Archiv

Über Jean Paul

Mit einem Kommentar von Andreas Heyer

von Wolfgang Harich
März 2015

1

Unter den Intellektuellen in der DDR, die Jean Paul Kenner sind, Schriftsteller, Literaturwissenschaftler, wer es auch sei, bestehen hinsichtlich der Einschätzung Jean Pauls große Meinungsverschiedenheiten. Aber in einem Punkt dürften sie sich alle einig sein, dass dieser Dichter unter den deutschen Schriftstellern seiner Zeit eine Größe hatte, wie sie sonst nächst Goethe nur noch Schiller eigen war. Man kann sich darüber streiten, ob er an Bedeutung über Schiller gestanden hat oder etwas darunter, es kommt darauf an, welche Kriterien man anlegt. Wenn man das Kriterium der weltweiten Wirkung, der Weltberühmtheit anlegt, dann steht er sicherlich hinter Schiller zurück, aber es gibt auch noch andere Kriterien, ich will sie hier nicht alle aufzählen.

In einem weiteren Punkt dürften sie sich ebenfalls einig sein – also die Sachverständigen –, dass er in politischer Hinsicht weit links von Schiller gestanden hat, von Schiller und Goethe. Nun wird Jean Paul in der Erbepflege der DDR kaum Beachtung geschenkt. Das zeigt sich an dem heutigen Gedenktag seit Bestehen der DDR zum dritten Mal. Schon die Anlässe 1963 und 1975 gingen vorüber, ohne dass Jean Paul gebührend gedacht wurde. Jetzt, 1988, die letzte Gelegenheit in diesem Jahrhundert ein Jubiläum zum Anlass des Gedenkens an Jean Paul zu nehmen, ist vorüber, man werfe einen Blick in die Tageszeitungen der DDR, es ist seiner nicht mit einer Zeile gedacht.

Ich möchte zunächst mich jetzt einmal der Frage zuwenden, warum das in kulturpolitischer Hinsicht eine Dummheit, ein großer Fehler ist. Viele Gründe sind da vor allem zu nennen:

I.

Es hat unter den deutschen Dichtern und Schriftstellern der Zeit keinen anderen gegeben, der in so hohem Maße mit so großer Hartnäckigkeit ein Lebtag lang bestrebt war, seiner Zeit den Spiegel vorzuhalten, die Verhältnisse, die Menschen, die Zustände jener Zeit in Deutschland widerzuspiegeln und unmittelbar Partei zu ergreifen. Da steht er ganz einzig da, man kann geradezu bei ihm von einer Gegenwartsbesessenheit sprechen. Das gilt für alle Genre, in denen er kleine oder große Texte vorgelegt hat. In der Satire, in der Idylle, in dem Roman, in der Humoreske usw. Immer begegnen wir ihm als brennend aktuellem Gegenwartsschriftsteller, von der frühen Jugend bis ins Greisenalter. Ich meine doch, die Kulturpolitik eines sozialistischen Landes müsste bestrebt sein, dass als ein Vorbild für die eigenen Dichter und Schriftsteller herauszustellen. Den Jean Paul im Hinblick auf diese seine Gegenwartsbesessenheit zu rühmen und zu sagen: Macht es genauso wie er, darin ist er auch vorausgegangen. Nein, aber das geschieht nicht.

II.

Kein anderer Schriftsteller, bedeutender Schriftsteller überhaupt, hat so darauf bestanden, dass es die vornehmste Aufgabe eines Autos sei, in der Dichtung vorbildhafte, makellose gute Menschen zu gestalten, die sich die Zeitgenossen zum Leitbild des eigenen Verhaltens nehmen sollen. Er war der große, kann man sagen, in unserer Literatur klassische Vorläufer der Gestaltung des positiven Helden. Auch hier ist ein ganz aktueller Anknüpfungspunkt für eine sozialistische Gesellschaft, die in ihrer Literatur den positiven Helden will, die ihre Schriftsteller darauf verpflichten will, Vorbilder zu schaffen, nach denen die Menschen in ihrem Verhalten sich richten sollen. Nein, auch diese Seite wird überhaupt nicht gesehen, wird nicht beachtet. Dies ist nun um so unverständlicher, als sich einige der positiven Helden Jean Pauls zu Revolutionären entwickeln, als er in einigen Fällen die Entwicklung guter Menschen, edler Menschen zu revolutionären Menschen gestaltet. Dies ist der Fall gleich in seinem ersten Roman, in der Unsichtbaren Loge, bei Gustav und Ottomar. In dem zweiten Roman, in dem Hesperus, bei Flamin und bis zu einem gewissen Grade bei dem mit ihm befreundeten Haupthelden Viktor, und das gilt vor allem, nicht wahr, für Jean Pauls Hauptwerk, für den Titan, das gilt es für die Gestalten Albanos und Idoines. Diese Revolutionäre, die er geschaffen hat, machen den Jean Paulschen Erziehungsroman in drei Fällen zu einer einzigartigen Angelegenheit in unserer Nationalkultur. Und das ist natürlich doch kein Zufall, dass Romane, die aus dem Traditionsbewusstsein des deutschen Bürgertums verdrängt sind, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, dass gerade diese revolutionäre Qualität haben. Da besteht doch ein Zusammenhang! Das müssen Marxisten doch erkennen und müssen gerade diese Seite von Jean Pauls Schaffen der Vergessenheit entreißen und in helles Licht stellen. Auch das geschieht nicht.

III.

