Literatur (in) der Krise

Realismus als Prinzip

Aktualität und Grenzen von Georg Lukács’ „Eigenart des Ästhetischen"

von Daniel Göcht
März 2015

„Die harte Rinde der Natur und gewöhnlichen Welt machen es dem Geiste saurer, zur Idee durchzudringen, als die Werke der Kunst.“[1]

Angesichts der gegenwärtigen Krisenprozesse und der immer spürbarer werdenden sozialen Widersprüche werden wieder Möglichkeiten diskutiert, wie Kunst (besonders Literatur) sich wieder auf die soziale Realität beziehen kann. So fordern beispielsweise Enno Stahl[2] und Werner Seppmann[3] eine Orientierung von Literatur und Kunst an der sozialen Wirklichkeit. Daneben gab es jüngst eine (wesentlich literatursoziologische) Debatte über die Wirklichkeitsferne der deutschen Gegenwartsliteratur im Feuilleton großer Publikumszeitungen.[4] Als theoretisches Fundament für Forderungen nach realistischer oder auch engagierter Kunst ist aber ein systematischer Begriff der Kunst und des Realismus notwendig, um die Diskussion über die normative Dimension hinauszuführen.

Hier kann ein „Blick zurück“ Abhilfe schaffen – und zwar auf das Werk eines der früher einflussreichsten marxistischen Autoren: Georg Lukács. Zwar wird das Frühwerk (besonders Die Theorie des Romans und Geschichte und Klassenbewusstsein) noch wahrgenommen, der theoretische Reichtum des (ästhetischen) Spätwerks, der Eigenart des Ästhetischen, wurde bisher aber kaum ausgewertet.[5] Lukács’ „späte Ästhetik ist, von wenigen verdienstvollen Ausnahmen […] abgesehen, ein nicht rezipiertes Werk.“[6] Das gilt schon für die Zeit vor 1990, erst recht für die Zeit danach. Dabei lässt sich gerade in einer kritischen Rezeption der Eigenart des Ästhetischen ein systematischer Begriff von Kunst gewinnen, der es erlaubt, diese in der Gesamtheit der menschlichen Tätigkeiten zu verorten und in eine Perspektive der Befreiung der Menschheit zu stellen. Lukács bestimmt die Kunst als eine Form der Widerspiegelung der Wirklichkeit, aber nicht verstanden als deren bloße Reproduktion, sondern als Selbstreflexion der Menschen. Lukács’ Realismusbegriff ist weder ein kulturpolitischer Kampfbegriff, noch kann er auf den Lukács (teilweise zurecht) vorgeworfenen ‚Klassizismus’ reduziert werden; beim Realismus – den er scharf vom Naturalismus abgrenzt (I, 342) – handelt es sich nach Lukács vielmehr um etwas Systematisches, ein Prinzip, das aller Kunstproduktion zugrunde liegt.[7] Nach Lukács ist „im allgemeinsten Sinn jede Kunst realistisch“, wobei eine unendliche Variation von Mitteln des Ausdrucks möglich ist (II, 804).

