Klassenanalyse und Intelligenz heute

Langfristige Trends der Sozialstrukturentwicklung als Hintergrund der Intelligenzanalyse

von Dieter Boris
Dezember 2013

Im Folgenden will ich erstens die m.E. wichtigsten Trends der Sozialstrukturentwicklung in der BRD (aber ähnlich auch in anderen entwickelten kapitalistischen Ländern) benennen, zweitens diese etwas konkretisieren und kommentieren und drittens Fragen stellen und Hypothesen darüber formulieren, welche Bedeutung diese für eine aktuelle Intelligenzanalyse haben bzw. haben könnten.

1. Mega-Trends der Sozialstrukturentwicklung

Die Mega-Trends der Sozialstrukturentwicklung der letzten 40 Jahre sind m.E. folgende:

das weitere schnelle Wachsen des Dienstleistungssektors in verschiedenen Bereichen (Tertiärisierung);

die durchschnittliche Erhöhung des Bildungs- und Qualifikationsniveaus;

die weitere Ausdehnung der weiblichen Erwerbsarbeit („Feminisierung der Erwerbsarbeit“);

die zunehmende Intra-Lohnabhängigen-Polarisierung (bezüglich Einkommen, Arbeitsbedingungen etc., „Lohnspreizung“);

deutliches Einsetzen und Verstärkung der Prekarisierungstendenzen in der Arbeitswelt (Mini-Jobs, Leiharbeit, befristete Arbeitsverhältnisse, Teilzeitarbeit, Werkverträge etc.);

wachsende Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen;
und schließlich

die Fortsetzung der Globalisierung.

Diese Tendenzen sind zum einen untereinander verbunden bzw. stehen in einem wechselseitigen oder einseitigen Bedingungsverhältnis: Z.B. die Ausweitung der Bildung einerseits und die Erhöhung der weiblichen Erwerbsarbeit andererseits; oder die Intra-Arbeitnehmer-Polarisierung und die zunehmende Prekarisierung. Zum anderen sind sie natürlich intern oder in ihrer Binnenstruktur differenziert (z.B. die Ausweitung des Dienstleistungssektors in seinen sehr unterschiedlichen Subsektoren, etwa Wissenschaft, Gastronomie oder Transportdienstleistungen).

Die Ausprägung dieser Mega-Trends wird durch das jeweilige Akkumulationsregime (und seine einzelnen Elemente) sowie durch die jeweilige Regulationsweise bestimmt. „Selbst in Ländern mit gleichem ökonomischem Entwicklungsstand können die Proportionen zwischen den Berufsgruppen und die Anteile der Geschlechts-, Alters- und Ethnogruppen in ihnen bis zu einem gewissen Grade verschieden sein. Dies hängt davon ab, welchem Pfad der Regulierung die Politik eines Landes folgt.“ (Vester 2011: 630)

2. Die Trends im Einzelnen:

Der Dienstleistungssektor

Dieser Sektor hat seine Anteile an den Erwerbstätigen von 1970 bis 2006 von 45 Prozent auf 72 Prozent erhöht (von 1950 bis 1970 von 32,5 auf 45 Prozent). Es scheint seit den siebziger Jahren eine leichte Beschleunigung im Wachstum des tertiären Sektors eingetreten zu sein. (Datenreport 2008: 115) 2010 lag die Quote bei 73,5 Prozent (Datenreport 2011: 103). Gleichzeitig hat der sekundäre Sektor von 46,5 auf 25,5 Prozent abgenommen (2010: 24,4 Prozent), ebenso der primäre Sektor (2010: 2,1 Prozent). Innerhalb des Dienstleistungssektors ist der Subsektor der Verwaltung rückläufig, der Subsektor der Humandienstleistungen relativ stark expansiv (er hat von 1990 bis 2007 um 4,3 Prozent zugenommen). Ebenso konnten die Banken, der Finanzdienstleistungssektor insgesamt, die Versicherungen etc. ihre Anteile erhöhen.

Dennoch erscheint die Zahl von 72 Prozent Dienstleistungsbeschäftigten für 2006 aus mehreren Gründen als aufgebläht, weswegen der Eindruck von einer „Dienstleistungsgesellschaft“ oder einer „Wissensgesellschaft“ fragwürdig und sehr zu relativieren ist.

