Novemberrevolution – Aktualität und Geschichte

Offene Fragen gesellschaftlicher Transformation im Rückblick auf die Novemberrevolution

März 2009

„Ich habe bemerkt“, sagte Herr K., „dass wir viele abschrecken von unserer Lehre dadurch, dass wir auf alles eine Antwort wissen. Könnten wir nicht im Interesse der Propaganda eine Liste der Fragen aufstellen, die uns ganz ungelöst erscheinen?“

(Bertolt Brecht: „Geschichten vom Herrn Keuner“)

Der Rückblick auf die Novemberrevolution vor 90 Jahren wirft noch immer nicht gelöste Fragen gesellschaftlicher Transformation auf. Handelte es sich nicht um eine unvollendete oder gar gebrochene Revolution, über deren proletarischen oder bürgerlichen Charakter seit langem gestritten wird? Aus Sicht vieler linker Revolutionäre wurde sie von sozialdemokratischen Führungsgruppen verraten, die wiederum im Bündnis mit den im Ersten Weltkrieg besiegten Machtträgern des Kaiserreichs das bolschewistische Chaos einer russischen Räterepublik vermeiden wollten. Und musste diese nicht, da der große Funken der russischen Oktoberrevolution nicht zu einem europäischen Brand entfacht werden konnte, auch wenn das die Kommunistische Internationale bis weit in die 1920er Jahre verfolgte, den steinigen Weg zum Sozialismus in einem dazu noch rückständigen Land beschreiten? Sollte sich das zunächst vorschnell erscheinende, aber wohl begründete Urteil Rosa Luxemburgs nicht bewahrheiten, dass den Bolschewiki zwar das geschichtliche Verdienst zukomme, das sozialistische Transformationsproblem gestellt zu haben, ohne es aber in Russland lösen zu können? Und hatte sie nicht frühzeitig ein zentrales strategisches Problem in jener historisch negativen Dialektik erkannt, mit der Aufteilung des adligen Grundbesitzes an die Bauern zwar den revolutionären Fortgang unmittelbar zu sichern, aber hierdurch die sozialistische Vergesellschaftung auf dem Lande längerfristig zu blockieren?

All die schon in der Agrarfrage aufbrechenden politischen Widersprüche und sozialen Widerstände – vom Anspruch einer proletarischen Demokratie über die Diktatur einer Minderheit gegenüber der Mehrheit des Volkes bis zum umfassenden stalinistischen Terror – vertieften schrittweise die im Ersten Weltkrieg aufgebrochene Spaltung der europäischen Arbeiterbewegung. Dies lähmte ihre zunehmend verfeindeten Flügel, gemeinsam gegen die faschistischen Bewegungen zu kämpfen, die im Zuge der sozialen Verwerfungen zunächst nach dem Krieg und dann in der Weltwirtschaftskrise raschen Zulauf aus den deklassierten Schichten erhielten. So gelang es einflussreichen gesellschaftlichen Kräften in Wirtschaft, Militär und Politik das nationalsozialistische Herrschaftssystem in Deutschland zu inthronisieren, das mit seiner Vernichtungsmaschinerie im Zweiten Weltkrieg wiederum die anhaltende Wirksamkeit regressiver Entwicklungspfade in der am Ende zwar siegreichen, aber ausgebluteten Sowjetunion begünstigte. Und stellt angesichts dieser historischen Mitgift das letztendliche Scheitern der sich realsozialistisch verstehenden Systemalternative trotz späterer, wie auch immer zu bewertender Versuche von Perestrojka (Umbau) und Glasnost (Offenheit) nicht eine widersprüchliche Hypothek für die Entwicklung sozialistischer Zielsetzungen, ja selbst konsequenter reformistischer Positionen dar?

Zu theoretischen Problemen revolutionärer Ungleichzeitigkeit

Die widersprüchlichen zeitgeschichtlichen Erfahrungen gehen in die Bewertung des Zeitalters der Extreme (Eric Hobsbawm) ein, welches weitgehend durch die Herausforderungen der sowjetischen Systemalternative im kurzen 20. Jahrhundert von 1917 bis 1991 bestimmt wurde. So hatte die russische Oktoberrevolution zunächst auf die revolutionären Ereignisse und antikolonialen Befreiungsbewegungen in der ganzen Welt ausgestrahlt. Dies galt insbesondere für die deutsche Novemberrevolution, deren folgenreiche Bremsspur wiederum sozialistische Entwicklungsmöglichkeiten anderswo einschränkte. Schon Lenin hatte darauf hingewiesen, dass diese im rückständigen Russland ohne eine hochentwickelte industrielle Basis ungleich schwerer zu realisieren waren, die Revolution hier aber rascher als in fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern siegen konnte. In welchem Verhältnis stand die politische Revolution gegen das Kapital von Karl Marx (Antonio Gramsci) aber zu dem Lehrbuchwissen in dessen berühmten Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie, wonach eine sozialistische Transformationsepoche erst in einer ausgereiften bürgerlichen Gesellschaft einsetzen könnte, in deren Schoße bereits die materiellen Existenzbedingungen zur Lösung antagonistischer Produktionsprozesse ausgebrütet seien und ihre zu Fesseln umgeschlagenen kapitalistischen Entwicklungskräfte nunmehr von den sich entfaltenden Produktivkräften gleichsam wie Eierschalen gesprengt würden?

