Berichte

Zur Lage des Marxismus

Berlin, 13. bis 15. Dezember 2013

von Gerd Wiegel
März 2014

Tagung der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung, der
Rosa-Luxemburg-Stiftung und des Arbeitskreises kritischer Juristinnen
und Juristen an der HU, 13. bis 15. Dezember 2013, Berlin
Die Lage ist besser als gedacht, wenn auch nicht wirklich gut, so könnte ein
verkürztes Fazit der hauptsächlich von der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung
(AkG) geplanten Tagung in Berlin aussehen, zu der sich in
Spitzenzeiten bis zu 150 Interessierte im Audimax der HU in Berlin trafen.
Aus einer kleinen Fachtagung war nach Aussagen der Veranstalter aufgrund
des großen Interesses eine mittelgroße Tagung geworden, die aber, so die
mehrfach wiederholte Versicherung der Veranstalter, keinen Anspruch auf eine
irgendwie geartete Abbildung des marxistischen Spektrums in der Bundesrepublik
erheben wolle, sondern der konkreten Fragestellung eines spezifischen
Arbeitszusammenhangs entsprungen sei.
Thema der insgesamt sechs Panels war weniger die Frage nach der inhaltlichen
Ausgestaltung marxistischer Theoriebildung heute oder im Angesicht
der Krise, sondern die Lage marxistischer Wissenschaft und Forschung an und
außerhalb der Universitäten – gegenwärtig und kontrastierend in der Vergangenheit.
Und diese Lage, so Alex Demirovic in seinem Einleitungsbeitrag, sei
deutlich besser als vor zehn Jahren, sei es in diesem Zeitraum doch zu einer
Verfestigung kritischer Gesellschaftstheorie an zahlreichen Hochschulen gekommen.
Jena, Kassel, Wien, Darmstadt – immer wieder wurden in den Beiträgen
der Tagung diese und weitere Orte genannt, an denen sich kritische, an
marxistischer Theoriebildung orientierte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen
etablieren konnten.
Auch Elmar Altvater kam in seinem Referat zu der nur leicht ironischen Einschätzung,
die Lage des Marxismus sei selten so gut gewesen wie heute. Vor
dem Hintergrund der aktuellen Desavouierung bürgerlicher Wirtschaftstheorie
und des selbst vom Papst attestierten inhumanen Charakters des Kapitalismus
sei ein positiver Bezug auf Marx geradezu Allgemeingut geworden. Zentral
für marxistische Theorie heute sei die intensive, analytische Auseinandersetzung
mit dem Gegenstand der Kritik, dem gegenwärtigen Kapitalismus, wobei
es einer marxistischen Krisenanalyse im doppelten Sinne bedürfe: Untersucht
werden müssten sowohl die reversiblen Krisen, die Altvater in den sinkenden
Profitraten sah, aber auch die irreversiblen Krisen, die mit dem fortschreitenden
Ressourcenverbrauch des kapitalistischen Entwicklungsmodells einhergehen.
Die zyklischen Krisen seien nicht als Vorboten des Zusammenbruchs des
Kapitalismus zu verstehen, denn dieser habe Krisen immer als Jungbrunnen
zur Erschließung neuer Akkumulationsquellen genutzt. Anders sei dies bei der
Krise im Naturverhältnis, auf die marxistische Theorie eine Antwort finden
müsse. Marx sei keineswegs der Fetischist der Produktionskräfte gewesen als
der er häufig dargestellt werde. Die von Altvater angebotenen Alternativen
blieben mit dem Stichwort „Genossenschaften“ jedoch weitgehend nebulös.
Den „kurzen Sommer des akademischen Marxismus“ nahmen die Teilnehmer
des ersten Panels am Samstag in den Blick. Frank Deppe skizzierte in seinem
Beitrag den politischen Hintergrund dieser Periode. Während es nach 1945 zu
einer starken Ausdifferenzierung des Marxismus nach Wissenschaftsdisziplinen
gekommen sei, verbunden mit dem Bestreben, Distanz zum Parteimarxismus
zu bekommen, sei diese Gegenüberstellung von Wissenschaft und
Praxis heute weniger stark als in den 70er Jahren. Die Ausdifferenzierung
werde anerkannt, Schwierigkeiten bereite vielmehr die Zusammenführung der
unterschiedlichen Ausprägungen. Die Bedeutung der gewachsenen „StützBerichtepunkte“ marxistischer Wissenschaft wurde auch von Deppe mit Blick auf
Tradierung und Nachwuchsförderung betont. Gleichzeitig kam jedoch die völlig
veränderte universitäre Realität nach der Bologna-Reform zur Sprache, die
eine systematische Aneignung komplexer Theorie enorm erschwert.
Die Entwicklung des Verhältnisses von Feminismus und akademischem Marxismus
wurde von Birgit Sauer in den Blick genommen. Eine Frage für feministische
Wissenschaftlerinnen mit marxistischem Hintergrund sei immer die
nach der kategorialen Verbindung von Klasse und Geschlecht, und die Hausarbeitsdebatte
der 70er Jahre sei ein Beispiel für die Abarbeitung feministischer
Wissenschaft am Marxismus gewesen. Der Bezug auf „Geschlecht“ als
zentrale Kategorie sei auch eine Reaktion auf die Theorie vom „Nebenwiderspruch“
gewesen, zumal die marxistische Theorie für zahlreiche gegenwärtige
Fragestellungen kein begriffliches Material biete. Auch für die feministische
Theorie sei der Weg der universitären Institutionalisierung bei allen Schwierigkeiten
richtig gewesen; die „Wahlverwandtschaft“ von Feminismus und
Marxismus hätte – trotz mancher Widerstände auch von links – überdauert.
Katharina Hajek ergänzte im Anschluss einige Konjunkturen der Verbindung
von Feminismus und Materialismus, die sie in Debatten zur feministischen
Staatstheorie, Intersexualität, Kritik der politischen Ökonomie und geschlechtlicher
Arbeitsteilung sah.
Einen eher konträren Akzent setzte Michael Heinrich, der die vermeintliche
Blütezeit des akademischen Marxismus in Teilen als Scheinblüte und Modeerscheinung
bewertete. Marxismus, dessen Differenzierung Heinrich hervorhob,
sei häufig eben nicht nur Herrschaftskritik, sondern auch Herrschaftsmittel
gewesen. Der angefügte „Ismus“ zur Marxschen Theorie habe zu den bekannten
Abgrenzungsritualen geführt. Auch von Heinrich wurde die Problematik
der Institutionalisierung angesichts der heutigen universitären Realitäten
betont. Hier komme es zu Formen der Selbstzensur, und auch die Vermittlungsfähigkeit
des heutigen akademischen Marxismus sei in Frage zu stellen.
Der Praxisbezug marxistischer Theorie wurde von Christoph Lieber als zentraler
Punkt herausgestellt. Der Marxsche Theorietyp stehe im Spannungsverhältnis
zum Überbau, weshalb eine Reflexion der Bedingungen der eigenen
Tätigkeit für marxistische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen von Bedeutung
sei. Schließlich dürfe die die politische Ökonomie als zentrales Element
des Marxismus nicht preisgegeben werden.
„Institutionalisierungen, Tradierungen, Abbrüche“ standen im Mittelpunkt des
zweiten Panels. Thomas Sablowski kam hier auf die problematischen Bedingungen
heutiger Wissensvermittlung an den Hochschulen zurück. Eine systematische
Grundausbildung in marxistischer Theorie gebe es heute auch nicht
an den erwähnten Stützpunkten. Dem widersprach mit einer sehr viel optimistischeren
Bewertung Klaus Dörre, der eine Rückkehr radikaler Kapitalismuskritik
in zentrale öffentliche Debatten sah. Selbst in nichtmarxistischen Schriften
fänden sich heute marxistische Denkfiguren und der Mainstream sei bei
der „Wahrheitssuche“ ins Hintertreffen geraten.