Geschichtsphilosophie der Kunst

Dieser systematische Begriff des Realismus ist Resultat einer breit angelegten geschichtsphilosophischen Untersuchung der Kunst und ihrer Kategorien. Dabei unternimmt Lukács auch die systematische Begründung (und Korrektur) seiner eigenen früheren literaturkritischen Positionen und Beiträge zur Realismustheorie. In der Eigenart des Ästhetischen geht es Lukács um „die philosophische Begründung der ästhetischen Setzungsart, die Ableitung der spezifischen Kategorie der Ästhetik [und] ihre Abgrenzung von anderen Gebieten“ ((I, 8 [Klammer i. Orig.]).[8] Er betont, dass es dafür unerlässlich sei, „sich klarzuwerden über die Stelle des ästhetischen Verhaltens in der Totalität der menschlichen Aktivitäten, der menschlichen Reaktionen auf die Außenwelt, über das Verhältnis der daraus entstehenden ästhetischen Gebilde, das ihres kategorialen Aufbaus […] zu anderen Reaktionsweisen auf die objektive Wirklichkeit.“ (ebd.) Im Zentrum seiner Überlegungen steht der von Aristoteles übernommene und mit der Widerspiegelungstheorie verbundene Begriff der Mimesis. Anders als in seinen früheren Werken vermeidet Lukács (weitgehend) eine „einseitig gnoseologische Orientierung“[9] und setzt mit der ästhetischen Mimesis auf eine als Tätigkeit bestimmte eigenständige Form der Aneignung der Wirklichkeit. Ganz zu überwinden vermag er den ‚Gnoseologismus’ nicht, was in erster Linie – was noch zu zeigen sein wird – an seinem Begriff von Subjektivität und damit zusammenhängend an seiner Auffassung der Arbeit liegt. Die ästhetische Mimesis[10] leitet Lukács aus der als Form der Nachahmung verstandenen magischen Praxis – vor allem rituellen Tänzen – ab, die darauf zielt, durch die Darstellung einer Handlung (erfolgreiche Jagd o.ä.) deren wirkliches Gelingen herbeizuführen. Ein wesentliches Merkmal der magischen Mimesis ist nach Lukács ihr evokativer Charakter; das heißt, es sollen durch das Ritual bestimmte Gefühle und Gedanken in den Rezipierenden hervorgerufen werden. Dabei muss die Darstellung von der Wirklichkeit ausgehen, wobei es aber nicht so sehr auf die Treue im Detail ankommt, sondern vielmehr auf die Hervorhebung der wesentlichen Momente, so dass der Vorgang räumlich und zeitlich möglichst konzentriert und intensiviert dargestellt wird (vgl. I, 355). Die ästhetische Mimesis, für die Intensivierung und Konzentration ebenfalls entscheidend sind, bildet sich auf dem Boden der Magie heraus und löst sich aufgrund neuer gesellschaftlicher Bedürfnisse von dieser ab. Die Diesseitigkeit der Mimesis und die evokative Intention geraten in Widerspruch zum magischen Zweck (Beeinflussung jenseitiger Mächte), so dass das Ästhetische als eigenständige Sphäre entstehen kann. Bei der vollständigen Ablösung von der Magie (und Religion) handelt es sich allerdings um einen langandauernden ‚Befreiungskampf der Kunst’, der nicht in der Vor- oder Frühgeschichte bereits abgeschlossen wäre, sondern immer wieder neu geführt werden muss.[11] Eine wesentliche Gemeinsamkeit der ästhetischen und der magischen bzw. religiösen Mimesis bleibt aber deren anthropomorphisierender Charakter, aufgrund dessen einerseits lange Zeit die Kunst der Religion dienen kann, andererseits immer wieder Konflikte entstehen. Bei aller Gemeinsamkeit ist Kunst nach Lukács immer diesseitig orientiert, sie bezieht sich immer auf die ‚Welt des Menschen’ – selbst bei einer religiösen Intention des Künstlers.

Insgesamt ist Lukács’ Ästhetik in vieler Hinsicht – in ihrem Aufbau[12], in vielen Detailfragen etc. – von derjenigen Hegels beeinflusst, auch wenn er deren Idealismus ablehnt. So liegt nach Lukács der Kunst nicht die ‚Arbeit des Geistes’ zugrunde, sondern die wirkliche materielle Tätigkeit der Menschen.[13] „Die Entstehung, Ausbildung und Entfaltung der menschlichen Tätigkeiten kann nur in Wechselbeziehung mit der Entwicklung der Arbeit, mit der Eroberung der Umwelt des Menschen, mit der Umgestaltung des Menschen selbst durch sie verstanden werden.“ (I, 209) Die Entstehung der Kunst lässt sich nur im Zusammenhang mit dem Stoffwechsel der Menschen mit der Natur begreifen, wenn man nicht einen aparten Geist annehmen will. Die Menschen verändern die Naturgegenstände und sich selber durch ihre Arbeit und in ihr und bringen dabei, so wie sie auch ihr Denken produzieren, das Bedürfnis nach ästhetischer Widerspiegelung hervor. Wichtig für die Entstehung der Kunst als eigenständiger Widerspiegelungsart ist das Bedürfnis, das durch die Bearbeitung der Natur „praktisch und geistig Erworbene zu sich selbst in Beziehung zu setzen.“[14] Dieses Bedürfnis entsteht einerseits als Ausdruck der Selbstbejahung, andererseits als Reaktion auf die Fremdheit des Resultats der eigenen Tätigkeit. Zwar bearbeiten die Menschen die Naturgegenstände und schaffen so eine menschliche Welt, in der Kunst bekommt dieses Verhältnis aber noch einmal eine eigenständige Form. So ist nach Lukács die Kunst eine Form der menschlichen Selbstreflexion, keine bloße Kopie der Wirklichkeit. Durch diesen Rückbezug auf die Menschen und ihre Tätigkeit wird die Kunst nach Lukács zum adäquaten Ausdruck des Selbstbewusstseins der menschlichen Gattung.[15] Dies ist der Kunst nicht als ideelle Gesamtheit möglich, sondern immer nur in einzelnen individuellen Kunstwerken (II, 294). Die Kunstwerke evozieren nach Lukács in der Widerspiegelung eines bestimmten ‚Hier und Jetzt’ in den Rezipienten ein Gefühl des ‚tua res agitur’, da nicht nur ein beliebiges Stück Wirklichkeit abgebildet wird, sondern immer in Bezug auf die Arbeit, die die Menschen in der Geschichte geleistet haben (I, 524). Die Kunst befördert so die „Historisierung des menschlichen Bewußtseins, der Bewußtheit des Menschen über sich als historischen Produzenten seiner selbst“ (I, 499) Wo in der Wirklichkeit den Menschen ihr eigenes Werk als fremde Macht gegenübersteht, das Resultat ihrer eigenen Tätigkeit ihnen entfremdet ist und sie beherrscht statt umgekehrt, erscheint die Wirklichkeit in der Kunst als von menschlicher Tätigkeit durchdrungen.