Durch die Umstellung der statistischen Systematik hat sich die Herausrechnung der direkt und indirekt auf die materielle Produktion bezogenen Dienstleistungen zusätzlich erschwert. Nach der neuen Gliederung, bei der Transport, Verkehr, Nachrichtenübermittlung, Güterverteilung, Handel herausgenommen sind, ebenso die materielle Infrastruktur, sind nun im Dienstleistungssektor vor allem Kultur, Sport, Unterhaltung, persönliche Dienste/Kapital- und Eigentumsdienste/Interessenvertretungen, kirchliche Vereinigungen sowie Erziehung, Unterricht, Gesundheit, Sozialwesen und Staat subsumiert. Unter dieser neuen Nomenklatur stellt sich die „Diensthaltigkeit“ der BRD wesentlich geringer dar und wird für 2004 mit 40 Prozent angegeben (Miehe 2011: 121).

Hierbei haben die größten Anteile die Bereiche „Kultur usw.“ und „Dienste der gesellschaftliche Reproduktion, Erziehung usw.“ (s.o.) mit 11 bzw. 23 Prozent für 2004. In diesen Subsektoren wurden ebenso die größten Zuwachsraten von 1991 bis 2004 registriert (siehe Tab. 3.3.1.2 bei Miehe 2011, S. 121). „Für die Steigerung der Beschäftigten in den Dienstleistungsbereichen ist vor allem die Vergrößerung der drei Zweige Erziehung/Unterricht, Soziales und Gesundheit verantwortlich, also vor allem politisch eingerichtete gesellschaftliche Dienste. Die konsumtiven und über den Markt, z.T. kapitalistisch organisierten Dienste bleiben demgegenüber durchaus untergeordnet.“ (Miehe 2011, S. 128)

Die technologische Revolution via Mikroelektronik und PC-Einsatz hat überall nicht nur erheblich zur Produktivitätssteigerung beigetragen, sondern hat die die unmittelbare Produktion vorbereitenden und diese im Absatz „nachbereitenden“ Wege verlängert und teilweise kompliziert. Diese gewachsenen „Vorleistungen“ für die materielle Produktion sind ein wesentlicher Faktor für die Ausdehnung der Dienstleistungen gewesen.

Die damit zusammenhängenden erhöhten Bildungsinputs sowie die gesteigerte Arbeitsintensität haben wiederum generell wesentlich verstärkte und komplexere Reproduktionsleistungen (Medizin, Pflege, soziale Dienste etc.) erzwungen, welche wiederum ein weiteres bedeutendes Feld der Dienstleistungsexpansion gewesen sind.

Bildungs- und Qualifikationsexpansion

Im Vergleich zu 1950 (100.000) hatte sich die Zahl der Studierenden bis 1970 (ca. 500.000) verfünffacht. Von 1970 bis 1996 hat sie sich noch einmal mehr als verdreifacht, d.h. sie stieg absolut auf 1,8 Mio. Dann, bis 2007, pendelte sich diese Zahl um die 2 Mio. und etwas darüber ein.[1] Die Quote der Studierenden an der Gesamtzahl der 20-25Jährigen dürfte sich bis 1996 deutlich erhöht haben, stagniert aber seither oder ist sogar rückläufig.

Dieser enorme Anstieg reflektiert sich in der seit 1970 annähernd verdreifachten Quote von akademischen Bildungsabschlüssen. Waren es noch 1970 ca. 3,7 Prozent akademische Abschlüsse (Hochschulen und FH), so 2007 ca. 14 Prozent (bezogen auf die erwerbsfähige Bevölkerung im Alter von 15 bis 60 und älter, Datenreport 2008, S. 71, Tab. 71). Bezieht man die akademisch Gebildeten auf die Erwerbspersonen, kommt man auf eine Quote von 22,2 Prozent (Vester 2011: 634) für das Jahr 2007. Das bedeutet, dass – je nach Bezugsgröße – jeder siebente oder jeder fünfte der Bevölkerung oder der Erwerbspersonen als „Akademiker“ anzusehen ist. 1970 war es noch jeder 22. Bürger/Bürgerin.

