Literatur (in) der Krise

Kurz vor zwölf – Literatur und Überwachung

von Werner Jung
März 2015

I.

Es ist zwar erst einige Jahre her, klingt aber geradezu antediluvianisch, was in Aufsätzen, Essays, gelehrten wissenschaftlichen und akademischen Abhandlungen um das Jahr 2000 im Blick auf Probleme der öffentlichen Überwachung – genauer: der telematischen Überwachung des öffentlichen Raums – diskutiert worden ist. Damals hat man noch darauf verwiesen, dass vor allem England Ort und Hort öffentlicher Überwachung sei und die deutschen Städte erst allmählich und noch zögerlich die Kameratechnik zur Überwachung einsetzen. Zwar ist der Ansatz einer optischen Überwachung von öffentlichen Straßen und Plätzen in Deutschland schon alt, wie Thilo Weichert schreibt: „1958 wurde in München eine Verkehrszentrale eingerichtet, an die von stationären Fernsehkameras über 17 Verkehrsschwerpunkte bewegte Bilder übertragen wurden. 1959 kam zur Überwachung des Straßenverkehrs zur Industriemesse und zur Luftfahrtausstellung in Hannover eine Industriefernsehanlage zum Einsatz; ein Jahr später ergänzt durch mobile, u. a. in Hubschraubern installierte Kameras. (…) Überwacht wurde von Anfang an nicht nur der Autoverkehr. Auf der Mönkebergstraße in Hamburg, am Kröpcke in Hannover oder auf dem Münchener Marienplatz zielten die Maßnahmen von Beginn an gegen ‚Rand- und Problemgruppen’.“[1] Doch verglichen mit anderen Ländern wie etwa England oder den USA ist die deutsche Debatte zurückhaltend, sind vermutlich noch Scham und Anstandsgrenzen der Verwalter und Hüter des numinosen öffentlichen Raums erkennbar, ja, muss eine Institution wie das Bundesverfassungsgericht erläutern, was geschieht, wenn sich Menschen der Beobachtung durch entsprechende technische Apparaturen bewusst sind: „Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Informationen dauerhaft gespeichert, verwendet und weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder Bürgerinitiative behördlich registriert wird und dass ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art. 8, 9 GG) verzichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl.“[2] Und vergessen wir schließlich nicht auch noch die andere Seite, die Kehrseite, den öffentlichen Widerstand, wie er sich an vielen Orten und Plätzen dieser Welt, in unterschiedlichen Gesellschaften gezeigt und phantasievoll ausgestaltet hat. Jan Wehrheim, ein seit studentischen Tagen streitbarer Wissenschaftler, der sich in einer Vielzahl von Arbeiten mit Überwachungsphänomenen auseinandergesetzt hat, verweist in einem Aufsatz aus dem Jahr 2000 auf etliche Initiativen, Kampagnen und Aktionen, deren Ziel- und Fluchtpunkt die Denunziation öffentlicher Überwachung ist: „Der Protest“, so das Resümee, „ist vielfältig, und das hat auch der ‚Reclaim the Streets Day’ im Juni letzten Jahres in London gezeigt, bei dem Tausende gegen die Umstrukturierung und Überwachung der Städte protestierten.“[3]

Man möchte stöhnen und den Stoßseufzern hinterschicken: lang, lang ist’s her. Und wird auch nicht mehr. Seither ist die öffentliche Überwachung geradezu ubiquitär geworden. Und nicht nur das. Dasjenige, was vor einigen Jahren Rolf Gössner bereits die „Videotie“ genannt hat[4], scheint inzwischen in ein Stadium eingetreten zu sein, das man nur als Abstumpfung bezeichnen kann. Die Überwachung ist mitten unter uns, ob an öffentlichen Plätzen und in Straßen, vor Gebäudekomplexen, nicht zuletzt privaten, oder aber an den Arbeitsstätten. Und niemand regt sich wirklich deswegen auf. Oder wie kann es sein, dass z. B. vor einigen Wochen erst vom „Dezernat Gebäudemanagement“ einer großen deutschen Universität eine Mail durch den Zentralverteiler gejagt wurde, in der dazu aufgefordert wird, „eine vollständige Erfassung von Überwachungskameras vorzunehmen“. Und weiter: „Tragen Sie bitte in die Liste alle Anwendungsformen von Kameras (Überwachungskameras, Webcam, Kameraattrappe, etc.) ein, die sich in Ihren Räumlichkeiten befinden. Bitte begründen Sie, weshalb Sie die Überwachungskameras in Ihrem Bereich einsetzen.“ Die ausgefüllte Liste möge dann bis zum Tag X ans Sekretariat des technischen Gebäudemanagements zurückgeschickt werden. Und? Nein, weder ein Sturm der Entrüstung noch ein mildes Stürmchen bei den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaftlern hat sich geregt. Auch die vermeintlich Gebildetsten unter den Verächtern all desjenigen, was nach Überwachung, Bespitzelung und Verfolgung ausschaut, haben inzwischen klaglos akzeptiert, dass im Zeichen einer (Verbrechens-)Prävention telematische Kontrollen notwendig und unverzichtbar geworden sind. „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist“ (Heimito von Doderer) – Brave new world.