In diesem Sinne bestimmt Lukács den ‚Stoffwechsel der Menschen mit der Natur’ als das „letzthinnige Objekt“ der Kunst (I, 218). Dabei ist besonders das „letzthinnig“ zu beachten, denn Lukács fordert nicht die unmittelbare Abbildung von arbeitenden Menschen. Die ‚Basis’ kommt vermittelt durch die Handlungen und die gesellschaftlichen Verhältnisse der dargestellten Individuen zum Ausdruck – was sich auch als innerer Konflikt oder als Gefühl ausdrücken kann. Denn „im allgemeinen [werden] unmittelbar zumeist die jeweiligen Produktionsverhältnisse einer bestimmten Gesellschaft, am unmittelbarsten die aus ihnen herauswachsenden gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zueinander“ widergespiegelt (I, 218).[16] So tritt das ‚letzthinnige Objekt’ in einer „vermittelt-unmittelbaren Weise“ in Erscheinung (I, 220), die den Rezipienten ihren Bezug zur menschlichen Gattung widerspiegelt. Denn im Stoffwechsel ist implizit „die Beziehung eines jeden Individuums zur Menschengattung und zu ihrer Entwicklung enthalten“ (I, 218). Diese Beziehung macht die Kunst explizit. Es handelt sich bei dem Gegenstand der Kunst letztlich um die Subjektivität der gemeinsam ihre Lebensmittel produzierenden Menschen, die in einer Weise widergespiegelt wird, in der sie den Individuen nicht als etwas Fremdes erscheint. So ist die Kunst, wie Lukács sie versteht, in den Zusammenhang der Befreiung der Menschen gestellt, indem sie – wenn auch bloß ideell und im Einzelnen – die Entfremdung aufhebt. Diese Fähigkeit ist nach Lukács mit dem Gegenstand der Kunst verknüpft. Durch dessen Widerspieglung wird die Kunst zum Medium der Selbstreflexion, was gerade auch Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen mit einschließt. Dabei ist die ‚Parteilichkeit’ nicht eine bloße Zutat, sondern integraler Bestandteil der Gestaltung und in der Art der Darstellung des Gegenstandes mit enthalten, womit sich Lukács gegen eine äußerliche Beziehung von Gegenstand und Stellungnahme richtet. Gleichzeitig ist die ‚Diesseitigkeit’ ein wesentliches Charakteristikum der Kunst, das sich ebenfalls aus ihrem Gegenstand ergibt, sich im Zweifelsfall auch entgegen der Intention des Künstlers einstellt. Das zeichnet die Kunst als „vox humana“ aus und ermöglicht es, sie als Ausdruck des Selbstbewusstseins der menschlichen Gattung, als Selbstreflexion menschlicher Subjektivität, aufzufassen.