Damit bin ich gleich bei einem dritten Punkt. Die Erbepflege eines sozialistischen Landes muss den größten Wert legen auf die progressiven Traditionen der eigenen Vergangenheit. Und da ist viel geschehen, aber man hat den Jean Paul dabei vergessen. Unsere Erbepflege in der DDR ist in den letzten Jahren breiter, großzügiger geworden, gerade auch im Hinblick auf die geschichtliche Vergangenheit Preußens. Ich brauche keine näheren Beispiele zu nennen, jeder weiß, was ich meine. Wenn es in der Geschichte Preußens aber eine Epoche gibt, in der Preußen eine progressive Rolle gespielt hat, dann war das die Zeit der Stein-Hardenbergschen-Reformen, nach dem Zusammenbruch Preußens in der Schlacht von Jena und Auerstädt, bis zu der Niederlage Napoleons. Das war die große progressive Zeit Preußens, die wir ja auch sonst herausstellen, ich brauche ja nur daran zu erinnern, der höchste Orden, den die NVA vergibt an ihre verdienstvollen Offiziere, es ist der Scharnhorst-Orden, also die Zeit der Stein, Hardenberg, Scharnhorst, Wilhelm von Humboldt, Gneisenau usw.

Jetzt behaupte ich, dass der Jean Paul, der Schriftsteller seiner Zeit, der große geistige Wegbereiter dieser Reformen gewesen ist, mit seinen sich zu Revolutionären entwickelnden positiven Helden aus der Unsichtbaren Loge, aus dem Hesperus und aus dem Titan. Der letzte dieser Romane ist 1802 in Meiningen abgeschlossen worden, vier Jahre später erfolgte der Zusammenbruch Preußens bei Jena und Auerstädt, und von da ab treten Reformen in Preußen auf, und unter anderen Verhältnissen in den von Napoleon direkt beherrschten Rheinbundstaaten auch, von denen man sagen kann, sie sind in idealer überhöhter Weise, ins Ideale überhöht, poetisch vorweggenommen worden, durch die positiven Helden Jean Pauls der Zeit davor, der Zeit bis 1802, gipfelnd im Titan. Es wäre also eine Aufgabe der progressiven Erbepflege, der Pflege progressiver Erbetradition, da den Jean Paul auch sehr entschieden herauszustellen.

IV.

Ja, es gibt noch einen weiteren Punkt. Es lässt sich sogar vermuten, dass er diese Reformzeit in Preußen und den Rheinbundstaaten nicht nur geistig vorbereitet hat, in stärkerem Maße als irgendein anderer progressiver deutscher Schriftsteller seiner Zeit, sondern dass er auch direkt, und zwar besonders in Preußen, darauf Einfluss genommen hat. Denn wenn wir die Frage stellen: Wer hat eigentlich am preußischen Hof in der Zeit nach Jena und Auerstädt die Reformer am meisten unterstützt, ihnen am meisten den Rücken gestärkt, sie am meisten protegiert? Dann lautet die Antwort ganz eindeutig: Das war die Königin Luise, die in dieser Hinsicht einen großen Einfluss ausübte auf den ja sehr wankenden, schwachen, unentschlossenen Mann, auf den König Friedrich Wilhelm III. Luise, eine Prinzessin aus dem sorbischen Herrscherhaus, aus Mecklenburg/Strelitz, die dieser Friedrich Wilhelm III. zur Frau genommen hat. Nun, und diese Luise war eine glühende Jean Paul-Verehrerin. Als Jean Paul 1800/1801 in Berlin weilte, wurde ihm ja gerade hier der große Triumph seines Lebens zuteil, er fand hier die größte gesellschaftliche Anerkennung, er wurde hier als große Sensation gefeiert bei den progressiven Vertretern des Adels und des Bürgertums und in den intellektuellen Salons, aber vor allen Dingen wurde er empfangen von der Königin Luise, die es sich nicht nehmen ließ, mit ihm in Potsdam zu speisen, und ihm persönlich die Sehenswürdigkeiten, vor allen Dingen Sanssouci, zu zeigen, und bei dieser Gelegenheit hatte er auch seinen Einfluss geltend gemacht, einen Bekannten, den Kaufmann Herold, bei dem er Hauslehrer gewesen war, aus der Haft zu befreien. Herold war angeklagt wegen Majestätsbeleidigung, also wegen Beleidigung Friedrich Wilhelms III., also Jean Paul gelang es in Berlin, dank seines Einflusses auf die Königin Luise, den Kaufmann Herold freizukämpfen. Wahrscheinlich, wenn wir diesen Begriff des Transmissionsriemens einmal nehmen, der ja jedem Marxisten bekannt ist, kann man sagen, die Königin Luise ist der Transmissionsriemen der progressiven, der revolutionären Gesinnung Jean Pauls zu den einzig von ihr protegierten preußischen Reformern gewesen. Ich glaube, das ist eine historische Wahrheit, die sich durch Beweise stützen lässt und die doch sowohl ihn als auch die Luise in ein sehr interessantes Licht rückt.

Friedrich II., sein Denkmal Unter den Linden wieder aufzustellen, das ist schön und gut, da habe ich nichts dagegen, aber, er mag die bedeutendste Persönlichkeit des Hauses Hohenzollern gewesen sein, eine liebenswerte Erscheinung, wenn man von seinen künstlerischen Ambitionen einmal absieht, war er auf keinen Fall, aber dies Herrscherhaus hat doch eine liebenswerte Gestalt, eine liebenswerte Vertreterin, die im Übrigen auch außerordentlich populär gewesen ist, sehr beliebt bei den Volksmassen in Preußen, das war die Königin Luise.