Längst sind die einst apokalyptisch wirkenden distopischen Visionen eines Aldous Huxley oder George Orwell Realität geworden, nein, sind in ihrer Perfidie sogar noch weit übertroffen worden; ähnliches gilt für die philosophischen Albtraumreflexionen eines Günther Anders, dessen Werk „Die Antiquiertheit des Menschen“[5] bestenfalls die analoge Welt bis zur letzten Revolution, nämlich der digitalen, zu spiegeln in der Lage ist. Aber, um Anders weiterzudenken: wenn es gilt, dass in der alten Welt die „prometheische Scham“ des Menschen vor der Welt der selbstgeschaffenen Gegenstände (Werkzeuge, Artefakte, ‚die Bombe’) uns alle regiert hat, dann ist inzwischen jede Scham geschwunden und der Sieg der Dinge – als die Summe der formierten Gegenstände – unwiderruflich geworden. Wir verneigen uns demütig davor und machen den Kotau; wir verhalten uns ‚gemäß der technischen Möglichkeiten’, d. h. nicht zuletzt eben: Wir benehmen uns nach Maßgabe einer permanenten Überwachung.

Von bestürzender Aktualität ist daher, was vor Jahrzehnten bereits Michel Foucault in seiner großen Studie „Überwachen und Strafen“ bei seiner Beschäftigung mit Jeremy Bentham aufgefallen ist.[6] Dieser hatte nämlich Ende des 18. Jahrhunderts in einer bahnbrechenden Schrift ein sogenanntes „Panopticon“ konzipiert, eine Gefängnisanlage, bei der rund um einen Überwachungsturm die einzelnen Gefängniszellen, jederzeit vom Personal einsehbar, gegliedert sind. „Hauptwirkung des Panopticons“, so Foucault, ist „die Schaffung eines bewussten und permanenten Sichtbarkeitszustands beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt. Die Wirkung der Überwachung ‚ist permanent, auch wenn ihre Durchführung sporadisch ist’; die Perfektion der Macht vermag ihre tatsächliche Ausübung überflüssig zu machen; der architektonische Apparat ist eine Maschine, die ein Machtverhältnis schaffen und aufrechterhalten kann, welches vom Machtausübenden unabhängig ist; die Häftlinge sind Gefangene einer Machtsituation, die sie selber stützen.“ (S. 258) Hierin entwirft ein ‚konzeptiver Ideologe’ Rahmungen, von Foucault „Polizeikontrolle“ genannt, die den gesamten „Gesellschaftskörper“ zu einem einzigen „Wahrnehmungsfeld“ organisieren (vgl. S. 275). Eine solcherart formierte Gesellschaft, die Disziplinargesellschaft, die sich just „in dem Augenblick“ herausbildet, „in dem die abendländische Welt mit der ökonomischen und politischen Eroberung eben dieser Welt“ – nennen wir’s getrost: Kapitalismus – beginnt (vgl. S. 289), sie ist die Voraussetzung für die spätere Entwicklung. „Was ist daran verwunderlich“, spitzt Foucault polemisch zu, „wenn das Gefängnis den Fabriken, den Schulen, den Kasernen, den Spitälern gleicht, die allesamt den Gefängnissen gleichen?“ (S. 292)