Hier zeigt die Differenzierung in Alterskohorten den langfristigen Trend auf: „Von den 30 bis unter 40-Jährigen hatten immerhin 19 Prozent eine Fachhochschul- oder Hochschulstudium erfolgreich abgeschlossen; unter den 6o-Jährigen und Älteren befanden sich dagegen nur knapp 10 Prozent Akademiker.“ (Datenreport 2008, S. 70; Tab. 15, S. 71).

Bei den Schulabschlüssen hat es sogar eine noch größere Verschiebung nach oben gegeben. Hier kann von mehr als einer Verdreifachung der Schulabschlüsse zur Hochschul- und Fachhochschulreife in den letzten 30 bis 40 Jahren gesprochen werden: Während bei den 60Jährigen und Älteren im Jahre 2007 nur 13 Prozent diesen Abschluss vorweisen konnten, waren es im selben Jahr bei den 25-29Jährigen schon 41,5 Prozent (Datenreport 2008, S. 70, Tab. 14).

Feminisierung der Arbeit

Die Zunahme der weiblichen Erwerbsquote von 1970 bis 2004 von 45 auf 65, bis 2009 auf 70 Prozent (es gehen also mittlerweile 70 Prozent der im erwerbsfähigen Alter stehenden Frauen einer Erwerbsarbeit nach[2]) ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen und artikuliert sich unterschiedlich auf differierenden Berufsfeldern:

Einerseits ist die deutliche Verbesserung der Qualifikationen und Bildungsabschlüsse von Mädchen (mittlerweile machen mehr Mädchen als Jungen das Abitur, und häufig sind junge Frauen stärker als junge Männer als Studienanfänger vertreten) von zentraler Bedeutung.

Andererseits hat die enorme Ausdehnung der Teilzeitarbeit, die zu einem großen Teil von Frauen wahrgenommen wird, zur Erhöhung der weiblichen Erwerbsquote beigetragen.

Der Trend zum Status der (weniger: des) Alleinerziehenden und das Abschmelzen des Modells des männlichen Alleinverdieners haben gleichfalls dazu beigetragen.

Die akademisch ausgebildeten Frauen – je jünger, umso größer ihr Anteil an der gesamten Population der Akademiker – sind überwiegend im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialbereich, also vor allem im öffentlichen Sektor tätig.

Intra-Polarisierung innerhalb der Lohnabhängigen

Die deutlich gewachsene Lohnspreizung der letzten Jahrzehnte ist Ausdruck/Ergebnis der neoliberalen Deregulierung, gestiegener Dauerarbeitslosigkeit, Schwächung der Gewerkschaften und der Bedeutungssteigerung betrieblicher Sondervereinbarungen gegenüber den flächendeckenden Tarifverträgen.

Nach einer langen Periode relativer Stabilität der Lohnabstände gibt es seit den 70er und 80er Jahren wieder wachsende Disparitäten auf verschiedenen Ebenen im Lager der Lohnabhängigen. „In diesem Zusammenhang ist ein zunehmendes Auseinanderdriften der Regionen von Relevanz, was als ‚Regionalisierung sozialer Ungleichheit’ bezeichnet werden kann. Die Formel gleicher Lohn für gleiche Arbeit stimmt nicht mehr, weil die Höhe des Lohns stark an den jeweiligen regionalen Kontext gekoppelt ist.“ (Mau 2012: 54).

Die Propaganda der Individualisierung und Fragmentierung, die bewusst auch auf eine Entsolidarisierung der Lohnarbeiter abzielt, hat Produktivitätsdifferenzen zwischen Branchen und Betriebsabteilungen zum Ausgangspunkt für eine derartige kleinteilige Tarif- und Entlohnungspolitik genommen. Die gewerkschaftlichen Zentralen konnten dieser – für ihre Kampfkraft kontraproduktiven – Strategie nichts entgegensetzen, da sowohl in Rezessionsperioden wie in günstigen Konjunkturphasen die Absprachen der Werksleitungen mit den Betriebsräten sich oft gegenüber den übergeordneten gewerkschaftlichen Gesichtspunkten durchsetzen konnten.