Jetzt stellen wir noch einmal, wenn wir nach progressiven Traditionen in Preußen suchen, stellen wir einmal in diesem Licht den Jean Paul heraus, das ist doch viel viel wichtiger, als alles, was hier zum Gedenken des Alten Fritz geschehen ist im Zusammenhang mit dessen 200. Todestag. Also, da liegt auch ein großes Versäumnis unserer Historiker und Literaturhistoriker und unserer Erbepflege überhaupt.

Wenn man ganz kurz auf eine knappe Formel gebracht sagen soll, welches die sozialen und politischen Hauptanliegen Jean Pauls gewesen sind, für die er sein Lebtag lang gekämpft hat, dann waren es die Befreiung der Bauern aus der Fronknechtschaft, in dieser Beziehung ist er eine deutsche Parallelerscheinung zu den späteren russischen revolutionären Demokraten gewesen, und die Emanzipation des weiblichen Geschlechts, und man kann, wenn man seine persönliche Beziehung zu dem von preußischen Offizieren malträtierten jüdischen Kaufmann in Bayreuth, Emanuel Samuel junior, hinzunimmt, ihn auch in die Traditionslinie des Kampfes für die Emanzipation der Juden stellen. Das kann man auch hervorheben. Das sind die drei großen politischen Zeittendenzen, die progressiven Zeittendenzen, die der Reformzeit in Preußen und in den Rheinbundstaaten nach 1806 das Gepräge geben, und ich meine, dass marxistische Erbepflege größten Wert darauf legen müsste, das herauszuarbeiten, und dass Jean Paul in diesem Sinne in die Kämpfe seiner Zeit zu stellen wäre. Er wollte die Errungenschaften der Französischen Revolution, die Befreiung der Bauern aus der Fronknechtschaft, die Durchsetzung bürgerlicher Interessen im politischen Raum, die Frauenemanzipation und die Judenemanzipation, diese Dinge wollte er auf Deutschland übertragen wissen durch Reformen von oben, durchgeführt von Herrschern, die ihrem Wesen nach Revolutionäre sein sollen. Das ist die große Utopie, die ihm in seinem Romanschaffen 1802 vorschwebt.

V.

Ein fünfter Punkt. Die bürgerliche Literaturwissenschaft pflegt in der Auseinandersetzung kaum jemals diese Inhalte in den Mittelpunkt zu stellen, sondern beschäftigt sich lieber mit den Formfragen, mit Jean Paul als einem Dichter der offenen Form, mit einem Dichter, der das geschlossene Kunstwerk immer wieder aufbricht durch seine Einlagen und Beilagen und Zettelkästen, seine Abschweifungen, seine in den Text eingestreuten Satiren usw. Ich halte das nicht für das Wesentliche an Jean Paul, sondern lege größeren Wert auf die Charaktere, die er geschaffen hat, auf die ideologischen Inhalte, seine Werte, auf seine Fabeln und natürlich auch auf seine Bereicherung der deutschen Sprache, die aber von seinen Metapherspielen nicht zu trennen ist. Man kann darüber sehr unterschiedlicher Meinung sein, hinsichtlich der Motive der Jean Paulschen Form glaube ich, dass er gezwungen war, lange Zeit gezwungen war, sich die Narrenmaske vorzuhalten, und zwar von dem Augenblick an, als er erlebte, dass seine große gesellschaftliche Satire, dass Lob der Dummheit, keinen Verleger fand, da hielt er sich dann die Narrenmaske vor, von den Grönländischen Prozessen an. Und ich glaube, dass auch die Wirkung, die Lawrence Sterne auf ihn ausgeübt hatte, nicht nur positive Seiten, sondern auch ihre verhängnisvollen Seiten hat. Es sind da die Eigenschaften der Jean Paulschen Erzählweise entstanden, die seinen heutigen bürgerlichen Interpreten als die Hauptsache, dass Wichtigste an ihm erscheinen und die dazu benutzt werden, ihn als Vorläufer der modernistischen Formauflösung in der Kunst zu feiern.

Man kann darüber denken, wie man will, man kann das so oder so ansehen, aber eines steht ja fest, die Diskussion über diese Problematik macht ihn ja hochaktuell und ließe es als lohnend erscheinen, ihn zum Ausgangspunkt heutiger Diskussionen zu machen. Einmal kann man Jean Paul nutzen, um Modernisten anzusprechen und zu progressiven Inhalten hinzudrängen, das ist eine Möglichkeit. Man kann aber auch als Gegner des Modernismus, als den ich mich bekennen möchte, fragen: Warum sind diese progressiven Inhalte in der Folgezeit bis auf den heutigen Tag unwirksam geblieben, warum ist ihm die breite Massenresonanz versagt geblieben? Liegt das nicht vielleicht an der Fragwürdigkeit der Formauflösung? Das ist eine Frage, die ich in die Debatte werfen möchte. Und man kann weiter fragen zum anderen: Wächst nicht Jean Paul da über sich hinaus? Und schöpft er nicht da seine wahren Möglichkeiten aus, wo er formal in die Schule der Weimarer Klassik geht, nämlich in dem zweiten, dritten und vierten Band des Titans, wo er nämlich den Weg zur geschlossenen Form findet? Da ist er ja ein ganz interessanter Gegenstand für heutige aktuelle Formauseinandersetzungen. Es wird aber die Möglichkeit einer Diskussion darüber bei uns auch vernachlässigt, bei uns auch nicht wahrgenommen. Das wäre ein Gegenstand eines aktuellen zeitbezogenen Meinungsstreits, wichtig für Klärungen unter den Kultur- und Kunstschaffenden heute.

