundlegende Menschenrechte vorenthalten. Klassiker des Liberalismus sprechen ihnen gar das Menschsein überhaupt ab, indem sie sie zu „zweifüßigen Werkzeugen“, zum bloßen „instrumentum vocale“ bzw. zu „menschlichen Produktionswerkzeugen“ (122) degradieren. Der lohnabhängig Arbeitende wird dadurch entmenschlicht. „Nach Locke ‘ist ein Hilfsarbeiter (…) nicht in der Lage, besser zu denken als ein Eingeborener (a perfect natural)’: weder der eine noch der andere hat bereits den ‘Stand von vernünftigen Geschöpfen und von Christen erreicht.“ (123) So bestehen denn auch große Ähnlichkeiten zwischen den liberalen Gesellschaften der USA und Großbritanniens: „Was sich auf der einen Seite des Atlantiks als Klassenbeziehung gestaltet, nimmt am anderen Ende die Form von Rassenbeziehungen an. (…) So gesehen lässt sich sagen, dass für einige Zeit auch die aus der Glorreichen Revolution in England hervorgegangene Gesellschaft sich als eine Art von ‘Demokratie für das Herrenvolk’ darstellt, wenn man diesen Begriff nicht in einem rein ethnischen Sinn versteht. Auch auf dieser Seite des Atlantiks trennt eine unüberwindbare Schranke die Gemeinschaft der Freien und Herren von der Masse der Knechte, die von Locke nicht zufällig mit den ‘Eingeborenen’ verglichen werden.“ (161f.) Die Ähnlichkeit des kapitalistischen Abhängigkeitsverhältnisses mit der Sklaverei wird von den Lohnabhängigen erkannt. Sie vergleichen daher ihr Los mit dem der Sklaven und sprechen völlig zu Recht von der Lohnsklaverei. „Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger“, heißt es in ihrem Kampflied Die Internationale und die Antwort lautet: „Heer der Sklaven, wache auf! Alles zu werden, strömt zuhauf!“

Der Liberalismus rechtfertigt bzw. verschweigt sowohl die rassische als auch die soziale Diskriminierung. Unbeachtet lässt er aber auch die Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, nämlich die der Frauen. Die „Gemeinschaft der Freien“ ist wie selbstverständlich nicht nur immer eine der Weißen und der Besitzenden, sondern immer auch eine der Männer. Dieser liberalen Ausgrenzung der Frauen widmet der Autor der Gegengeschichte leider nur wenige Zeilen seines Buches.

Die Dialektik von Emanzipation und De-Emanzipation

Domenico Losurdo ist weit davon entfernt, im Liberalismus eine Sackgasse der Menschheitsentwicklung zu sehen. Er betrachtet die Geschichte des Liberalismus als eine der Emanzipation und der De-Emanzipation. Er folgt damit den Ansichten von Marx und Engels, die in der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft ein unverzichtbares Durchgangsstadium zur menschlichen Emanzipation sahen. Doch Losurdo stellt dieses Denken zugleich in Frage, indem er Marx vorsichtig kritisiert: „Ist es wirklich richtig, die Vereinigten Staaten von 1844 (das Jahr der Veröffentlichung der Judenfrage) das Land der ‘vollendeten politischen Emanzipation’ zu nennen?“ (408) Und: „Man kann auch nicht vorbehaltlos Marx’ These unterschreiben, dass ‘die politische Emanzipation (…) allerdings ein großer Fortschritt sei.“ (409)