Probleme der Subjektivität

Nach Lukács, der sich immer wieder gegen den ‚Subjektivismus’ in der Kunst gestellt hat, ist Subjektivität ein wesentliches und bestimmendes Moment der Kunst. Gerade aber in seinem Verständnis von Subjektivität liegen einige Probleme, die in der Kritik an Lukács immer wieder anklingen, aber nicht auf den Begriff gebracht werden, sondern auf Probleme des Kunstgeschmacks verkürzt werden. Das wesentliche Problem besteht darin, dass Lukács Subjektivität in erster Linie als etwas Ideelles auffasst. Dieses Problem steht in engem Zusammenhang mit seinem Arbeitsbegriff, wobei ebenfalls das ideelle Moment (der Zweck) im Vordergrund steht. Lukács gerät hier immer wieder ins Schwanken zwischen materialistischen und idealistischen Positionen, zwischen – salopp gesagt – Feuerbach und Hegel. Lukács hat Marx’ und Engels’ Schritt über Feuerbach hinaus, den sie in der Deutschen Ideologie getan haben, nicht ausreichend berücksichtigt[17] und orientiert sich wesentlich an Marx’ Pariser Manuskripten, in denen Marx noch selber einige Einseitigkeiten mit Feuerbach teilt. Der bereits in der ersten Feuerbachthese formulierte Hauptkritikpunkt am Feuerbachschen ‚alten’ Materialismus bezieht sich auf dessen Auffassung von Subjektivität und Objektivität: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv.“[18] Feuerbach geht von der Trennung von Subjekt und Objekt aus, ersetzt das denkende Subjekt durch das anschauende und fasst Subjekt und Objekt als selbständige Wesen auf. So kann er nicht zu wirklichen Gegenständen kommen, weil die Wirklichkeit nicht nur objektiv ist, sondern auch subjektiv, d.h. durch die Tätigkeit der Menschen produziert ist. Lukács zieht aus dieser Kritik der Erkenntnistheorie Feuerbachs keine hinreichenden Konsequenzen und reduziert Subjektivität wesentlich auf das Bewusstsein, statt von der Tätigkeit der Menschen auszugehen; das Wesentliche des von Marx und Engels entwickelten Materialismus besteht für ihn in der Entdeckung der Gegenständlichkeit der Wirklichkeit.[19] Gerade aber die Pointe der Kritik am alten Materialismus, gleichzeitig der Anerkennung der Leistung des Idealismus, dass es wesentlich auch auf die Tätigkeit ankommt, verpasst er. Beide Seiten stehen bei Lukács oft unvermittelt einander gegenüber.

Das zeigt sich u.a. bei der Analyse seines – für die Ästhetik sehr wichtigen – Arbeitsbegriffs, bei dem er von dessen ideellem Moment ausgeht und nicht von der materiellen Tätigkeit, in der die Momente miteinander vermittelt werden. So ist für Lukács die Arbeit wesentlich eine „teleologische Setzung“, so dass die Tätigkeit dem gedachten Zweck, also dem Bewusstsein, subsumiert wird.[20] Hierbei stellt sich erstens das logische Problem des Anfangs, weil das Bewusstsein der Tätigkeit immer schon vorausgesetzt werden muss. Zweitens kann die Selbstveränderung der Menschen in ihrer Tätigkeit, die in deren Reflexivität (also deren Selbstbezug) begründet ist, damit nicht adäquat gedacht werden.[21] Die Entwicklung der Produktivkräfte kann so nur als Anpassungs- bzw. Lernprozess oder Entwicklung von Produktionsmitteln aufgefasst werden. Es fehlt hier ein wirkliches materielles Entwicklungsprinzip, das der menschlichen Geschichte zugrunde liegt und von den Menschen selbst produziert wurde. Die neue Formulierung des Problems der Subjektivität durch Marx und Engels nimmt Lukács nicht auf.