Eines ist aber klar, wie der Einzelne dazu auch stehen mag, dass Jean Paul ungeheuren Genuss bereitet, Kunstgenuss gewährt, in allen seinen Werken, besonders aber in seinen Humoresken wie Dr. Katzenberger, Fibel, Schmelzle, in seinen Idyllen Wutz, Fixlein, auch in seinen Romanen, auch in seinen Satiren, bereitet er großen Kunstgenuss, erweitert er den Horizont, macht das Leben seiner Leser reicher, vorausgesetzt, dass sie eines auf sich nehmen, eine Anstrengung, ja nicht eine Anstrengung des Begriffs, wie es Hegel für die Philosophie gefordert hat, sondern eine Anstrengung der Phantasie, eine Anstrengung der Anschauung, der Intuition, eine Anstrengung der Assoziation. Jean Paul verlangt also einen aktiven Leser, beziehungsweise, er erschließt seine Schönheiten und seine Reichtümer nur einem aktiven Leser. Ja, und damit glaube ich, wird es zur kulturpolitischen Aufgabe eines sozialistischen Landes, ihn einmal auszuspielen gegen all das, was bei uns Kunst und Unterhaltung zur Angelegenheit eines passiven Konsums macht.

Wir leben im Zeitalter der visuellen Berieselung des Bewusstseins durch das Fernsehen, im Zeitalter auch der bedeutenden Phonstärken, die den Benutzer des Walkman zu einem passiven Wesen machen. Fernsehkultur, Fernsehkonsum und Musikkonsum, alles führt über die Passivität in die Verblödung. Und da könnte sozialistische Kulturpolitik jetzt den Jean Paul als großes Gegenbeispiel aufbieten, als einen Dichter, der Schönheiten und Genüsse in reichster Weise zu bieten hat, aber nur für einen aktiven Leser, der in den Kunstgenuss seine Aktivität einbringt. Das glaube ich, macht ihn zu einem Verbündeten, vor allen Dingen im Kampf für eine humanistische Kulturoffensive, eine aktivierende Kulturoffensive gegen die einlullende, verblödende Unterhaltungsindustrie, wie sie vor allen Dingen durch die modernen Medien als große Gefahr in unserer Kultur sich immer mehr ausbreitet. Also, Lektüre von Dr. Katzenbergers Badereise als Gegengift zum Konsumieren von Dallas-Serien.

Ich möchte es jetzt hier bei diesen fünf Punkten bewenden lassen, ich könnte noch viel viel [Doppelung im Orig., d. Hrg.] hinzufügen, was Jean Paul aktuell und wichtig für uns macht, seine Rolle als Demokrat, als Humanist, als größter deutschsprachiger Satiriker seiner Zeit, als größter deutscher Humorist aller Zeiten in der Geschichte der deutschen Literatur, seinen Kampf für die Friedensidee, seine Vision vom Befreiungskampf der Kolonialvölker, die revolutionäre Dimension, die er in Herders Völkerkunde hineingetragen hat usw., das ist unerschöpflich, nicht wahr, das ist ein Mann, der uns in jeder Hinsicht wertvoll und wichtig sein muss, ganz kostbares und großes Erbe. Jean Paul, der Mann, den Goethe und Schiller als Dritten in ihren Bunde hineinziehen wollten, die Frage, woran das scheiterte, sein Bündnis mit Herder, worum ging es damals, die entgegengesetzte Einstellung zur Französischen Revolution, die entgegengesetzte Einstellung zur Frage Gegenwartsliteratur oder Hinwendung zum Erbe der Antike usw., also da gibt es noch eine Fülle von Dingen, die wichtig wären, ich lasse das alles auf sich beruhen.

Stattdessen möchte ich noch eines sagen: Die Deutsche Demokratische Republik verhält sich in dieser Frage merkwürdig, sagen wir mal unklug, sie nimmt ihre eigenen Interessen nicht wahr, weil sie ja in der Jean Paul-Frage es gar nicht nötig hat, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen. Da sei nur eines erwähnt: 1925, zu Jean Pauls 100. Todestag, wurde in der Preußischen Akademie der Wissenschaften diese große Historisch-kritische Gesamtausgabe beschlossen, und dem großen Jean Paul-Forscher Eduard Behrend anvertraut, sie ist dann von 1927 an erschienen, im Verlag Böhlaus Nachfolger in Weimar. Eduard Behrend war Jude, er musste Anfang der Nazizeit ins Exil ausweichen, in die Schweiz. Die Ausgabe wurde in der Nazizeit weitergeführt, aber es floss nun in die Einleitungen, floss nun manchmal auch nazistisches Gedankengut ein, und zwar am stärksten ausgerechnet in dem Band mit den politischen Schriften. Nach 1945 kam Eduard Behrend aus der Schweiz besuchsweise nach Berlin, er ist ja in der Schweiz geblieben, aber hat sich damals an die damalige Deutsche Akademie der Wissenschaften gewandt, wegen des Zuendeführens der Jean Paul-Ausgabe, und es ist der Ruhm der DDR, dass sie ihm dies ermöglicht hat, unter der Ägide der DDR ist von Eduard Behrend bis 1963, bis zum 200. Geburtstag Jean Pauls, diese Ausgabe teils bei Böhlau, teils im Akademie-Verlag (nicht wahr, einige Briefbände im Akademie-Verlag) ja nicht ganz zu Ende geführt worden, es liegen noch riesige Schätze von Aphorismen in der Deutschen Staatsbibliothek Unter den Linden, wo sich der ganze Jean Paul-Nachlass befindet. Jedenfalls hat die DDR dafür gesorgt, dass es mit der Historisch-kritischen Gesamtausgabe Jean Pauls weiterging, dass sie nahezu fertig vorliegt. Das ist eins, warum versäumt nun aber unser Staat diese seine Errungenschaft, seine kulturpolitische Leistung ins rechte Licht zu setzen?