Doch diese Aussage von Marx wird nur verständlich vor dem Hintergrund seines zuvor in der Schrift Zur Judenfrage vorgenommenen Vergleichs der Stellung der Juden in Deutschland mit der in Frankreich, wobei er Frankreich nur die „Halbheit der politischen Emanzipation“ zubilligt, da hier noch der „Schein einer Staatsreligion“ besteht. Anders hingegen in den Vereinigten Staaten, wo es eine solche Staatsreligion nicht gibt: „Erst in den nordamerikanischen Freistaaten – wenigstens in einem Teil derselben – verliert die Judenfrage ihre theologische Bedeutung und wird zu einer wirklichen Frage.“ Wenig später heißt es bei Marx: „Die nordamerikanischen Staaten gelten uns indes nur als Beispiel. Die Frage ist: Wie verhält sich die vollendete politische Emanzipation zur Religion? Finden wir selbst im Lande der vollendeten politischen Emanzipation nicht nur die Existenz, sondern die lebensfrohe, die lebenskräftige Existenz der Religion, so ist der Beweis geführt, dass das Dasein der Religion der Vollendung des Staats nicht widerspricht“. Da aber für Marx das „Dasein der Religion“ ein „Mangel“ ist, wirft die Fortexistenz der Religion – zumal in einer solch lebendigen Form wie in den Vereinigten Staaten – ein bezeichnendes Licht auf die „vollendete politische Emanzipation“ dort, die mit der menschlichen Emanzipation eben nicht identisch ist: „Die Frage von dem Verhältnis der politischen Emanzipation zur Religion wird für uns die Frage von dem Verhältnis der politischen Emanzipation zur menschlichen Emanzipation.“[4] Allerdings besteht Marx darauf: „Die politische Emanzipation ist allerdings ein großer Fortschritt, sie ist zwar nicht die letzte Form der menschlichen Emanzipation überhaupt, aber sie ist die letzte Form der menschlichen Emanzipation innerhalb der bisherigen Weltordnung. Es versteht sich: wir sprechen hier von wirklicher, von praktischer Emanzipation.“[5]

Marx ist daher weit davon entfernt, die USA freizusprechen oder in ihnen gar ein Ideal zu sehen. Im Gegenteil: Er lenkt den Blick weg von der damals dort weit ausgebildeten, aber eben nur bloß politischen Emanzipation hin zur menschlichen Emanzipation, einer Emanzipation, die viel tiefer und weiter geht, da sie „wirkliche, praktische Emanzipation“ bedeutet. Erst damit kommen ökonomische, kulturelle und private Verhältnisse jenseits des täglichen politischen Geschäfts in den Blick. Es ist das, was man heute gern Zivilgesellschaft nennt. Marx spricht von „der Spaltung des Menschen in den öffentlichen und in den Privatmenschen (…). “[6] Sie gilt es nach ihm „aufzuheben“. Diese Kritik der liberalen Zivilgesellschaft durchzieht das Buch von Domenico Losurdo, etwa wenn er beschreibt, wie die Unterdrückung der Schwarzen in den USA nach ihrer gesetzlichen, d. h. politischen Gleichstellung über ein ganzes Jahrhundert weiter andauert. Die Aussagen von Marx aus seiner Schrift Zur Judenfrage stehen daher nicht den Erkenntnissen der Gegengeschichte des Liberalismus entgegen.

Im Übrigen: Was die Position von Marx gegenüber den USA angeht, so findet man von ihm sehr differenzierte und kritische Einschätzungen. In seinen für die Wiener Presse im Herbst 1861 verfassten Schriften Der Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten[7] und Der nordamerikanische Bürgerkrieg[8] beschreibt er ausführlich die ökonomische Funktion der Sklaverei. Über die Ursachen des Bürgerkriegs heißt es dort: „Die ganze Bewegung beruhte und beruht, wie man sieht, auf der Sklavenfrage. Nicht in dem Sinne, ob die Sklaven innerhalb der bestehenden Sklavenstaaten direkt emanzipiert werden sollten oder nicht, sondern ob die 20 Millionen Freien des Nordens sich länger einer Oligarchie von 300 000 Sklavenhaltern unterordnen sollten; ob die ungeheuren Territorien der Republik Pflanzstätten freier Staaten oder der Sklaverei werden sollten; endlich, ob die nationale Politik der Union bewaffnete Propaganda der Sklaverei über Mexiko, Zentral- und Südamerika zu ihrem Wahlspruch machen sollten.“[9]