Für eine kritische Aneignung der Ästhetik Lukács’ muss vor allem sein Subjektivitätsbegriff in den Blick genommen werden. Einige wesentliche Gedanken von Lukács werden durch die mangelnde Bestimmung der Subjektivität in ihrer Produktivität beschränkt. Lukács geht mit der Reformulierung des Mimesis-Konzepts über die Alternative Ausdruck und Abbildung hinaus und überwindet in weiten Teilen den ‚Gnoseologismus’ seiner früheren Schriften.[22] Durch die Beschränkung der Subjektivität auf das Bewusstsein einerseits und die Orientierung der Produktion von Kunstwerken an seinem teleologischen Arbeitsbegriff (I, 399) andererseits, gelingt diese Überwindung nicht vollständig. Die Erklärung der (produktiven) Diskrepanz zwischen Künstlerintention und Ergebnis, die Lukács durch Beispiele (vor allem Balzac) und das Motto seiner Arbeit (‚Sie wissen es nicht aber sie tun es’) stets unterstreicht, wird dadurch deutlich erschwert. Kunstproduktion droht wider Lukács’ Wille auf die richtige gedanklich-theoretische Widerspiegelung der Wirklichkeit beschränkt zu werden. Dabei kann gerade durch die Mimesis als materieller Tätigkeit die Eigengesetzlichkeit von Kunstwerken und die Abweichungen von der Autorenintention (incl. größerer ‚Welthaltigkeit’ der Kunstwerke) erklärt werden. Als Fundament eines systematischen Begriffs des Realismus ist dies wichtig, wenn es sich beim Realismus, wie Lukács meint, um die Grundlage aller künstlerischen Produktion handelt (I, 534). Der Mimesisbegriff ist deswegen äußerst fruchtbar, weil er es erlaubt, die Kunst als eigene Form der Widerspiegelung der Wirklichkeit aufzufassen, ohne sie dabei einseitig zu beschränken. So betont Lukács, dass die ästhetische Mimesis bei ihrem prinzipiellen Realismus eine unbeschränkte Vielzahl an Stilen erlaubt und sich überhaupt durch grundsätzliche Pluralität auszeichnet. Dies ist sogar eine systematische Forderung, die sich aus ihrem Begriff ergibt: Die ästhetische Widerspiegelung der Wirklichkeit ist prinzipiell nur in der Form von Werkindividualitäten möglich, da einerseits die Widerspiegelung des jeweiligen ‚hic et nunc’ aus stets individuellen Perspektiven der KünstlerInnen erfolgt, andererseits die Realisierung des Selbstbewusstseins der menschlichen Gattung nur als individuelle möglich ist. Die Fruchtbarkeit des Mimesisbegriffs zeigt sich auch darin, dass Lukács zeigen kann, dass die Kunst, da sie Widerspiegelung der Wirklichkeit ist, die Fähigkeit besitzt – letztlich geradezu genötigt ist – Tendenzen, die sich in der Wirklichkeit abzeichnen, mitabzubilden. Aufgrund der prinzipiellen Diesseitigkeit der Kunst ist sie nach Lukács gleichzeitig nicht-utopisch und fähig zur Antizipation des Neuen und Künftigen (I, 560, 810). Diese ihre Fähigkeit leitet sich daraus ab, dass sie nicht ‚Nachahmung der Natur’, sondern als Ausdruck des Selbstbewusstseins der menschlichen Gattung Reflexion des Stoffwechsels der Menschen mit der Natur ist. So spiegeln die Menschen sich ihr Selbstverhältnis in der Arbeit, d.h. in ihrem Naturverhältnis, als Kunst wider. Dieser Bezug auf die subjektive Seite der Wirklichkeit ermöglicht den Menschen die ästhetische Aneignung ihrer eigenen Gattungswirklichkeit und ihrer Geschichte. Die Bestimmung des Stoffwechsels der Menschen mit der Natur als Gegenstand der Kunst erlaubt die Auffassung der Kunst als menschliche Selbstreflexion. Die Aneignung durch die Rezipienten versteht Lukács als Aktualisierung des Gattungsbewusstseins, wodurch die Kunst, indem sie die Fremdheit der Wirklichkeit aufhebt und in ihrer ‚Menschlichkeit’ zeigt, ihren Beitrag zur Befreiung der Menschen leistet. Weil Lukács die Subjektivität nicht aus der materiellen Tätigkeit der Individuen ableitet, sondern vor allem ideell bestimmt, ergeben sich aber auch beim Gattungsbewusstsein Probleme, die Lukács eigenem Ansatz zuwiderlaufen.