Prekarisierungstendenz

Ein anderer Ausdruck der Intra-Arbeitnehmerschafts-Polarisierung ist die Perkarisierungstendenz, die sich seit den 80er Jahren kontinuierlich ansteigend abgezeichnet hat. Mittlerweile umfasst sie ca. 15-20 Prozent der Erwerbstätigen.[3]

Neben der Deregulierung der Arbeitsmärkte und den Veränderungen in der Arbeitslosenversicherung (Hartz 4 und Agenda 2010) sind auch die gestiegenen „Flexibilitätsanforderungen“ des Kapitals (Leiharbeit, Outsourcing von Stammarbeitern etc.) von Bedeutung. Man könnte meinen, dass sich darin teilweise auch ein Prozess der Abqualifizierung bzw. der quantitativen Zunahme der unqualifizierten Erwerbspersonen andeutet, gewissermaßen als Komplementärerscheinung zum Qualifikationsanstieg. Dies scheint aber nur bedingt und höchstens teilweise der Fall zu sein, zumal sich die Zahl der Niedrigqualifizierten in den letzten Jahren deutlich verringert hat. „Insgesamt verbirgt sich … hinter der Wiederkehr prekärer Erwerbsarbeit nicht eine durchgängige Abnahme der Qualifikation, sondern auch die Abwertung qualifizierter Arbeit durch niedrigere Einstufung, aber auch durch Niedriglöhne und durch unsichere Arbeitsverhältnisse.“ (Vester 2011: 634)

Verstärkung von Ungleichheit von Einkommen und Vermögen

Mit dem Abbau sozialstaatlicher Auffangnetze, der Forcierung der Konkurrenz vor dem Hintergrund hoher Dauerarbeitslosigkeit, der Schwächung der Gewerkschaften, einer regressiven Steuerpolitik ist in den letzten drei Jahrzehnten sowohl die Einkommensungleichheit wie auch die der Vermögen weiter vorangetrieben worden.[4]

Die Globalisierung und Öffnung der Ökonomie

hat die Flexibilisierung, die Konkurrenz, die Beschleunigung der Strukturwandlungen und die Tendenz der Verlagerung von (industriellen) Arbeitsplätzen ins Ausland sowie den Import von billigeren Arbeitskräften aus dem Ausland (vor allem im Dienstleistungsbereich) stark gefördert.

3. Konsequenzen für die Analyse der Intelligenz

Die Zentralität der Arbeiterklasse (und damit der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung), auf welche sich die „Intelligenz“ als „Massenschicht“ zu orientieren habe – so noch der Tenor der meisten Beiträge auf der großen IMSF-Konferenz über Arbeiterbewegung und Intelligenz 1985 – ist weiter durch die wirkliche Entwicklung eingeschränkt und relativiert worden. Die Reduktion der Arbeiter vor allem in der materiellen Produktion, aber auch – wenn auch im geringerem Maße – im Zirkulationsbereich ist fast spiegelbildlich begleitet von einem weiteren Anstieg der akademisch gebildeten Erwerbstätigen. Ca. 11,5 Millionen Arbeitern (im sozialrechtlichen Sinne) stehen im Jahr 2007 ca. 8,8 Millionen akademisch gebildete Erwerbstätige gegenüber. (Destatis 2013b; Datenreport 2008: 71)

Die Intelligenz als Ganze hat sich wahrscheinlich noch weiter polarisiert (vgl. Vester 2011: 634, Übers. 1):

Eine nicht unerheblichen Gruppe, die dem „oberen Management“ (höhere Verwaltungs-, Finanz- und Vermarktungsberufe) zuzurechnen ist, ist in ihrem Anteil an der Erwerbstätigen von 1990 bis 2007 von 6,1 auf 7,9 Prozent angestiegen.

Die anderen Segmente der lohnabhängigen Akademiker sind etwas schwächer gewachsen: die „Technischen Experten“ (Ingenieur-, Informatiker- und Architekturberufe) im selben Zeitraum von 4,4 auf 5,7 Prozent; die sog. „Sozio-kulturellen Experten“ (höhere Bildungs-, Medizin- und Kultur- und Publizistikberufe) von 3,8 auf 4,9 Prozent.

