Buchbesprechungen

Utopische Realpolitik

von Karl Unger zu Helge Buttkereit
März 2011

Helge Buttkereit, Utopische Realpolitik. Die Neue Linke in Lateinamerika, Pahl-Rugenstein, Bonn 2010, 161 S., 16,90 Euro

Nicht nur der Begriff „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ kommt aus Lateinamerika, auch er selbst scheint vor allem dort verortet zu sein und hat inzwischen für viele deutsche Linke den Charakter einer konkreten Utopie bekommen. Doch wenig Gewissheit hat man hierzulande über das emanzipatorische Potenzial und die Nachhaltigkeit der linken Bewegungen und Regierungen. Eine informative und differenzierte Darstellung der Entwicklungen in Venezuela, Bolivien und Ecuador sowie der Aktionen der Zapatisten in Mexiko hat Helge Buttkereit, der sich zur antiautoritären Linken zählt, vorgelegt. Seine von ihm wegen mangelnder Klassenanalyse als „essayistische Annäherung“ (13) an die Neue Linke in Lateinamerika bezeichnete Studie, diskutiert die Probleme von Strategie und Taktik auch unter dem Gesichtspunkt möglicher Lehren für die deutsche Linke.

Lateinamerika war in den 1980er Jahren das zentrale Versuchsfeld des Neoliberalismus. Dabei ging es in kurzer Perspektive um freie Märkte, freien Handel und Privatisierung, wo noch keine Märkte existierten (Boden, Wasser, Erziehung, Umwelt etc.). Langfristig ging es jedoch um die Schaffung eines neuen Menschen: Die Marktlogik sollte alle Handlungen des Individuums anleiten und damit frühere ethische Überlegungen und Verhaltensweisen ersetzen. Daher konnte der Widerstand gegen die Privatisierung wie der siegreiche Wasserkrieg von Cocahamba (Bolivien 2000) über den unmittelbaren Erfolg hinausgehende Auswirkungen haben. Individualismus und Isolierung wurden durch Solidarität überwunden und die Ureinwohner begannen, das Geflecht der Gesellschaft wieder zu knüpfen, das der Neoliberalismus zerrissen und zerstört hatte: „Die Vergangenheit kehrt zurück, die Indigenen werden sich ihrer Geschichte bewusst und wollen davon ausgehend die Zukunft mit einer ‚guten Regierung‘ und einem ‚guten Leben‘ nach ihren Vorstellungen gestalten. (…) Revolution bedeutet eben nicht nur ein ewiges Voranschreiten zu etwas Neuem. Es ist sinnvoll, sich etwas Altes, Bewährtes und vielleicht Verdrängtes wieder anzueignen und kritisch neu zu bedenken. Die Bedeutung der traditionellen Dorfgemeinschaft in den Anden oder in Chiapas (…) ist dafür ein gewichtiges Beispiel. Marx schrieb in Anlehnung an den Ethnologen Morgan, ‚das neue System, zu dem die moderne Gesellschaft tendiert, wird eine Wiedergeburt des archaischen Gesellschaftstypus in einer höheren Form sein‘ (MEW 19: 386).“ (21f.) Das verweist auf das formationstheoretische Problem der von der Urgesellschaft geschiedenen und zeitlich parallel zu Feudalismus und kapitalistischer Entwicklung existierenden „asiatischen Produktionsweise“. Marx hatte die ihr von ihm zugeordnete russische Dorfgemeinschaft als „Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Russlands“ gesehen. So ist es nach 1917 nicht gekommen. Unter anderem weil sie, ebenso wie die indigene Dorfgemeinschaft in ihren archaischen Vorstellungen den Charakter einer sozio-ökonomisch stagnierenden Zwangsgemeinschaft hatte. In Lateinamerika hat der kommunitäre Kern der Dorfgemeinschaft überlebt, der auf dem gemeinschaftlichen Leben und Produzieren in einer Konsensdemokratie, die alle Mitglieder der comunidad einschließt, beruht. „Entscheidend für eine Modifikation des archaischen Systems in eine höhere Form“, ist wie Buttkereit bemerkt, „die Erweiterung um die Freiheit des Einzelnen, die im traditionellen Verständnis nicht vorkommt“ (101). Ein weiteres gewichtiges Problem sind die Partikularinteressen der Dorfgemeinschaft, die dem Gemeinwohl und den längerfristigen Interessen der Gesellschaft entgegenstehen können. Dennoch kann dem von Buttkereit zitierten allgemeinen Befund einer Lateinamerika-Forscherin kaum widersprochen werden: „Die Modernität und Kultur, die man den indigenen Gemeinschaften zu bringen verspricht, bedeutet die Vernichtung ihrer eigenen Kultur zum Zweck ihrer Einbeziehung in die Welt der Konsumenten, zur Vernutzung ihrer Ressourcen (…) Der Widerstand dagegen hat im Wesentlichen keinen rückwärtsgewandten Charakter, sondern ist von der Erkenntnis getragen, dass der als Modell angesehene ‚westliche‘ Lebensstil, die Zivilisationsweise der Industrieländer, die auf ungehemmten Ressourcenverbrauch und der Marktförmigkeit aller Lebensäußerungen beruht, die Welt zugrunde richtet und kein gangbarer Entwicklungsweg ist.“ (99f.) Bedenken muss man bei solchen Aussagen, dass die Figur des „glücklichen Primitiven/edlen Wilden“ seit der Aufklärung Bestandteil linker Utopien ist. Doch verweist sie indirekt auf das eigentliche Problem: die Defizite in der marxistischen Diskussion der letzten 30 Jahre. Kategorien wie Entfremdung und Verdinglichung spielten für die Kapitalismuskritik keine Rolle mehr. Die Deformation des Individuums und seiner natürlichen Umwelt wurden nicht zum Gegenstand von Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung sondern zum Objekt feuilletonistischen Geplauders.