Ein Problem bleibt auch die Bestimmung des Verhältnisses von individueller und allgemeiner Subjektivität. Bei Hegel bleiben die Individuen dem Geist als wirklichem Subjekt und allgemeinem Entwicklungsprinzip subsumiert.[23] Der Materialismus von Marx und Engels ersetzt das ideelle Entwicklungsprinzip durch die gesellschaftliche Entwicklung der Produktivkräfte. Die Individuen, deren Kräfte es sind, bringen sie in ihrer Tätigkeit und durch sie hervor. Da sie dies aber unbewusst tun, beherrschen sie ihre Kräfte nicht, sondern bleiben der Entwicklung untergeordnet. Zur Befreiung der Individuen und der Umkehrung dieses Verhältnisses bedarf es einer bewussten Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums durch die gemeinsame Aktion der Individuen. Dabei ist eine freie Gesellschaft nur mit freien Individuen möglich (und umgekehrt). Bei Lukács bleiben die Individuen gedanklich letztlich der Allgemeinheit subsumiert. Sie sollen sich über ihre ‚bloße Subjektivität’ auf das Niveau der Gattung erheben, um in so gesteigerter Subjektivität Kunstwerke produzieren bzw. rezipieren zu können. Dabei handelt es sich ja gerade darum, die von den Individuen gemeinsam realisierte Subjektivität widerzuspiegeln und zwar in der Form individueller Kunstwerke. Die Gattung wird, wenngleich sie den Einzelnen vorausgesetzt ist, stets von den Individuen reproduziert und hat anders als in den Individuen und ihren Beziehungen gar keine Wirklichkeit. Lukács subsumiert mit seiner Forderung die Individuen ihrer gemeinsam realisierten Subjektivität, wobei es darauf ankäme, diese gemeinsam anzueignen. Sie wird den Individuen gegenübergestellt, wodurch die aus den Produktionsverhältnissen resultierende Fremdheit gedanklich reproduziert wird. Dabei kehrt sich das befreiende Moment der Kunst in etwas Autoritäres um und beschränkt die Kunst in ihren Möglichkeiten. Denn wenn die Kunst Ausdruck des Selbstbewusstseins der menschlichen Gattung sein soll, käme es darauf an, alles was die menschliche Subjektivität ausmacht, inhaltlich wie formal als Gegenstand der ästhetischen Widerspiegelung aufzufassen.[24] Lukács’ Theorie liefert die Ansatzpunkte dafür, die aber nicht konsequent ausgeführt werden. Die mangelnde Bestimmung der Subjektivität führt ebenfalls dazu, dass die Geschichtlichkeit der Kunst (auch der künstlerischen Formen) nur teilweise herausgearbeitet werden kann, obwohl Lukács die Historizität der Kunst immer wieder betont und dies auch in ihrem Gegenstand begründet ist.[25] Das begünstigt eine aus theoretischer Verlegenheit entstandene Einsetzung eines Kunstideals.

Ausblick

Für eine Aneignung von Lukács’ ästhetischer Theorie ist deren Kritik notwendig. Diese Notwendigkeit ist vielfach bemerkt worden, wurde in der Regel aber auf Fragen des Kunstgeschmacks bezogen – Beckett ja oder nein, Thomas Mann oder Franz Kafka? Diese Kritik führt allerdings nicht besonders weit und kann vor allem Lukács’ Verdienste um eine materialistische historisch-systematische Ästhetik nicht aufzeigen. Lukács argumentiert wesentlich, wenn auch nicht ausschließlich, systematisch und nicht nur normativ oder empiristisch. Er ordnet die Kunst in die Gesamtheit der menschlichen Tätigkeiten ein und begründet ihren Beitrag für den Befreiungsprozess der Menschheit. Dabei entwickelt er ein Verständnis von Realismus, bei dem die Subjektivität eine wesentliche Rolle spielt und das er aus der prinzipiellen Diesseitigkeit der ästhetischen Mimesis und den der Kunst zugrunde liegenden sozialen Bedürfnissen ableitet. Damit richtet er sich einerseits gegen die Instrumentalisierung der Kunst für ihr äußerliche Zwecke, andererseits gegen das Prinzip der l’art pour l’art, das seiner Intention zum Trotz der Spezifik der Kunst nicht gerecht wird. Dagegen setzt Lukács, „daß, je organischer die immanente ästhetische Vollendung eines Kunstwerks ist, es desto besser den sozialen Auftrag, der es ins Lebens rief, zu erfüllen imstande ist.“ (II, 649) Nicht zuletzt besteht Lukács auf der Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität in der ästhetischen Sphäre. Kunst – wie alle menschlichen Produkte – ist stets auch auf ihre Tradition bezogen, kann aber ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten nur durch deren Modifikation gerecht werden. Das Neue und auch der Bruch mit dem Alten sind als Teil der Kontinuität der menschlichen Geschichte zu denken. Eine abstrakte Trennung gibt es hier nach Lukács nicht, und Krisen sind so in ihrem Doppelcharakter als Untergang von etwas Altem und Entstehung des Neuen aufzufassen. Damit kann insbesondere der antizipatorische Charakter der Kunst zum Tragen kommen, der Keime des Neuen im Untergang des Alten zu entdecken vermag. Auf der Grundlage seiner systematischen Untersuchungen fordert Lukács Realismus in der Kunst auch vehement ein und kritisiert große Teile der modernen Kunst, aber auch des sozialistischen Realismus, die ‚Verzerrungen’ des der Kunst zugrunde liegen Prinzips Realismus seien. Seine Urteile über die moderne Kunst sind im Einzelnen nicht immer überzeugend und können oft sogar aufgrund Lukács’ eigener Theorie kritisiert werden. Sie entsprechen allerdings kaum der fast karikaturhaften Sicht, die sich im Blick auf Lukács’ Kunstverständnis eingebürgert hat.[26]