Die Akademiker in „Freien Berufen“ sind im gleichen Zeitraum von 0,9 auf 3 Prozent am stärksten gewachsen. Hier sind extrem entgegengesetzte Pole der Freiberufler gleichermaßen versammelt: sowohl „Wunsch-Professionale“ wie auch Behelfs- oder „Not-Professionale“(als Ausflucht vor drohender Arbeitslosigkeit), wie z.B. der Kümmeranwalt im Hinterzimmer.

Die Prekarisierungstendenzen dürften auch bei der Intelligenz zugenommen haben, trotz ihrer generellen Besserstellung, z.B. in Bezug auf die Arbeitslosigkeit. Bei den künstlerisch-kulturell oder medial tätigen Intelligenzvertretern war der Übergang in prekäre Zonen ohnehin schon früher gegeben. Diese „prekären Zonen“ oder „Vor-Prekariats“-Bereiche dürften sich unter heutigen Bedingungen deutlich ausgeweitet haben. Gerade der auf besondere Qualifikationen basierte Status kann in einer von ständiger Ökonomisierung, Dynamisierung und Beschleunigung charakterisierten Gesellschaft nicht als auf Dauer gestellt angesehen werden. Die Statusängste, in Vor-Zonen des Prekariats abzustürzen, nehmen in nicht wenigen Intelligenz-Berufen zu (Beispiele bei Mau 2012: 111ff. und neuerdings bei B. und J. Ehrenreich 2013: 115ff.).

Die Zunahme der Abstiegsängste bei Angehörigen der Intelligenz zwischen den 80er Jahren und der ersten Dekade bis 2010 von ca. 30 Prozent auf etwa 50 Prozent wird bei Müller (2013a: 19, Abb. 3) dokumentiert.

Vieles deutet darauf hin, dass sich innerhalb der berufsfachlich qualifizierten Mittelschichten die Zone sozialer und beruflicher Verwundbarkeit ausweitet. Neben dem „stabilen Prekarität“ im unteren Bereich entfaltet sich auch mehr und mehr eine „prekäre Stabilität“ im Mittelklassen- und Intelligenzbereich. „Beispiele für ‚prekäre Stabilität’ sind Journalisten, die von Verlagen als dauerhafte Leiharbeitskräfte von einer hauseigenen Agentur angeheuert werden oder IT-Spezialisten, die sich durch gut bezahlte Kurzfristverträge hangeln. Daneben sind in den vergangenen Jahren eine Vielzahl gering entlohnter, arbeitsrechtlich ‚entsicherter’, aber immerhin unbefristeter Arbeitsplätze im Gesundheitssektor, in der Altenpflege oder der Sozialarbeit entstanden.“ (Vogel 2006: 86) Vogel sieht diese Tendenzen (2005/06) hauptsächlich im „Sektor der nichtakademischen Intelligenzberufe und der ‚Semiprofessionen der Technik, der Verwaltung oder den medizinisch-sozialen Dienstleistungen“, also in den „klassischen“ „Berufen und Aufsteigermilieus der sozialen Mitte“. Zu fragen wäre, inwieweit inzwischen sich diese Statusgefährdungen und Deklassierungsängste auch auf mehrere Bereiche von akademischen Intelligenzberufen erweitert haben.

Der Zwang zur Höherqualifikation hat zugenommen, die parallel zur Höherqualifikation gebotenen Aufstiegschancen haben sich allerdings erheblich verringert; in manchen Sektoren, vielleicht sogar in der Mehrheit der Intelligenz-Tätigkeitsbereiche, sind die Schließungstendenzen „nach oben“ ebenso deutlich geworden wie die mehr oder minder „realen“ Abstiegsbedrohungen. „Abstiegsgefahr verbindet sich für die Mittelklasse mit Aufstiegsblockade.“ (Vogel 2006: 86)

Die Studierenden (besonders in der BRD, weniger in den aktuellen Krisenländern Spanien, Griechenland, Frankreich, Großbritannien) sind im Durchschnitt weit weniger politisiert und als links einzustufen als noch 1985 oder gar 1970. Eine gewisse Politisierung kommt heute eher von den altersmäßig mittleren Rängen der Intelligenz (35-55Jährige). Hier hat die Bologna-Strategie und die (berechtigte) Angst vor Abwertung und Abstufung der akademischen Qualifikationen bei der Arbeitsplatzsuche ganze Arbeit geleistet.