Um den Gedankengang Foucaults weiter fortzusetzen: Der Fortschritt der Zivilisation ist der von der Disziplinargesellschaft zur umfassend gewordenen Überwachungs- bzw. „Kontrollgesellschaft“, wie es bei Yvonne Hoffstetter heißt.[7] Und so ist es auch kein Horrorszenario mehr davon zu sprechen, dass wir uns an die Überwachung angeschlossen haben bzw. diese internalisiert haben. Denn wir sind von deren Notwendigkeit überzeugt – ein ‚sine qua non’. Ob bei Bankgeschäften, in Supermärkten oder Eingangsbereichen von Bahnhöfen, Flughäfen und Malls oder wo auch sonst immer, nicht zuletzt beim eigenen Arbeitgeber (siehe Uni!) – wem leuchtete nicht der Gedanke ein, dass – natürlich immer nur der eigenen Sicherheit wegen – die telematische Kontrolle und Überwachung unabdingbar wären. Eigentlich wollen wir ja auch gesehen werden und fühlen uns unter Aufsicht pudelwohl, denn nur so können wir auch nach außen sichtbar zeigen, dass wir nichts (voreinander) zu verbergen haben. Schaut alle her: Ich bin gläsern.

Perdu die seligen Zeiten der frühen Moderne Anfang des 20. Jahrhunderts, als Georg Simmel, einer der Gründerväter der neuen Wissenschaft der Soziologie, noch die Errungenschaften eben dieser Moderne beschreiben und zugleich feiern konnte, insbesondere die urbane Lebensform mit entsprechenden Denkweisen. In seinem Essay „Die Großstädte und das Geistesleben“ (1903)[8] beschreibt Simmel die Freiheit des Individuums in der modernen Großstadt, eines Individuums, das einerseits zwar auf die Hektik und Nervosität mit einer gewissen Blasiertheit und einem „Pathos der Distanz“ (Nietzsche) reagiert, andererseits aber diese Fremdheit durchaus positiviert. D. h. Simmel erkennt die Großstadt mit ihrer Anonymität, dem Verkehr wie einer gigantischen Reizüberflutung, aber auch in ihren dunklen Schattenseiten noch als einen Ort, der den einzelnen lehren kann, das Fremde – die Fremdheit und den Fremden (der Exkurs über den Fremden gilt in Simmels „Soziologie“ von 1908 als ein Kernstück des ganzen Buches[9]) – als notwendigen Hintergrund für soziale Erfahrungen wahrzunehmen.

Wie tief sind wir seit Simmels Zeiten gesunken? Welche Phobien und Ängste plagen uns? Der andere ist heute immer der Fremde, und er bleibt der (potentiell) Böse, den es zu beobachten und zu überwachen gilt – erst recht dann, wenn er, bereits äußerlich, so erkennbar anders ausschaut: etwa jugendlich, männlich, schwarz usw. Der Schwachsinn der ‚misera plebs’ und des gesunden Menschenverstands, vor dem bekanntlich schon Hegel immer wieder gewarnt hat. Jan Wehrheim beschreibt ein Szenario, das inzwischen zur Alltagsrealität der meisten Menschen in den kapitalistischen Metropolen geworden ist: „Mit der Zunahme von Unbekanntem und damit Störendem für diejenigen, die sich über Sicherheit abgrenzen, nimmt die Angst in den Städten eventuell nicht ab, sondern zu. Wenn man sich nur in den Räumen sicher fühlen kann, die demonstrativ Sicherheit symbolisieren, so bedeut dies, dass alle Räume, die nicht über eine solche Symbolik verfügen, zunehmend als unsicher empfunden werden, selbst wenn sie eigentlich keinerlei Assoziationen in die eine oder andere Richtung provozieren. (…) Wenn man die Orte der Sicherheit verlässt, muss die Angst zwangsläufig größer werden und wenn man in ihnen verbleibt, wird man zumindest permanent an die ‚Gefahr’ vor der Tür erinnert. Je mehr Orte demonstrativ als sicher dargestellt werden, desto mehr Orte wecken Assoziationen von Gefahr, es entsteht ein neuer Circulus-Vitiosus: Immer mehr Räume müssten überwacht werden.“[10] Die konsequente Frage, die sich auch Wehrheim stellt, ist die, auf welche Gesellschaft wir uns da zu bewegen und wie die Überwachungs- und Kontrollstrukturen uns noch weiter ‚entfremden’ werden.

II.

Kommen wir jetzt zur Literatur, die ja – wie das Gesamtsystem der Künste – als „Gedächtnis der Menschheit“ (Georg Lukács) fungiert. Und zwar in beiden Richtungen, nach hinten, retrospektiv, wie nach vorn, prospektiv – in Kürze: in Gestalt z. B. des historischen Romans ebenso wie auch der Utopie bzw. Distopie. Dazu drei knappe ästhetische Hinweise, die diesen Zusammenhang auf unterschiedliche Art diskutieren.