Eine Realismustheorie, die sich mit normativen Setzungen nicht zufrieden geben will, könnte viel aus Lukács’ groß angelegtem Entwurf einer marxistischen Ästhetik lernen. Lukács liefert kein Rezept für Kunstwerke, aber eine systematische Basis für das Nachdenken über das, was Kunst kann und soll.

[1] Georg W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I. Werke Bd. 13, Frankfurt 1986, S. 23.

[2] Enno Stahl, Diskurspogo, Berlin 2013.

[3] Werner Seppmann (Hg.), Ästhetik der Unterwerfung. Das Beispiel Documenta, Hamburg 2013.

[4] Vgl. u.a. Florian Kessler, Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn! In: Die Zeit, 16.01.2014. Enno Stahl, Raus aus der Oberschicht, in: Jungle World, 06.02.2014. Dietmar Dath, Wenn Weißbrote wie wir erzählen, in: FAZ, 21.02.2014.

[5] Georg Lukács, Die Eigenart des Ästhetischen [1963], 2 Bde. 2. Aufl., Berlin, Weimar 1987. Im Folgenden mit der Bandzahl und der entsprechenden Seitenzahl gekennzeichnet. Es handelt sich bei der Eigenart des Ästhetischen um den ersten Band (und den einzigen realisierten) eines geplanten dreibändigen Werkes. Dieser erste Band behandelt in erster Linie Prinzipienfragen der Kunst. Fragen der „Anwendbarkeit“ finden hier keine Klärung.

[6] Ein ungelesenes Meisterwerk des 20. Jahrhunderts. Gespräch mit Thomas Metscher (Bremen), in: R. Dannemann (Hg.), Georg Lukács und 1968. Eine Spurensuche, Bielefeld 2009, S. 153.

[7] Vgl. Werner Jung, Georg Lukács und der Realismus. Überprüfung eines Paradigmas, in: Ders., Von der Utopie zur Ontologie. Zehn Studien zu Georg Lukács, Bielefeld 2001, S. 158.

[8] Vgl. auch Georg Bollenbeck, Eine Ästhetik, die mehr Aufheben verdient hat, in: G. Pasternack (Hg.), Zur späten Ästhetik von Georg Lukács, Frankfurt 1990, S. 44.

[9] Hans Heinz Holz, Thomas Metscher, Art. „Widerspiegelung / Spiegel / Abbild“, in: K. Barck, M. Fontius u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 6, Stuttgart, Weimar 2005, S. 664.

[10] Als weitere Quelle der Kunst nennt Lukács die wesentlich aus der Arbeit entspringenden abstrakten Formen der Widerspiegelung Rhythmus, Symmetrie und Proportion (und die aus diesen zusammengesetzte Ornamentik). (Vgl. I, 235-328). Hier könnte auch ein Ansatz für eine produktive Weiterentwicklung von Lukács’ Theorie liegen.

[11] Das letzte Kapitel Der Befreiungskampf der Kunst thematisiert nicht nur die Ablösung der Kunst von der kirchlichen Bevormundung, sondern auch die (Wieder-)Entstehung des religiösen Bedürfnisses im späten Kapitalismus, das sich auch in der modernen Kunst Ausdruck verschafft.