Die andere Frage ist die, dass hier auch einiges die DDR-Kultur vorzuweisen hat, was die Beleuchtung Jean Pauls aus marxistischer Sicht betrifft, da möchte ich meine eigenen Bemühungen, die drei Dinge, die ich veröffentlicht habe, vor allen Dingen mein Werk Jean Pauls Revolutionsdichtung nennen.

Da wird zum ersten Mal vom Standpunkt des Marxismus-Leninismus aus ein Jean Paul-Bild gezeichnet, mit den Methoden von Franz Mehring und Georg Lukács, die an dem Jean Paul ganz neue Dimensionen sichtbar machen helfen, wo aber auch das marxistische Bild der Goethezeit, wie es Mehring und Lukács geschaffen haben, dort ergänzt wird, wo es bis dahin seine empfindlichste Lücke aufwies. Auch das ist doch eine kulturelle Leistung, die man nicht unter den Scheffel zu stellen braucht. Das hat nun in meinem Fall Gründe, die mit meiner politischen Vergangenheit zusammenhängen, aber ich meine, es wäre nun auch mal Zeit, darunter einen Schlussstrich zu ziehen, und vor allen Dingen darf die Ausgrenzung meiner Person aus dem Kulturleben der DDR nicht dazu führen, dass in einem so wichtigen Traditionszusammenhang wie dem hier zur Debatte stehenden die DDR sich selber schadet, die DDR sich eine Möglichkeit nimmt, als führend in der progressiven Erbepflege ihr Profil zu zeigen und ihre Option deutlich zu machen. Also, darin sehe ich einen Fehler, das erfüllt mich am heutigen Tage, wenn ich so in die Zeitungen sehe, auch mit einer großen Depression.

Was könnte man tun, um dem abzuhelfen? Ja, das hätte im Verlauf der letzten vier Jahre geklärt werden können, ich habe im Januar 1984 den stellvertretenden Kulturminister Klaus Höpcke darauf hingewiesen, ich habe 1986 den Direktor des Zentralinstituts für Literaturgeschichte der DDR, Prof. Naumann, darauf hingewiesen, ich habe in diesem Zusammenhang meine Vorschläge unterbreitet, es kommt jetzt sehr zögernd, sehr spät bei Gelegenheit einer Routinetagung von Literaturwissenschaftlern in Weimar, ausgerichtet von den NFG, kommt da vielleicht der erste Anfang einer Besinnung in Gang, ich weiß es nicht, wie weit das führen wird, ich weiß es nicht, wie weit das weiter versickern wird, ich lasse das jetzt einmal dahingestellt. Ich glaube nur, die Mängel werden sichtbar, wenn man zweierlei bedenkt.

Auf der einen Seite herrscht über Jean Paul großes Schweigen, während gleichzeitig Diskussionen darüber in Gang sind, ob nicht das zutiefst antihumanistische, reaktionäre Erbe Nietzsches, des wichtigsten Vorläufers des italienischen und deutschen Faschismus, in die Erbepflege der DDR mit einbezogen wird. Also, da hört ja nun alles auf! Alles spricht über Nietzsche, und hin und her über Nietzsche, aber Jean Paul wird darüber vergessen, das geht nicht!

Zweitens, es ist ein groteskes Missverständnis, dass der Plan bestand, von Berlin aus, vom Aufbau-Verlag aus, eine Jean Paul-Ehrung durchzuführen in diesem Jahr in Wiepersdorf, dem Sitz der Arnims, Achim von Arnim, Bettina von Arnim, und zusammen mit der Ehrung Eichendorffs anlässlich seines 200. Geburtstages, und Chamissos, anlässlich seines 150. Todestages. Da muss ich doch nun mal sagen, einmal, Jean Paul gehört nicht zu dieser Richtung. Der Taugenichts von Eichendorff ist zwar ein fader zweiter Aufguss der Wanderung von Walt in den Flegeljahren, gut, nicht, also hat Eichendorff auch ein bisschen was von Jean Paul gelernt, der war ja doch aber gegen Jean Paul ein Zwerg, ebenso war Chamisso, bei allem Respekt, verglichen mit Jean Paul, ein Zwerg, das ist so als wenn man eine gemeinsame Verehrungsveranstaltung, Gedenkveranstaltung machen würde für Thomas Mann und seine Zeitgenossen Ernst Toller und Kurt Schwitters, nicht wahr, das wäre ja völlig unsinnig! Zum anderen gehört Jean Paul nicht in die Tradition der Romantik. Er hat gegen die Romantik von deren Anfängen an, gegen die Brüder Schlegel gekämpft! Er hielt das für eine falsche Richtung, das geht aus seiner Vorschule der Ästhetik ganz klar hervor, es zieht sich der Kampf gegen die Romantik durch sein ganzes Leben, der Kampf gegen die Romantische Schule zieht sich durch sein ganzes Werk, es ist geradezu ein Hohn, den Jean Paul zusammen mit Vertretern der Romantik zu ehren. Also, da herrscht eine völlige Verwirrung, da fehlen alle Maßstäbe, und dieser schwere, schwere Fehler, dieser Missgriff müsste zum Ausgangspunkt einer kulturpolitischen Neubesinnung über das Erbe gemacht werden, wo Dinge, die bei uns einfach nicht in Ordnung sind, wieder ins rechte Lot gebracht werden müssen.