Die Freisetzung der im Liberalismus angelegten Emanzipationspotentiale ist in der Regel nicht der Einsicht bzw. der Fähigkeit zur Selbstkorrektur der liberalen Gesellschaften geschuldet. Nach Losurdo „ist zu berücksichtigen, dass die Ausschlussklauseln nicht auf schmerzlose Weise überwunden wurden, sondern durch gewaltsame Erschütterungen und manchmal unerhörte Gewalt. Die Abschaffung der Sklaverei durch den Sezessionskrieg hat die Vereinigten Staaten mehr Opfer gekostet als die beiden Weltkriege zusammengenommen.“ (436) Benannt wird ein weiterer Grund, der Veränderungen erst möglich machte: „Der Anstoß für den Emanzipationsprozess kam sehr häufig von ganz außerhalb der liberalen Welt. Die Aufhebung der Sklaverei in den englischen Kolonien (im Jahre 1834, A.W.) lässt sich nicht verstehen ohne die schwarze Revolution von San Domingo (dem heutigen Haiti, A.W.).“ (437) In den USA war es die stark religiös geprägte abolitionistische Bewegung des Nordens, die erst den ideologischen Boden für die Kriegsbereitschaft des Nordens bereitete. Sie störte sich weniger an den schrecklichen Arbeits- und Lebensbedingungen der schwarzen Sklaven als an dem Verbot, sie taufen zu lassen und ihnen das Lesen beibringen zu dürfen, so dass sie die Bibel studieren können. Eine wichtige Rolle spielte zudem die Abscheu vor den regelmäßigen sexuellen Übergriffen der weißen Sklavenhalter gegenüber ihren weiblichen Untertanen, in der man eine moralische Gefahr für die Gesellschaft, aber auch für die „Reinheit der Rassen“ sah.

Die zentralen Erschütterungen der liberalen Welt gingen von den beiden großen Revolutionen der Neuzeit, der französischen und der russischen Revolution aus. „Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte“, sagte Marx.[10] Die französischen Revolutionäre proklamierten die Abschaffung der Sklaverei, was zum Aufstand in der zu Frankreich gehörenden Kolonie San Domingo und zur Ausrufung der ersten freien und unabhängigen schwarzen Republik dort führte. In der französischen Menschenrechtserklärung rückten auch die bis dahin ignorierten und diskriminierten Proletarier ins Licht der Öffentlichkeit: „Der früheren ‘zweibeinigen Maschine’ wird jetzt nicht nur die Menschenwürde zuerkannt, sondern auch die des Staatsbürgers, und sei es auch die eines von der Teilnahme am politischen Leben ausgeschlossenen ‘passiven Bürgers’, wie es die ‘Frauen’, die ‘Kinder’, die ‘Fremden’ sind.“ (240)

Einen abermaligen emanzipatorischen Schub bewirken der Rote Oktober von 1917, aber auch die unvollendet gebliebene Revolution von 1918 in Deutschland. Die von ihnen ausgehenden Impulse für die soziale Emanzipation der Lohnabhängigen sind offenkundig. Von diesen Umbrüchen profitieren auch die Frauen, denen nun endlich in vielen Ländern das Stimmrecht gewährt wird. Gegen den erbitterten Widerstand der Kolonialmächte kommt nach 1917 der Dekolonisierungsprozess in Gang, der schließlich, nach dem unter entscheidender Beteiligung der Sowjetunion errungenen Sieg über den Faschismus, zur staatlichen Selbstständigkeit fast aller Kolonien führt. Zugleich kann sich China endlich vom imperialistischen Joch befreien. Diese Ereignisse zeigen, dass es unsinnig ist, heute von der Vergeblichkeit der Oktoberrevolution bzw. von ihrem vollkommenen Scheitern zu sprechen. „Genau gesehen waren es der Aufstand von San Domingo beziehungsweise die Oktoberrevolution, was zuerst die Sklaverei und dann das terroristische Regime der weißen Vorherrschaft in die Krise stürzte.“ (437)