[12] Vgl. Werner Jung, Georg Lukács, Stuttgart 1989, S. 23.

[13] Daher geht die Eigenart des Ästhetischen thematisch weit über den Rahmen einer Ästhetik hinaus. Vgl. Pierre Rusch, L’Œuvre-monde. Essai sur la pensée du dernier Lukács, Paris 2013, S. 35. Und Nicolas Tertulian, Georges Lukács. Étapes de sa pensée esthétique, Paris 1980, S. 36.

[14] Karin Brenner, Theorie der Literaturgeschichte und Ästhetik bei Georg Lukács, Frankfurt, Bern u.a. 1990, S. 221.

[15] Dieses Selbstbewusstsein entspringt als solches im Arbeitsprozess und bekommt (ursprünglich vermittelt durch die abstrakten Formen der Widerspiegelung) in der Kunst einen eigenen Ausdruck. Vgl. Tertulian, Georges Lukács, a.a.O., S. 208.

[16] Das gilt zum Beispiel auch für die Landschaftsmalerei oder Stillleben (vgl. I, 577; II, 214f.). Denkbar sind prinzipiell auch weitergehende Vermittlungen.

[17] Vgl. Jindrich Zelený, Die Wissenschaftslogik bei Marx und das Kapital, Frankfurt, Wien 1962, S. 287.

[18] MEW 3, S. 5.

[19] Lukács schreibt bspw. über die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte: „Den Kern dieser Abrechnung [mit dem Idealismus] bildet ein philosophisches Ei des Kolumbus – die Ursprünglichkeit, die Unableitbarkeit der gegenständlichen Struktur der Wirklichkeit.“ (I, 521) Damit benennt Lukács einen Punkt, in dem Marx sich nicht wesentlich von Feuerbach unterscheidet. So verpasst er die Pointe der Marxschen Kritik am bisherigen Materialismus, nämlich dass es gerade auch auf die ‚Ableitbarkeit’ der gegenständlichen Struktur der Wirklichkeit aus der menschlichen Praxis ankommt.

[20] Vgl. hierzu Daniel Göcht, Entwicklung und Allgemeinheit. Georg Lukács’ Darstellung des Hegelschen Begriffs der Arbeit in Der junge Hegel, in: A. Arndt, M. Gerhard, J. Zovko (Hg.), Hegel gegen Hegel I. Hegel-Jahrbuch 2014, Berlin 2014, S. 207-211.

[21] Die Reflexivität der menschlichen Tätigkeit, die der Reflexivität des Denkens vorausgeht, thematisieren Marx und Engels in der Deutschen Ideologie: „Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren“. MEW 3, S. 21.

[22] Damit ist zum Beispiel Lukács’ Formulierung gemeint, die Gestaltung bestehe wesentlich im „gedankliche[n] Aufdecken“ und „künstlerische[n] Zudecken“ der Zusammenhänge der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Georg Lukács, Es geht um den Realismus [1938], in: Werke Bd. 4. Probleme des Realismus I, Neuwied, Berlin 1971, S. 324.

[23] Vgl. Stephan Siemens, Der Weg zu geistiger Autonomie. Bemerkungen zum Aufbau der Phänomenologie des Geistes, in: A. Arndt u.a. (Hg.), Geist? Hegel-Jahrbuch 2010, Berlin 2010, S. 128.

[24] Lukács eigene Beispiele weisen in diese Richtung. Auch seine Auseinandersetzung mit der Besonderheit als Kategorie der Individualität ist ein Ansatzpunkt dafür.

[25] So gilt Lukács’ Hauptkritik an Hegel dessen Forderung, die Substanz müsse auch als Subjekt aufgefasst werden, bei der es gerade auf die (wenn auch ideell bestimmte) Selbstveränderung und Selbstproduktion ankommt, die Lukács an vielen Stellen selbst einfordert. Vgl. Lukács, Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie. Werke Bd. 8. 3. Aufl., Neuwied, Berlin 1967, S. 654f.

[26] Vgl. Nicolas Tertulian, Die Lukácssche Ästhetik. Ihre Kritiker, ihre Gegner, in: Pasternack (Hg.), Zur späten Ästhetik von Georg Lukács, a.a.O., S. 33f. Sicher kann und soll Lukács an dieser Stelle kritisiert werden, aber dafür muss seine Theorie ernst genommen werden.

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