Buchbesprechungen

Wer waren die Gründer der KI?

von Werner Röhr zu Wladislaw Hedeler
September 2010

Wladislaw Hedeler, Alexander Vatlin (Hrsg.), Die Weltpartei aus Moskau. Der Gründungskongress der Kommunistischen Internationale 1919. Protokoll und neue Dokumente. Akademie Verlag, Berlin 2008, 441 S., 98 Euro

Ausgangspunkt der vorliegenden Dokumentation war die Bitte eines Verlagslektors an die Herausgeber, die auf einem Foto vom ersten Weltkongress der Kommunistischen Internationale im März 1919 abgebildeten Teilnehmer zu identifizieren. Über die unvermuteten Schwierigkeiten dieser Aufgabe berichteten sie 2008 in einem Artikel im Jahrbuch für historische Kommunismusforschung. Von den abgebildeten 55 Personen konnten sie schließlich 46 namentlich benennen, außerdem 76 Biografien von Delegierten und Mitarbeitern des Kongresses ermitteln. Daraus ergab sich für sie die umfassendere Aufgabe, den vom 2. bis 6. März 1919 abgehaltenen Gründungskongress der KI selbst zu rekonstruieren, denn er ist wenig erforscht, dafür kursierten manche Falschinformationen.

Von diesem Kongress gibt es weder ein Stenogramm noch ein vollständiges Protokoll, archivalisch überliefert sind Typoskripte der Reden und Protokollnotizen. 1919, 1920 und 1921 wurden Broschüren in deutscher Sprache zum Kongressverlauf publiziert, die 1919 bzw. 1921 auch in russischer Übersetzung erschienen. Das Hauptdokument, das sog. Protokoll des Kongresses, wurde 1920 in Petrograd erstmals veröffentlicht, es enthält Berichte und andere Materialien aller fünf Sitzungstage. Eine wesentlich erweiterte russische Ausgabe erschien 1933, sie war von Bela Kun und Ossip Pjatnicki redaktionell bearbeitet worden und stellte bis 2008 die umfassendste Publikation zu diesem Kongress dar.

Gestützt auf Erstveröffentlichungen der Materialien in deutscher Sprache in der kommunistischen Presse, auf neue russische Veröffentlichungen zur Geschichte der Parteien in Russland und zur Rehabilitierung der Opfer des politischen Terrors, auf eigene Vorarbeiten der Herausgeber und auf Archivalien russischer Archive und Bibliotheken, in erster Linie Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no-političeskoj Istorii (RGASPI) und Gosudarstvennyj Archiv Rossiijskoj Federacji (GARF), dokumentiert der Band den gegenwärtigen Erkenntnisstand. Die Texte sind chronologisch angeordnet. Es handelt sich um die Protokolle der Vorkommission, die gehaltenen und die nicht vorgetragenen aber eingereichten Länder-Berichte der Delegierten, die Berichte der Kongress-Kommissionen und Wahlprotokolle, vor allem die Referate und Diskussionen dazu sowie die Anträge und Beschlüsse des Kongresses.

Außerdem wurden in den Band Dokumente zur unmittelbaren Vorgeschichte der Gründung, so der Briefwechsel Lenins mit Georgi Tschitscherin, ein Brief von Leo Jogiches an Wladimir Lenin, das Einladungsschreiben und die Einladungsliste aufgenommen. Im Anschluss an das Tagungsprotokoll versammeln die Herausgeber erste Reaktionen auf die Gründung der KI. Darunter sind Erklärungen und Resolutionen verschiedener Parteien und Personen, Briefe von Leo Trotzki, Grigori Sinowjew und Julij Martow, Zeitungsartikel und einige EKKI-Sitzungsprotokolle aus den Jahren 1919 und 1920. Es handelt sich um enthusiastische wie zögerliche Reaktionen auf die Gründung der neuen Weltpartei. Angefügt ist ein Rückblick Hugo Eberleins aus dem Jahre 1929, der aus Anlass des zehnten Jahrestags der Gründung erstmals den Ablauf schilderte. Die Herausgabe dieses Bandes ist für die Geschichte der kommunistischen Bewegung eine wichtige wissenschaftliche und eine gediegene editorische Leistung, für die Hedeler und Vatlin Dank zu sagen ist.