Der marxistische Ästhetiker Günther K. Lehmann hat, sichtlich unter dem Einfluss von Georg Lukács, davon gesprochen, dass die literarischen und künstlerischen Phantasiebilder, selbst noch in trivialen Formen, für das „spielerische Regenerieren der sozialen Phantasie“ zuständig seien.[11]

Kürzlich hat der Unternehmer und Schriftsteller Ernst-Wilhelm Händler einen Großessay veröffentlicht, dem er den Titel „Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument“ gegeben hat. Darin rechnet er es dem Roman als besonderes Verdienst an, das Innenleben des einzelnen Menschen zu erkunden bzw. innere Dispositionen auszuloten. Mit doppelter Frontstellung gleichsam: im Blick auf den einzelnen wie auch die Gesellschaft als ganze. „Aus der Perspektive des Einzelnen bietet der Roman die Möglichkeit von Trainingsprogrammen, mittels deren der Einzelne das Erkennen von Gefühlen und Assoziationen bei anderen und bei sich selbst lernt und übt.“[12] „Der Roman“ – als Mittel der Selbstbeobachtung der Gesellschaft – „artikuliert, was sich die Gesellschaft nicht eingestehen kann oder will, was sie dennoch bekommen muss. Im Roman vergewissert sich die Gesellschaft selbst.“ (S. 183)

Und in einem neuen Buch des Kultur- und Literaturwissenschaftlers Hans Ulrich Gumbrecht können wir etwas darüber erfahren, warum der Begriff der Stimmung eine so zentrale Bedeutung für unsere Lektüre hat. „Denn was uns beim Lesen berührt, ist Teil einer substantiellen Präsenz von Vergangenheiten …“[13] Ein gestimmter Raum, eine gestimmte Situation – sie allererst wiedererinnert werden, weil dieses stimmungshafte Element – berühmt-berüchtigt geradezu Marcel Prousts Madeleine-Erlebnis als Initialzündung für seinen Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ – dem Gedächtnis anhaftet.

Also: Es geht um die soziale Phantasie, die die Literatur – allen anderen literarischen Formen voran: der Roman – als Selbstbeobachtungsprogramm der Gesellschaft mit Blick auf den Leser aktiviert, und zwar über das Codewort Stimmung.

Der literarische ‚foundation text’, wenn es sich um die Überwachungsproblematik handelt, ist sicherlich George Orwells Roman „1984“ [14], der als Passepartout die Erfahrungen des Stalinismus benutzt. Orwell erzählt darin die Geschichte des kleinen Angestellten und Jedermann Winston Smith, der in die Mühlen des Systems gerät, plant, in den Widerstand zu gehen, um nach schrecklichen Torturen und dem Verrat seiner Freundin als intellektuell, seelisch und psychisch völlig gebrochener Mensch als willfähriges Rädchen im System sein Leben zu beschließen. Das düstere Überwachungsprogramm beschreibt Orwell gleich eingangs seines Romans. In jeder Wohnung sind sogenannte „Teleschirme“ installiert, die die Bewohner nicht nur pausenlos mit den Ergüssen der Partei und des großen Bruders konfrontieren – der auch physiologisch Väterchen Stalin nachgebildet ist, während der Gegenspieler, den zu hassen die Partei immer wieder in eigens anberaumten Hasssekunden ihre Bevölkerung auffordert, Züge Trotzkis zeigt –, sondern darüber hinaus auch die Funktion der Beobachtung übernehmen. „Man konnte natürlich nie wissen, ob man im Augenblick gerade beobachtet wurde oder nicht. Wie oft oder nach welchem System sich die Gedankenpolizei in jede Privatleitung einschaltete, darüber ließ sich bloß spekulieren. Es war sogar denkbar, dass sie ständig alle beobachtete. Sie konnte sich jedenfalls jederzeit in jede Leitung einschalten. Man musste folglich in der Annahme leben – und tat dies auch aus Gewohnheit, die einem zum Instinkt wurde –, dass jedes Geräusch, das man verursachte, gehört und, außer bei Dunkelheit, jede Bewegung beäugt wurde.“ (S. 9) Überwachung dient der Kontrolle und Reglementierung durch die Partei, deren beide Ziele lauten: „die Eroberung des gesamten Erdballs und die endgültige Tilgung jeder Möglichkeit unabhängigen Denkens.“ (S. 233) Um die Macht zu erhalten, die „kein Mittel, sondern ein Endzweck“ (S. 316) ist, setzt die Partei alles daran, jedes einzelne Mitglied „von der Geburt bis zum Tod“ zu kontrollieren. „Sogar wenn es allein ist, kann es nicht sicher sein, dass es wirklich allein ist. Wo es auch sein mag, ob es schläft oder wacht, arbeitet oder ausruht, im Bad oder im Bett liegt, es kann ohne Vorwarnung und ohne sein Wissen überwacht werden.“ (S. 253) Dieser Prozess kann erst wirklich dann als gelungen betrachtet werden, wenn entsprechende Verhaltensweisen habitualisiert und Denkformen internalisiert worden sind, wobei das System nicht davor zurückschreckt, brutalste Foltermethoden einzusetzen.