Häufig war von den unterschiedlichen Herausforderungen für eine erneuerte
marxistische Theorie die Rede, weshalb Silvia Kontos kritisierte, dass die
„feministische Herausforderung“ leider immer nur als solche benannt werde,
ohne jedoch tatsächlich von marxistischen Theoretikern bearbeitet worden zu
sein. Anhand der Rekapitulation der Hausarbeitsdebatte verdeutlichte Kontos
die damaligen Kritikpunkte am Marxismus und deutete sie als Versuch einer
systematischen Verknüpfung mit der Theorie der materiellen Reproduktion,
also einem zentralen Feld marxistischer Theorie. Einen Blick auf den östlichen
Marxismus warf abschließend Lutz Brangsch. So sei das marxistische
Denken im Osten nach dem Zusammenbruch 1989/92 nicht abgebrochen,
konnte aber für die politischen Auseinandersetzungen nicht aktiviert werden.
Die Nutzung des Marxismus als Legitimationsideologie sei nicht nur ein östliches
Phänomen gewesene, sondern auch den westlichen Marxismen zu Eigen.
Gemeinsam sei diesen jedoch der fehlende Bezug auf den DDR-Marxismus.
Peter D. Thomas und Ingar Solty stellen zum Abschluss des Tages Fragen
nach der Erneuerung des Marxismus. Für Thomas muss jede Form der Erneuerung
die Spannung zur historischen Form halten; Solty nannte unterschiedlichste
kollektive Forschungszusammenhänge, in denen an solchen Formen
der Erneuerung oder auch, wie Thomas es verstanden wissen wollte, der Rekonstruktion
gearbeitet werde. So der MEGA-Zusammenhang, die Arbeit am
HKMW, die Jenaer-Schule, die neogramscianischen Ansätze oder auch die
RLS.
Am Sonntag folgten zwei weitere Panels, bei denen ausschließlich Vertreter
und Vertreterinnen der jüngeren Generationen zum Zuge kamen. Unter dem
Titel „Kritische Wissenschaft als generationenübergreifendes Projekt“ stellten
Katharina Pühl, Nikita Dhawan, María do Mar Castro Varela, Ingo Stützle
und Benjamin Opratko auf sehr persönliche Weise dar, wie und unter welchen
Umständen sie politisiert wurden und an welchen TheoretikerInnen sie sich
orientieren. Im Anschluss wurde u.a. debattiert, ob und inwiefern Universitäten
überhaupt einen geeigneten Ort für kritische Forschung sein können und
welche gesellschaftliche Rolle ihnen dabei zukommt.
Mit dem Panel „Anschlüsse an Marx“ mit Sonja Buckel, Pia Garske und Oliver
Nachtwey wurde die Tagung beendet. Neben wiederum sehr persönlichen
Schilderungen über die Sozialisation im akademischen Raum wurde insbesondere
darüber diskutiert, welche Methoden und Inhalte aktuell zu marxistisch
orientierter Forschung gehören (müssen). So ist bspw. der Status des
postmarxistischen Ansatzes von Laclau und Mouffe äußerst umstritten und
auch feministische Forschungserkenntnisse sind längst nicht breit akzeptiert
bzw. in marxistische Ansätze eingebunden. Dies warf auch die Frage von theoretischer
Kompatibilität auf.

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