Angesprochen wird in Losurdos Buch schließlich der fatale Beitrag des Liberalismus zur De-Emanzipation, indem er als Vorbild für rassistische und faschistische Bewegungen des 20. Jahrhunderts dient. Unübersehbar ist dies etwa in der Rassenfrage. Losurdo zitiert hier einen US-amerikanischen Historiker, der diese Verbindungslinie zieht: „Die Bemühungen im Süden der Vereinigten Staaten, die ‘Reinheit der Rasse’ zu bewahren, nahmen einige Aspekte der vom Nazi-Regime in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts entfesselten Verfolgung der Juden vorweg.“ (432). Mit Ashley Montagu zitiert er zustimmend einen weiteren US-amerikanischen Wissenschaftler über den Rassismus des Nazismus: „Das Ungeheuer, das sich offen auf die Welt stürzen konnte, ist zu einem Großteil, ob wir nun bereit sind oder nicht, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen, wir alle sind, individuell und kollektiv, verantwortlich für die grauenhafte Form, die es angenommen hat.“ (433)[11]

Die gegenwärtige neoliberale Ideologie spielt sich als Wiedergänger des Liberalismus auf, indem sie sich seiner Klassiker bedient. Wer etwa in Internet-Suchmaschinen den Namen Alexis de Tocqueville eingibt, landet schnell auf einer Seite, auf der einem der Spruch „Mehr Freiheit, weniger Staat“ in grellen Farben entgegenblinkt. Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika ist immer noch eines der meistrezipierten Werke der Sozialwissenschaften und wird in vielen Universitätsseminaren der Politikwissenschaft und der Soziologie weiterhin gelesen. In der deutschen Politik entsteht mit den Grünen gegenwärtig eine neue Volkspartei, die sich auf liberale Grundsätze beruft. Und selbst in der Partei DIE LINKE wird der Liberalismus als „Wurzel des Sozialismus“ missverstanden.[12] In einer solchen Situation kommt das aufklärende Buch Freiheit als Privileg von Domenico Losurdo genau richtig.

[1] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg. Eine Gegengeschichte des Liberalismus, 464 Seiten, PapyRossa Verlag, Köln 2010

[2] Rudolf Hilferding beschreibt die Ideologie des um die Wende zum 20. Jahrhundert aufkommenden Finanzkapitalismus wie folgt: „Diese Ideologie ist aber der des Liberalismus völlig entgegengesetzt; das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft; es hat keinen Sinn für die Selbständigkeit des Einzelkapitalisten, sondern verlangt seine Bindung; es verabscheut die Anarchie der Konkurrenz und will die Organisation, freilich nur, um auf immer höherer Stufenleiter die Konkurrenz aufnehmen zu können.“ In: Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital, Berlin 1955, S. 502

[3] Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique. 2 Bände, Paris 1835/40 (dt. : Über die Demokratie in Amerika, Stuttgart 1959)

[4] Karl Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, S. 351 f.

[5] Karl Marx, Zur Judenfrage, a. a. O., S. 356

[6] ebenda

[7] Karl Marx, Der Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten, MEW 15, S. 339-347

[8] Karl Marx, Der nordamerikanische Bürgerkrieg, MEW 15, S. 329-338

[9] Der nordamerikanische Bürgerkrieg, a. a. O., S. 338

[10] Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850, MEW 7, S. 85

[11] Weitere Nachweise für die Vorbildfunktion des US-amerikanischen Rassismus für den der Nazis finden sich in Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? Berlin 2010

[12] Eine solche Behauptung stellte die Bundestagsabgeordnete der Partei DIE LINKE Petra Pau auf, indem sie eine Aussage von Friedrich Engels grotesk in ihr Gegenteil verkehrte. Vgl. daran die Kritik von Marianna Schauzu, Der Kampf ist eröffnet, in: Junge Welt vom 15./16.05.2010