Die enorme Wirkung des Orwellschen Textes – und auch noch diejenige des Vorbilds, Evgeniy Zamjatins Roman „My“[15] – liegt gewiss in der Darstellung der Aussichtslosigkeit und einer permanenten Bedrohungssituation, die weit über die Realgeschichte wie das – sprichwörtlich gewordene – 1984 hinausgehen. Allerdings – und darin liegt die eher antiquierte Vorstellung Orwells – vermag der britische Schriftsteller dieses Bedrohungsszenario einzig von einem allmächtigen, „totalitären“ Staatsapparat ausgehen zu lassen.

III.

Was aber geschieht, wenn die Überwachung sich flächendeckend in der (Zivil-)Gesellschaft breit gemacht hat? Dieser Aspekt steht zwar nicht unmittelbar im Zentrum des letzten Romans von Ulrich Peltzer, „Teil der Lösung“ (2007)[16], den man durchaus ebenso als modernen Berlin- wie auch als Polit-Roman bezeichnen kann. Aber das Überwachungssyndrom bzw. -Fieber bildet so etwas wie den äußeren Rahmen einer Erzählung, die eine Reihe junger Leute – Autonome und Linksaktivisten – dieser Tage zeigt, was dem Text bei Rezensenten auch das Attribut des Zeitromans eingetragen hat.[17] Am Anfang und über einige Seiten hinweg sieht man Mitarbeiter einer Überwachungsgesellschaft, die in „einem Raum ohne Fenster“ vor ihren diversen Monitoren hocken und zuschauen: „Die Monitore sind stumm, kein Ton, nicht einmal Knistern gruppiert die Szenen zu einem Ganzen: all die Leute im Freien, ihre hierher übertragenen Wege an Schaufenstern und dichtgefüllten Caféterrassen vorbei zu diesem großen Brunnen mitten auf der überdachten Piazza.“ (S. 7) Berlin Potsdamer Platz: Myriaden von Touristen und anderen Besuchern, einzeln, in Gruppen, Kellerinnen und küssende Paare, fliegende Händler und – worauf die Mitarbeiter besonders achten – einige junge Leute, die in einer karnevalistischen Aktion auf die Überwachungsproblematik aufmerksam machen. Denn worauf es „ankommt im verschwiegenen Kern des Wartens“, so das Credo der Sicherheitsleute, das ist „eine aufblitzende Irritation, die plötzlich die Aufmerksamkeit fesselt, ein Impuls von Gefahr, der wie aus dem Nichts den Geist elektrisiert.“ (S. 10) Eine absurde Situation: Mitarbeiter, deren Tages- bzw. Nachtwerk darin besteht, tausende Bildersequenzen auf einer Vielzahl von Monitoren Revue passieren zu lassen, in einem Zustand, der sich im ewigen Kreislauf von Langeweile und Apathie bis zur gesteigerten Konzentration bewegt, ein An-sich-Vorbeiziehen-Lassen von Bildfolgen, auf und in denen nichts geschieht, bis – ja, bis dann eben doch etwas geschieht und ein Trupp der Firma PROTECTAS ausrückt. Die Absurdität potenziert sich vor dem Hintergrund der Frage, wer hier wen und warum beobachtet. Denn es sind ja keine Mitarbeiter eines Staatsapparates mehr wie bei Orwell, sondern schlecht oder gar nicht ausgebildete Menschen aus dem sog. Billiglohnsektor, die andere Mitmenschen – und vornehmlich solche aus dem Prekariat, aus Rand- und Problemgruppen – beobachten. Sie sind die ‚nützlichen Idioten’ für ein Bürgertum, das in der festen Überzeugung (nein: Wahnvorstellung) lebt, Kriminalität vermeiden und den Sicherheitsfaktor durch Überwachung enorm erhöhen zu können. (Was im Übrigen durch zahlreiche nationale wie internationale Studien längst widerlegt ist.) Die Herren der Kameras sind zwar die Hüter der Ordnung, aber nicht nur um den Preis des beschissen geringen eigenen Lohns, sondern vor allem auch einer Selbstverdinglichung, die sie zum bloßen Vollzugsorgan des Überwachungsapparats degradiert.