Was Venezuela, Bolivien und Ecuador vom Geschehen in Brasilien oder Argentinien unterscheidet, ist, dass in den linken Staaten „utopische Realpolitik“ stattfindet. Darunter versteht Buttkereit eine Realpolitik, die „ein Ziel hat, das über das im konkreten Moment Machbare hinausreicht“ (16f.). Eine solche Politik hat Prozesscharakter. Weil darin die politische Macht von einer sozialen Gruppe auf die andere übergeht und grundlegende Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft erfolgen, nennt Hugo Chávez den bolivarischen Prozess mit Recht Revolution. Zudem scheint bei der Neuen Linken in Lateinamerika sich eine Entwicklung im positiven Sinn zu vollziehen, die in der Sowjetunion nach 1917 zunehmend negative, weil repressive Züge getragen hat und die von Marx und Engels in dem bekannten (und immer wieder gerne zitierten) Satz zusammengefasst wurde: „In der revolutionären Tätigkeit fällt das Sich-Verändern mit dem Verändern der Umstände zusammen“. Buttkereit macht auch Schwachstellen der Bewegungen deutlich: Politik geht bei ihnen vor Ökonomie. Das bedeutet nicht nur, dass die linken Regierungen kein handhabbares Wirtschaftsprogramm hatten, als sie an die Regierung kamen, sondern auch dass die Neue Linke keine ökonomische Bewegung ist. Die propagierte „solidarische Ökonomie“ ist nach wie vor lediglich Nischenwirtschaft. Im Zusammenhang mit dem Weltsozialforum bzw. dem „neuen Internationalismus“ sieht der Autor angesichts eines Slogans wie „Eine andere Welt ist möglich“ die große Gefahr der Beliebigkeit. Deshalb betont er: „Utopische Realpolitik, die versucht das heute noch Unmögliche morgen möglich zu machen, (…) handelt ausgehend von dem Ziel rational aufgrund der jeweils vorgefundenen Bedingungen. (...) Wer sich konkret mit den lokalen und regionalen Bedingungen ausein­ander setzt und seine revolutionäre Politik daran ausrichtet, handelt nicht nur vernünftig, sondern er vermeidet auch Projektionen.“ (141, 153) Nicht zu Unrecht sieht der Autor diese Konzeption „in gewisser Weise mit der ‚revolutionären Realpolitik‘ Rosa Luxemburgs verwandt“ (17). Eine solche Verwandtschaft existiert auch mit der Politik der KPD unter Brandler und Thalheimer und manch anderen Konzepten der Arbeiterbewegung, da es sich hier um ein grundsätzliches Problem revolutionärer Politik handelt: der Vermittlung von Tageslosungen und Endziel. Das ist jedoch kein Einwand gegen Buttkereits Studie – ganz im Gegenteil: „Alles Gescheite mag schon siebenmal gedacht worden sein. Aber wenn es wieder gedacht wurde, in anderer Zeit und Lage, war es nicht mehr dasselbe.“ (Ernst Bloch)

Karl Unger