Ich will, wenn ich gefordert bin, da gerne mitwirken, vorausgesetzt, ich glaube daran, dass das eine Durchsetzungschance hat, aber ich muss sagen, dass mich die letzten vier Jahre ungeheuer zermürbt haben, einerseits der Kampf für die Anerkennung von Lukács, der Kampf gegen die Nietzsche-Renaissance, andererseits die bis jetzt, bis zum heutigen Tag doch vergeblichen Bemühungen, dem Jean Paul ein würdiges Gedenken zu bereiten, das hat mich kaputtgemacht, meinen Gesundheitszustand, meine Leistungsfähigkeit herabgemindert, mich psychisch emotional ganz stark belastet, und wer weiß, wenn sich dort die Dinge ändern, wenn dort eine Richtungsänderung eintritt, ob es dann für mich nicht zu spät sein wird, da noch mitzuwirken, ob ich dafür die nötigen Kräfte noch aufbringen werde, zumal ich ja auf diesem Gebiet nicht meine Hauptaufgabe sehe. Ich habe mich in die Jean Paul-Forschung gestürzt, weil mir nach meinen – zu Recht verurteilten – Staatsverbrechen das Wirken auf dem Gebiet der Philosophie versagt war nach meiner Haftentlassung 1964, es ist aber nicht mein eigentliches Gebiet und ich will jetzt im Alter doch noch meine letzten Kräfte darein investieren, die Würdigung, die richtige Bewertung des Vermächtnisses von Nicolai Hartmann, der ganz abstrakten Philosophie voranzutreiben, und da auch Klarheit darüber zu schaffen, wie die Hartmann-Rezeption des ganz späten Lukács zu bewerten ist, also dem gehört meine hauptsächliche Kraft, und da bleibt für anderes nicht viel übrig, ich bedauere es, auch wenn jetzt eine Wende eintritt, ich fürchte, ich fürchte angesichts meines Gesundheitszustandes, meines Alters und meiner Absorbierung durch das Thema Nicolai Hartmann, es ist vielleicht schon zu spät.

Was könnte gemacht werden, ich mache ein paar Vorschläge:

1) Eine neue Jean Paul-Ausgabe, eine Berliner Ausgabe der Werke Jean Pauls, analog zu den Berliner Ausgaben der Werke Goethes und Schillers im Aufbau-Verlag. Diese Ausgabe müsste drei Fehler der Historisch-kritischen Gesamtausgabe wettmachen. Die Historisch-kritische Gesamtausgabe enthält nur die Ausgaben letzter Hand von Jean Paul, und die nicht veröffentlichten Werke in der zweiten Abteilung, aber in der ersten Abteilung nur jeweils die Ausgaben letzter Hand, und es ist für die Forschung unerhört wichtig, dass man verschiedene Werke, wie den Hesperus, wie die Vorschule der Ästhetik, in ihren verschiedenen Fassungen hat.

2) Die Historisch-kritische Gesamtausgabe ist in den Einleitungen und Anmerkungsapparaten zu den Bänden, die in den Jahren der Nazizeit nicht von Eduard Behrend betreut wurden, sondern von anderen, besonders bei dem Band der politischen Schriften, nicht frei von nazistischem Gedankengut.

3) Die Historisch-kritische Gesamtausgabe lässt einen großen Teil der Aphorismen, der überreichen Aphorismen Jean Pauls, die noch bei uns in der Staatsbibliothek lagern, lässt sie aus, sie trifft dann nur eine Auswahl. Die Berliner Ausgabe müsste von diesen drei Fehlern frei sein, sie dürfte auf der anderen Seite auch nicht historisch-kritisch sein in dem Sinne, dass sie die Texte so bringt, wie sie gedruckt worden sind, sie müsste modernisierte Rechtschreibung und Zeichensetzung haben, um den Jean Paul verständlich zu machen, der ja unverständlich ist durch die Orthographie und Zeichensetzung seinerzeit, durch manche orthographische Privatmarotte, die er ja sich in seiner Schrulligkeit zeitweise zugelegt hat.

4) Also, das ist eine Sache. Dann müsste man Jean Paul in die gesamte Bildung einbeziehen, angefangen von den Lehrplänen, im Deutschunterricht müsste über ihn gesprochen werden, es müssten die Kinder und Jugendlichen bereits an ihn herangeführt werden, er müsste in den Lehrplänen der Universitäten, in den Forschungsplänen des Zentralinstituts für Literaturgeschichte größeren Raum einnehmen.

5) Es müsste über das marxistisch-leninistische Jean Paul-Bild ein Meinungsstreit im größeren Rahmen stattfinden, vielleicht eine Jean Paul-Gesellschaft der DDR gegründet werden, die mit der Jean Paul-Gesellschaft in Bayreuth kooperiert. Es müssten die Jean Paul-Gedenkstätten, die es auf dem Boden der DDR gibt, zumal in Meiningen, ausgestaltet werden, man müsste Straßen nach ihm nennen. Es gibt zum Beispiel in Berlin, hier in Berlin, in der Stadt, in der Jean Paul seinen größten gesellschaftlichen Triumph feierte, da gibt es eine Schillerpromenade, drei Schillerstraßen, vier Goethestraßen, je eine Novalis-Schlegel-Tieck-Straße, eine Heinrich-Heine-Straße, einen Heinrich-Heine-Platz, eine Eichendorffstraße, eine Klopstockstraße, drei Lessingstraßen, eine Mörickestraße, eine Wielandstraße, eine Herderstraße, zwei Hoffmannstraßen – es gibt keine Jean Paul-Straße.