Damit befinden wir uns freilich erst in der Vorhölle; die wirkliche Hölle erreichen wir mit dem Eintritt in die digitale Welt. Was der Amerikaner Dave Eggers in seinem neuen (international überaus erfolgreichen) Roman[18] beschreibt, ist kein futuristisches Horrorszenario, sondern Alltagsrealität. Beziehungsweise, um eine Formulierung von Günther Anders aufzugreifen, nur eine kleine Übertreibung in Richtung auf die Wahrheit. Denn natürlich werden (noch) keine Chips in uns implantiert, tragen wir auch (noch) keine Minikameras, die uns gläsern machen und die Öffentlichkeit an allem partizipieren lassen. (Nur: was PKWs bis in die untersten Klassen alles via Bordcomputer können, das sollte uns und unseren Körpern erspart bleiben? Warum eigentlich?) Durch Protektion kommt die 24-jährige Mae Holland in den Superkonzern „Circle“, des, wie es gleich auf der ersten Seite heißt, „einflussreichsten Unternehmens der Welt“. (S. 7) Sie ist sofort begeistert, an der Seite anderer junger Leute, die freundlich, kreativ und innovativ sind, im Kundenservice des Unternehmens tätig sein zu können. Rasch steigen ihre Beliebtheitswerte, bei den Kunden ebenso wie im Unternehmen selbst. Hat sie anfänglich noch auf „Eigenzeiten“ geschaut, Sport getrieben, mit Maßen soziale Kontakte gepflegt und sich um ihre kranken Eltern gekümmert, so verbringt sie mehr und mehr Zeit in der Firma, richtet sämtliche Aktivitäten an und rund um ihren Job aus, um – Höhepunkt der Selbstentfremdung – an der Seite von diversen Politikern und anderen Mitarbeitern des Hauses sich durch Chip-Implantate und sog. Lolli-Kameras der permanenten Kontrolle und Überwachung durch die Öffentlichkeit auszusetzen. Getreu dem von den drei Inhabern und zugleich Thinktanks des Unternehmens ausgerufenen ideologischen Floskeln: Geheimnisse sind Lügen – Teilen ist heilen – Alles Private ist Diebstahl (vgl. S. 346). Einmal ans Netz angeschlossen, ist nichts mehr nicht öffentlich: weder Gänge auf die vormals stillen Orte noch in die vermeintlichen Liebeshöhlen. Alles wird nicht nur rundum betrachtet, sondern bewertet, geposted, geliked. Aktuelle Fassung des kategorischen Imperativs: verhalte dich schlichtweg so, dass alles, was du unter den Augen der Öffentlichkeit tust, von jedermann akzeptiert werden kann! Kein ‚big brother is watching you’, sondern die Millionen Augen einer Hydra namens Öffentlichkeit schauen zu. Am Ende eines längeren Gesprächs zwischen Mae und Bailey, einem der drei Chefs von „Circle“, spitzt dieser die Frage zu: „Was wäre, wenn wir alle uns so verhielten, als ob wir beobachtet würden? Das hätte einen moralischen Lebenswandel zur Folge. Wer würde noch etwas Unethisches oder Unmoralisches tun, wenn er beobachtet würde?“ (S. 331) Damit ist endgültig die Katze aus dem Sack. Dank der technisch-technologischen Errungenschaften von „Circle“ – dieser Quadratur aus Amazon, Google, Facebook – werden wir am Ende alle zu ‚Gutmenschen’, die den Gulag eines gläsernen Raums bewohnen – in einer perfekten Gemeinschaft, die so etwas wie Gesellschaft überflüssig macht. Nach Abschaffung des Staates und Abdankung der Zivilgesellschaft regiert dann einzig die ‚schöne Gemeinschaft’ als Einlösung einer romantischen Utopie: „Nichtwissen war der Ausgangspunkt für Wahnsinn, Einsamkeit, Misstrauen, Furcht. Aber es gab Möglichkeiten, das alles zu beheben. Gläsernheit hatte sie für die Welt wissbar gemacht, hatte sie besser gemacht, hatte sie, das hoffte sie zumindest, der Vollkommenheit einen Schritt näher gebracht. Jetzt würde die Welt folgen. Völlige Transparenz würde den Zugriff auf alles mit sich bringen, und es gäbe kein Nichtwissen mehr. Mae lächelte bei dem Gedanken, wie einfach das alles war, wie rein.“ (S. 527f.)