Wohl den größten Arbeitsaufwand erforderten die Recherchen der Herausgeber zu den Personen. Sie drucken mehr oder weniger ausführliche biografische Notizen zu insgesamt 73 Delegierten, Teilnehmern, Gästen und Mitarbeitern des Gründungskongresses. Viele Teilnehmer hatten kein Mandat als Delegierte, umgekehrt war z.B. Stalin offiziell Delegierter der KPR (B), hat aber gar nicht teilgenommen. Die biografischen Notizen sind, soweit verfügbar, mit Fotos versehen, die meist dem genannten Kongressfoto entnommen sind.

In einer 96 Druckseiten umfassenden Einleitung informieren die Herausgeber ausführlich über die Vorbereitung und die Wahl des Zeitpunktes, über die Einladungspolitik und das von Lenin angestrebte politische Profil der neuen Internationale. Diese sollte keine lose Organisation des Spektrums der links von der Sozialdemokratie wirkenden Gruppierungen der Arbeiterbewegung werden, sondern eine feste, zentralisierte Vereinigung jener Parteien, die theoretisch auf dem Boden des Marxismus und politisch auf dem Boden der Oktoberrevolution standen, eine Weltpartei.

Lenin drängte seit dem Spätherbst 1918, möglichst schnell eine kommunistische Internationale zu gründen. Er widersprach dem sowjetischen Außenkommissar Tschitscherin, der dies für verfrüht hielt und zu warten empfahl, bis sich die Mehrzahl ihrer künftigen Mitgliederparteien konstituiert und konsolidiert hatten. Lenin ging umgekehrt davon aus, dass die Neugründung Anstöße und Maßstäbe für deren Herausbildung und Profilierung geben würde. Außerdem wollte er der angekündigten Neugründung der 1914 zusammengebrochenen sozialdemokratischen Internationale zuvorkommen. Die Einladung zu einer Vorbereitungskonferenz erreichte die KPD Anfang Januar 1919 in Berlin. Der Aufruf eines Vorbereitungskomitees – ohne Unterschrift eines Vertreters der KPD – und die Einladung wurden am 24. Januar in der Prawda, am 29. Januar 1919 in der Zeitung der KP Deutsch-Österreichs Die soziale Revolution veröffentlicht.

Für die eingeladenen und die interessierten Parteien war es im Februar und März 1919 außerordentlich schwierig, Delegierte nach Moskau zu entsenden. Die meisten revolutionären Parteien waren erst nach dem Ersten Weltkrieg gegründet worden, sie mussten meist illegal wirken, waren unerfahren und noch nicht gefestigt. In Sowjetrussland tobte ein Bürger- und Interventionskrieg, es war rundherum so abgeschnürt und isoliert, dass es äußerst schwierig war, sich durch die Fronten zu schlagen. Deshalb kamen einige Delegierte auch zu spät an, so Laszlo Rudas aus Ungarn.

Die Sozialdemokratische Linke-Partei Schwedens entsandte Otto Grimlund, die Norwegische Arbeiterpartei vertrat Emil Stang, die KP Estlands Hans Pöggelmann, die KP Polens Józef Unszlicht, die KPD Hugo Eberlein, die KP Deutsch-Österreichs Karl Petin und Karl Steinhardt. Die KP Finnlands benannte Yrjo Sihola, Jukka Rachja, Kullervo Mannes, Otto Kuusinen, Ivan Rahja und Eino Rahja, die Revolutionäre sozialdemokratische Balkanföderation vertrat Christian Rakowski, aus der Schweiz kamen Fritz Platten als Delegierter der SDP (Opposition) und Angelika Balabanoff als Delegierte der Zimmerwalder Konferenz, die auch Henri Guilbeaux aus Frankreich vertrat. Andere Parteien, so die lettische, die finnische, die serbische und die American Socialist Propaganda League benannten als Delegierte Mitglieder, die sich gerade in Petrograd oder Moskau befanden.