Berlin, 23. März 1988

Diese Darlegungen von mir blieben ohne jede Wirkung. (Handschriftlicher Zusatz Harichs)

Andreas Heyer

Nachbemerkung

Als Wolfgang Harich in den frühen achtziger Jahren nach seinem Aufenthalt in Österreich, Spanien und der Bundesrepublik in die DDR zurückkehrte, hatte er vor allem ein Ziel vor Augen: Nach seinem fast ein Jahrzehnt umfassenden Einsatz für die Ökologie und die Friedensbewegung wollte er nun endlich die schon lange geplante Studie zur Philosophie Nicolai Hartmanns neu beginnen.

Bei Hartmann (und bei Eduard Spranger) hatte er während des Zweiten Weltkrieges an der Berliner Universität einige Seminare besucht. Nach dem Kriegsende riss der Kontakt zwischen beiden nicht ab, sondern blieb bis zu Hartmanns Tod am 9. Oktober 1950 bestehen. Harichs Position zu Hartmann war zwiespältig. Einerseits warf er diesem direkt und indirekt vor, die SBZ als bürgerlicher Intellektueller zu schnell verlassen zu haben. Eine Haltung, die Harich darauf zurückführte, dass sich Hartmann immer der marxistischen Philosophie verweigert habe. Dies sei deswegen überaus bedauernswert gewesen, da andererseits gerade die Philosophie Hartmanns (Naturphilosophie, Ontologie) zum Marxismus in seiner modernen Gestalt überaus kompatibel wäre. Harich hat Hartmann immer hoch geschätzt. In den fünfziger Jahren brachte er dessen Theorien Georg Lukács näher, dessen Spätwerk überaus deutlich im Zeichen von Hartmann steht.

Der Ansatz von Harich und Lukács war: Solange der Marxismus über keine eigene, originär marxistische Ästhetik, Ethik, Ontologie, Erkenntnistheorie usw. verfüge, sei er auf die bürgerlichen Denker und deren Schriften angewiesen, die, wenn sie nicht faschistisch oder antikommunistisch oder im direkten Klassenauftrag der Bourgeoisie Ideologieproduktion betreiben würden, mit einzelnen Facetten ihres Schaffens in den Marxismus integriert werden könnten. Letztlich auch gegen die eigentliche Intention dieser Theoretiker, etwa dann, wenn, wie bei Hartmann, die Grundlage ihrer Philosophie materialistisch wäre.

Seit 2013 erscheinen die Nachgelassenen Schriften Wolfgang Harichs in einer groß angelegten Edition.[1] Der gerade publizierte zweite Band (Logik, Dialektik und Erkenntnistheorie) ist den erkenntnistheoretischen Studien Harichs gewidmet und erbringt den Nachweis, dass Harich schon in den frühen vierziger Jahren mit Hartmanns Methoden und über dessen Theorien arbeitete. Zeit seines Lebens kam er immer wieder auf diese Ansätze zurück und versuchte die ausführliche Generierung einer marxistischen Erkenntnistheorie. Aber Harich unterbrach seine Arbeiten an den Hartmann-Manuskripten auch immer wieder, um zu anderen Themen und Thesen Stellung zu beziehen.

Am 21. März 1988 jährte sich der Geburtstag von Jean Paul zum 225. Mal. Dieses Jubiläum vor Augen hatte Harich in den achtziger Jahren mehrere Versuche unternommen, Jean Paul in irgendeiner Art und Weise in die Erbepflege der DDR einzubeziehen. Neben persönlichen Gesprächen setzte er dabei auch auf Briefe und Eingaben an die herrschenden Personen. Alle diese Unterfangen scheiterten, so dass der Geburtstag in der offiziellen Politik der DDR außen vor blieb und nicht gewürdigt wurde. Als Harich am 21. März sah, dass seine Bemühungen bei Seite geschoben worden waren, besprach er ein Tonband, dass er dem Akademie-Verlag sendete. Eine Verschriftlichung des Textes nahm er ebenfalls vor und bewahrte sie in seinen Papieren auf. Dieses Manuskript kommt hier unter dem Titel Über Jean Paul zum Abdruck.

Harich verfasste in den Monaten rund um das Jubiläum weitere Texte zu Jean Paul, die allesamt ungedruckt blieben – die DDR war schlichtweg nicht bereit, Harich in dieser Angelegenheit zu Wort kommen zu lassen. Das ist insofern durchaus ein Stück weit überraschend, als Harichs Arbeiten zu Jean Paul bis in die siebziger Jahre hinein in der DDR – wenn auch immer mit Zensur bedacht und, soweit möglich, von der Öffentlichkeit entfernt – erscheinen konnten. Doch die Stimmungslage hatte sich verändert.