Aber die Stellschraube lässt sich noch weiter verstellen, wie die beiden erfolgreichen Romane aus dem letzten Jahr zeigen: Marc Elsbergs „Zero. Sie wissen, was du tust“ (München 2014) und Tom Hillenbrands „Drohnenland“ (Köln 2014). Obwohl die Gattungs- bzw. Genrebezeichnungen darauf hinweisen, dass es sich ‚natürlich’ um reine Fiktionen handeln soll, sind die dargestellten Begebenheiten dennoch von einem geradezu bestürzenden Realitäts- wie Aktualitätsgehalt. Simuliert wird bei Elsberg eine Situation, in der Cyberbrillen zur Grundausstattung nicht nur von Jugendlichen geworden sind. Und die empfangenen Daten dienen nicht nur dem eigenen Biofeedback, sondern eignen sich hervorragend, um andere aufzuspüren, ihnen hinterher zu spionieren, sie zu überführen. Ja, es geht um Programme, die Verhaltensmuster erkennen können. „Man nennt das Predictive Analytics“, wie eine Figur erläutert. „Wir alle glauben heute, Individualisten zu sein, doch in Wahrheit verhalten wir uns ziemlich uniform – und damit vorhersehbar.“ (S. 27) Die Folge davon ist, „dass man aus anonymisierten Daten einzelne Personen identifizieren kann. (…) Besonders, wenn man verschiedene Datensammlungen kombiniert. Unser Surfverhalten im Internet, Handydaten, Reise- und Einkaufsverhalten erzeugen ein eindeutiges Profil.“ (S. 28) Was geschieht, wenn gelangweilte Kids sich zum Spaß solcher Techniken zu bedienen wissen, erzählt Elsbergs Roman, in dem zur Jagd auf unliebsame – eben nicht konforme – andere aufgefordert wird. Jedenfalls in einem Handlungsstrang wird davon erzählt – davon auch, wie ‚digital kids’ nur noch zynisch auf Mahnungen und Warnungen ihrer Eltern reagieren, wie (hätte man früher gesagt) ausgebrannte Lebensprofis, die bereits alles kennen, wissen und längst hinter sich haben. „Wir sind halt so aufgewachsen“, ruft die Tochter ihrer Mutter zu. „Mobiltelefone und das Internet kamen vor meiner Geburt in die Welt. Eure Generation hat diese Welt für unsere gebastelt. Wir waren das nicht. Also regt euch nicht darüber auf.“ (S. 129) Zynischer kann wohl die Botschaft dieser Geschichte nicht formuliert werden: „Gesetze kommen und gehen. Die Privatsphäre wohl auch.“ (S. 240)

Im Vordergrund steht bei Hillenbrand, wie es der Norm der Gattung Krimi entspricht, natürlich ein Mord, im Hintergrund geht es aber um weit mehr: um neue Computer-Programme und Datenklau. Allgegenwärtig sind die eingesetzten Transportmittel geworden im „Drohnenland“, „und so wimmelt es am Tatort bereits von Colibris, Flutlichtdrohnen und anderen Maschinen, die in konzentrischen Kreisen um den Toten herumschwirren und aus allen erdenklichen Winkeln hochauflösende Bilder knipsen.“ (S. 10) Nichts entgeht ihnen, und wer da noch von vermeintlicher Anonymität und dem Recht auf Privatheit faselt, hat sein Jahrhundert verfehlt. Bis in die entferntesten Winkel dringen sie vor, „winzige bionische Flieger“, so genannte „Mites“, „die mit bloßem Auge nicht von echten Eintagsfliegen zu unterscheiden sind.“ (S. 87) Dann gibt es noch die „Spinnendrohnen“, so groß wie Männerhände (vgl. S. 153), wie auch die Killerdrohnen, eine Assassinendrohne, „ein furchterregendes Monster aus mattschwarzer Keramik“ (S. 392). Mit ihnen hat die Überwachung das finale Stadium erreicht. Nichts geht mehr ohne oder gar gegen sie, nur noch mit ihnen lässt sich die Welt regieren, was in Hillenbrands rabenschwarzem Kosmos bedeutet, dass die solcherart überwachte Realität als gescannte Wirklichkeit jetzt die Möglichkeit bietet, den Menschheitstraum – das/den Albtraum(a) – wahrzunehmen, eine zweite Realität – rechnergeneriert – zu erzeugen. Den Programmierern, heißt es an einer Stelle, war klar geworden, „dass man mit der Fülle an Livedaten, die unsere Sensoren (…) aus allen Ritzen und Winkeln der Realität saugten und auf Festplatten speicherten, eine Kopie der Welt bauen könnte, eine virtuelle Welt.“ (S. 365)