Aber es scheint, als ob weniger Proletarisierung, Deklassierung und massenhafte Entwertung der Qualifikationshöhe zu den seltenen Zeichen von Opposition und Widerstand antreibt. Vielmehr scheint es eher die Zunahme des Grades und der Intensität der kapitalorientierten Fremdbestimmung zu sein, die zu Beschleunigung, Intensivierung und offenkundig sachwidriger Ausübung der Tätigkeiten zwingt, welche punktuell zu Protesten dieser Intelligenzsegmente führt, z.B. von Lehrern in den Schulen, weniger von Hochschullehrern an den Universitäten, von Ärzten in (privatisierten) Kliniken etc. (hierzu ähnlich: Lieberam 2011: 77).

Ob die von Claus Leggewie (und Franz Walter) kürzlich geäußerte Hoffnung, dass eine neue Generation von gesellschaftspolitisch links engagierten Ingenieuren (im Kontext der Energiewende und andern Großprojekten) heranwachse (Leggewie 2013), bleibt abzuwarten.

Literatur

Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn.

Datenreport 2011. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn.

Destatis 2013a: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/ Bildung/lrbil01.html.

Destatis 2013b: https://www-genesis.destatis.de/genesis/online/link/tabelleErgebnis/12211-0006

Ehrenreich, Barbara und John (2013): Das böse Erwachen: Aufstieg und Fall der Mittelschicht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 3/2013, S. 109ff.

IMSF (1985): Intelligenz, Intellektuelle und Arbeiterbewegung in Westeuropa, Frankfurt/M..

Leggewie, Claus (2013): Die Stunde der grünen Ingenieure, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 4/2013, S. 91ff.

Lieberam, Ekkehard (2011): Strukturwandel der Klassenbildung der Lohnarbeiter in Deutschland – Skizze nach 162 Jahren Manifest, in: E. Lieberam/J. Miehe (Hg.): Arbeitende Klasse in Deutschland, Bonn, S. 25-80

Mau, Steffen (2012): Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht?, Frankfurt/M.

Miehe, Jörg (2011):Zur Struktur der Erwerbstätigkeit und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in der BRD von 1957/70 bis 2005, in: E. Lieberam/J. Miehe (Hg.), Arbeitende Klasse in Deutschland, Bonn, S. 81-159.

Müller, Bernhard (2013a): Gesellschaftliche ‚Mitte’ vor dem Abstieg?, in: Sozialismus, Nr. 1 (Januar 2013), S. 14-19

Ders. (2013b): Reicher Mann und armer Mann – Brüderle, geh Du voran. Zum Reichtums- und Armutsbericht der Bundesregierung, in: Sozialismus Nr. 4 (April 2013), S. 18-21

Vester, Michael (2011): Postindustrielle oder industrielle Dienstleistungsgesellschaft: Wohin treibt die gesellschaftliche Arbeitsteilung?, in: WSI-Mitteilungen 12/2011, S. 629-639.

Vogel, Berthold (2006): Sicher-Prekär, in: S. Lessenich/F. Nullmeier (Hg.), Deutschland. Eine gespaltene Nation, Bonn, S. 73-91.

Wehler, Hans-Ulrich (2013): Die Explosion der Ungleichheit. Ein Problem von Macht und Herrschaft, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 4/2013, S. 47ff.

[1] 2009: 2.121.000; 2011: 2.380.974. Destatis 2013a.

[2] Angabe für Westdeutschland; in Ostdeutschland lag die Quote bei 68 Prozent. Vgl. Datenreport 2011, S. 110. Altersgruppe der erwerbsfähigen Bevölkerung von 16 bis 64 Jahre. Daten des Sozio-ökonomischen Panels.

[3] Manche Angaben kommen sogar auf über 38 Prozent, so eine Hans Böckler-Studie, zitiert bei Müller 2013b: 19.

[4] Vgl. hierzu die Debatten um die Veröffentlichung des letzten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung sowie Wehler 2013.