Denn was für die Hartmann-Manuskripte galt, das traf auch auf Jean Paul zu: Die Beschäftigung mit ihm war eine, die ganz bestimmte Kontexte zumindest implizit mitdachte. Natürlich ist dabei zuvorderst Georg Lukács zu nennen, auf den Harich in seinem Text auch explizit verwies. Hinzu treten methodische, thematische und inhaltliche Setzungen, die dem ungarischen Philosophen geschuldet sind bzw. auf diesen verweisen. Es überrascht nicht, dass Harich in den siebziger und vor allem in den achtziger Jahren eben auch intensiv für Lukács kämpfte, sich für dessen Rehabilitierung in der DDR einsetzte. Der Aufsatz Mehr Respekt vor Lukács ist das augenfälligste Dokument dieses Kampfes – gerade auch in seiner abenteuerlichen Publikationsgeschichte: Ein Abdruck in einer der Zeitschriften der DDR scheiterte nach mehrjährigen Streitereien und zahlreichen Überarbeitungen des Textes.[2]

Die wahrscheinlich zentralste Debatte, in der sich Harich in den achtziger Jahren bewegte bzw. die er maßgeblich auslöste, war der Streit um Friedrich Nietzsche. In der DDR, auch dies klingt im folgenden Aufsatz an, hatte im letzten Jahrzehnt ihrer Existenz ein deutliches Umdenken in der Erbepolitik und Traditionspflege eingesetzt. Friedrich II. kehrte als Denkmal Unter die Linden zurück, Bismarck und Friedrich II. wurden in bahnbrechenden wissenschaftlichen Untersuchungen thematisiert, den Jugendlichen (und Erwachsenen) gestand man die Lektüre Karl Mays in neuen Editionen zu. Diese Hinwendung zu Preußen überrascht einerseits, war andererseits aber durchaus in der DDR-Geschichte schon immer angelegt.

Im Zuge dieser Entdeckung Preußens trat nun auch Friedrich Nietzsche auf den Plan. Die DDR ermöglichte westeuropäischen Forschern Zugang zu den Archiven, lockerte ihre Editionsprinzipien, kurzum: Nietzsche blieb zwar verpönt, wurde aber in Intellektuellenkreisen durchaus salonfähig. Heinz Pepperle unternahm dann in der Zeitschrift „Sinn und Form“ den Versuch einer Auseinandersetzung mit Nietzsche, die Harich zu seinem polemischen Gegenschlag herausforderte.[3] Für die kulturellen Eliten der DDR war Harich damit erledigt und es war dies bestimmt ein Stück weit der Plan der Herrschenden in der SED gewesen, als sie Harich die Publikation eben jenes Aufsatzes erlaubt hatten. Allerdings sah Harich in der Debatte etwas, was den meisten verborgen blieb:

Er stellte zwischen den gerade kurz angetippten unterschiedlichen Themen eine Verbindung her. Nietzsche werde veröffentlicht und Lukács, dessen Zerstörung der Vernunft ihren Höhepunkt in einer umfassenden Nietzsche-Kritik hat, bleibe unterdrückt. Jean Paul werde dem Vergessen anheimgegeben und im Theater zeige man keine Stücke oder Dramen mehr, sondern vermeintliche Autoren hätten nur noch das inhaltsleere und inhaltslose Ziel der Zertrümmerung der Form. Die Kulturpolitik der DDR stand für Harich auf dem Kopf. Und zusätzlich ging es noch um etwas anderes: Für die SED war es fast schon ein Freibrief, was da – unter dem Applaus einer merkwürdigen Koalition von Stephan Hermlin über Manfred Buhr bis zu Hermann Kant – geschah, denn sie konnte nun sagen: Seht her, bei uns kann man völlig vorurteilslos über Friedrich II. und Bismarck forschen, wir drucken Bücher von Friedrich Nietzsche und Karl May. Ein wahrhaft freies Land, ohne jede Unterdrückung. Harich hat genau dies gesehen, seine Kritiker gingen der gerade gezeichneten Illusion auf den Leim.

Die hier beschriebene Epoche fand ihren Abschluss mit dem Ende, mit dem Untergang der DDR. Harichs wichtigstes politisches Anliegen, die deutsche Einheit, ging in Erfüllung, wenn auch anders, als er sich dies erhofft hatte. Seinen philosophischen Themen blieb Harich bis zu seinem Tod treu, auch wenn die neuen Zeiten so manche Herausforderung für ihn bereit hielten und die nächsten Frontstellungen schon vorbereiteten.

1 Am 15. März 2015 jährt sich zum zwanzigsten Mal der Todestag von Wolfgang Harich. Wir veröffentlichen aus seinem Nachlass einen bisher unveröffentlichten Beitrag über Jean Paul aus dem Jahre 1988. Für die Erlaubnis des Abdrucks danken wir dem Herausgeber des Harich-Nachlasses, Andreas Heyer, der auch ein Nachwort zu diesem Text verfasst hat.

[1] Bisher publiziert wurden die Bände Logik, Dialektik und Erkenntnistheorie (Bd. 2, 2014), Widerspruch und Widerstreit. Studien zu Kant (Bd. 3, 2014), Herder und das Ende der Aufklärung (Bd. 4, 2014), An der ideologischen Front. Hegel zwischen Feuerbach und Marx (Bd. 5, 2013), Schriften zur Anarchie (Bd. 7, 2014). Herausgeber ist Andreas Heyer, Erscheinungsort der Tectum-Verlag, Marburg.

[2] Neu abgedruckt im Anhang von: Andreas Heyer, Harich sprach über Lukács, Berlin 2014, S. 61-66.

[3] Heinz Pepperle, Revision des Marxistischen Nietzsche-Bildes?, in: Sinn und Form, Heft 5, S. 1986, S. 934-969. Wolfgang Harich, Revision des marxistischen Nietzschebildes?, in: Sinn und Form, Heft 5, 1987, S. 1018-1053. Stimmen der Positionierung gegen Harich dann in: Sinn und Form, Heft 1, 1988.

Downloads