Vom Panopticon über die Kontrollgesellschaft bis zum Panoptizismus hat sich das Prinzip Überwachung, das Orwellsche Modell, unter Bedingungen der digitalen Revolution dramatisch weiterentwickelt und zugespitzt. Ob da so wohlmeinende Versuche wie der von Ilja Trojanow und Juli Zeh angestiftete Aufruf der Autoren zur Verteidigung der Demokratie im digitalen Zeitalter auf dem Hintergrund, so etwas wie ein „digitales Grundrecht“ zu schaffen22, erfolgreich sein werden oder statt dessen nicht selbst schon zu spät kommen, ist noch nicht entschieden. Glaubt man hingegen den aktuellen literarischen Distopien, denen man auf jeden Fall den Status von ‚Übertreibungen in Richtung Wahrheit’ (G. Anders) zusprechen darf, marxistisch formuliert: Beschreibungen von Entwicklungen, die – perspektivisch – ‚das nächste Kettenglied’ (Lenin) der Historie anvisieren, dann ist es sicherlich bereits schon kurz vor zwölf.

[1] Thilo Weichert, Audio- und Videoüberwachung im öffentlichen Raum, in: Vorgänge, Nr. 144, H. 4/1998, S. 63.

[2] Zit. nach Weichert, a. a. O., S. 66.

[3] Jan Wehrheim, CCTV – Ein fast ignoriertes Überwachungsdrama breitet sich aus, in: Forum Wissenschaft, H. 2/2000, S. 39.

[4] Rolf Gössner, „Big Brother“ und Co. Der moderne Überwachungsstaat in der Informationsgesellschaft, Hamburg 2000, S. 29.

[5] Günter Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bde. München 1956 und 1980.

[6] Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994. Vgl. dazu auch Reg Whitaker, Das Ende der Privatheit. Überwachung, Macht und soziale Kontrolle im Informationszeitalter, München 1999, Kap. 2: Das Panopticon, S. 46-63.

[7] Yvonne Hoffstetter, Sie wissen alles, München 2014. Vgl. dazu Johannes Boie, Ein Blick aus dem Inneren des Datenkraken, in: Süddeutsche Zeitung, 13./14. 9. 2014.

[8] In: Georg Simmel, Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, in: Gesamtausgabe Bd. 7. (Hg.) Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 1995, S. 116-131.

[9] In: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, in: Gesamtausgabe Bd. 2. (Hg.) Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 1992.

[10] Jan Wehrheim, Die überwachte Stadt – Sicherheit, Segregation und Ausgrenzung. 2. völlig überarbeitete und aktualisierte Auflage, Opladen 2006, S. 230.

[11] Günther K. Lehmann, Phantasie und künstlerische Arbeit. Betrachtungen zur poetischen Phantasie, Berlin und Weimar 1976, S. 113.

[12] Ernst-Wilhelm Händler, Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument, Frankfurt/M. 2014, S. 182.

[13] Hans Ulrich Gumbrecht, Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, München 2011, S. 25.

[14] George Orwell, 1984 (Erstausgabe 1948), Berlin 2013.

[15] Evgeniy Zamjatin, My (frz. und engl. 1924; dt. 1958); Ders., Wir, Bremen 2013.

[16] Ulrich Peltzer, Teil der Lösung, Roman, Zürich 2007.

[17] Vgl. etwa Helmut Böttiger, Ein Lied für die Tauben, in: Süddeutsche Zeitung, 15./16. 9. 2007.

[18] Dave Eggers, Der Circle, Roman, Köln 2014.

22 Vgl. dazu auch: Juli Zeh, Schützt den Datenkörper! In: FAZ, 11. 2. 2014.

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