Dominiert wurde der Kongress von Teilnehmern aus Sowjetrussland, das waren Mitglieder der Parteiführung der Bolschewiki, Delegierte aus Gouvernements Sowjetrusslands (KP Armeniens, Kirgisiens, Aserbaidschans, Ost-Galiziens, der Ukraine, Vitebsk usw.) und aus dem Zentralbüro der kommunistischen Organisationen der Völker des Ostens (baschkirische, georgische, türkische turkestanische, Wolga-Tatarische, wolgadeutsche Sektion). Die Mehrzahl der Mandate wurde von ausländischen kommunistischen Gruppen ausgestellt, die in Moskau wirkten und der KPR (B) angeschlossen waren (bulgarische, französische, englische, tschechische, ungarische, holländische, koreanische, chinesische), meist allerdings ohne Verbindung mit den Parteien ihres Heimatlandes. Viele Teilnehmer ohne Delegiertenmandat arbeiteten in Sowjetinstitutionen, vor allem im Außenkommissariat.

Der wichtigste deutsche mandatsgebundene Delegierte Hugo Eberlein hatte die ausdrückliche Weisung der Zentrale der jungen KPD, die Gründung einer kommunistischen Internationale als verfrüht abzulehnen. Eberlein trug diese Position auch vor, erklärte aber gleichzeitig, wenn er freie Hand hätte, würde er für die sofortige Konstituierung der Kommunistischen Internationale stimmen. Er enthielt sich schließlich bei den Abstimmungen über die Gründung bzw. die Beschlüsse. Lenin respektierte die Stellung der KPD als taktisch nicht unbegründet, konnte aber den Delegierten der KPD von der Notwendigkeit einer sofortigen Gründung überzeugen: Die voranschreitende revolutionäre Bewegung, die Wirkung der russischen Revolution auf die fortgeschrittensten Teile des Proletariats, die in großen Teilen der Arbeitermassen verbreitete Erkenntnis des völligen Bankrotts der II. Internationale und vor allem die Notwendigkeit der Leitung und Koordinierung der revolutionären Aktionen des Proletariats erforderten die sofortige Gründung. Am dritten Konferenztag konstituierte sich die Konferenz als Gründungskongress der Kommunistischen Internationale.

Der Kongress nahm in einer Resolution Stellung zu den sozialistischen Strömungen und der Berner Konferenz und hob darin hervor, dass jene Minderheit von Sozialisten, die die Resolution von 1907 in Stuttgart gegen den Krieg auch im ersten Weltkrieg verteidigte und die Losung von der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg aufstellte, sich als Richtung nun zur III. Internationale konstituiert hatte. Der Gründungskongress nahm Resolutionen zum weißen Terror, Thesen über bürgerliche Demokratie und Diktatur des Proletariats und ein Memorandum „An die Arbeiter aller Länder“ an, in dem die Aufgaben der Arbeiter beim Kampf gegen die Intervention der imperialistischen Länder in Sowjetrussland als Aufruf formuliert wurden. Zu Recht heben die Herausgeber hervor, dass der Gründungsprozess der III. Internationale mit diesem Kongress keineswegs abgeschlossen war, sondern entscheidende Schritte und profilbestimmende Dokumente erst von den beiden folgenden Kongressen geleistet wurden.

Das Hauptgewicht des Bandes legen die Herausgeber auf die Frage „Wer waren die Gründer der Kommunistischen Internationale?“ Sie bildet den genetischen Ausgangspunkt ihrer Arbeit und auch den Kern- und Integrationspunkt ihrer Analysen in der Einleitung. Dadurch rücken die auf dem Kongress behandelten inhaltlichen Fragen und Beschlüsse, obwohl sie in der Einleitung ausführlich behandelt und im Protokoll dokumentiert werden, etwas in die zweite Reihe. Die Probleme der aktuellen politischen Lage und die Aufgaben der revolutionären Arbeiter aber finden in den Länderberichten der Delegierten, in ihren Erklärungen und den Diskussionsbeiträgen ausreichend und dokumentarisch Niederschlag. Wer die später als „parteichinesisch“ bezeichneten Referate und obligaten Diskussionsbeiträge der Bezirkssekretäre auf Parteitagen und ZK-Plenartagungen der SED nach 1971 im Gedächtnis hat, wird über die lebendige und klare Sprache, die Offenheit und die Problembehandlungen und über die solidarische Haltung bei Differenzen und Polemiken erstaunt sein. Hier berieten Revolutionäre, keine Bürokraten.

Werner Röhr