Umgekehrt wiederum führte Gramsci das Scheitern revolutionärer Prozesse in den weiter entwickelten europäischen Ländern gerade auf die hegemoniale Wirksamkeit eines integralen Staates in der fortgeschrittenen bürgerlichen Gesellschaft zurück. Sie wies mit ihren, in zahlreichen politischen, sozialen und kulturellen Organisationen organisch wirkenden bürgerlichen Intellektuellen selbst noch in existenziellen Krisenphasen des kapitalistischen Systems eine ungewöhnliche Stabilität auf. Angesichts solcher Interpretationsprobleme seiner Philosophie der Praxis stellt sich jedoch die empirisch zu lösende Frage, inwieweit es sich nicht auch um wie auch immer asymmetrische Durchdringungsprozesse mit der sich institutionalisierenden Arbeiterbewegung handelte. Hatte sie nicht mit arbeitspolitischen Regulierungen wie der Begrenzung des Arbeitstages, die Marx und Engels als Sieg der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse feierten, zugleich eine neue Stufe kapitalistischer Entwicklung mit vermehrten technischen Innovationen vorangetrieben, die als Übergang von der absoluten zur relativen Mehrwertproduktion mit ihren zyklischen Bewegungsformen so eindrucksvoll begründet worden ist? Greifen angesichts dieser komplexen Entwicklungslogik auf einzelne Führungs- und Arbeitergruppen beschränkte Verrats- und Bestechungsvorwürfe nicht zu kurz, zumal ihre imperialismustheoretischen Begründungsansätze nicht hinreichend die institutionellen Integrationsmechanismen zu erklären vermögen?

Zur konkreten Dialektik einer gebrochenen Revolution

Im wilhelminischen Kaiserreich war ein differenziertes Organisationsgeflecht aus Parteien, Gewerkschaften und Genossenschaften aufgebaut worden, mit denen sich eine wachsende Schicht aus Parlamentsabgeordneten, Organisationssekretären und Vereinsangestellten der Arbeiterbewegung zu etablieren begann. Diese hatten in ihrer partiell parallel- und gegengesellschaftlichen Existenzweise im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer kontinuierlichen Sozial- und Bildungsarbeit durchaus sozialistische Vorstellungen gesellschaftlicher Transformation in größeren Teilen der Arbeiterklasse verankert. Unter dem Eindruck existenzieller Erfahrungen von vermehrtem Hunger an der Heimatfront und massenhaftem Sterben in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges überholten relevante Teile der Arbeiterklasse jedoch die um ihren Organisationsbestand besorgten Lehrmeister auf der linken Spur. Je mehr letztere von der Bewegung profitierten statt für diese zu leben, begannen die sozialen Erfolge zu einem organisatorischen Selbstzweck zu mutieren. Mit der Ziel-Mittel-Verkehrung in der etablierten Organisationswelt verkümmerten die Forderungen nach einer Abschaffung des Lohnsystems gegenüber den täglichen, gleichwohl nötigen Auseinandersetzungen der Gewerkschaften um höhere Löhne.

So drängten die sich überall spontan bildenden Arbeiter- und Soldatenräte zwar auf radikale gesellschaftliche Demokratisierungen, ohne jedoch ihre strategische Funktion in der Forderung nach einer sozialistischen Republik konkret bestimmen zu können. Während die Räte von einer linken Minderheit wie den Revolutionären Obleuten in Berliner Betrieben oder der illegalen Spartakusgruppe am Rande der Sozialdemokratie sowie in den neuen Parteiformationen der Unabhängigen Sozialdemokraten und Kommunisten zu revolutionären Trägern einer einheitlichen Staatsgewalt erhoben wurden, sprach sich deren große Mehrheit im Januar 1919 für die Bildung einer Nationalversammlung aus. War die parlamentarische Demokratie nicht auch von ihren radikalen Führern bis in den Krieg hinein gefordert worden? Und hatten die jahrzehntelangen Erfolge eines unaufhaltsam erscheinenden Aufstiegs selbst noch während der repressiven Sozialistengesetze Bismarcks nicht die von Engels unter demokratischen Verfassungsordnungen erwogene Möglichkeit einer parlamentarischen Machtübernahme bestärkt, die durch gewerkschaftlichen Kampf und demokratische Wahlen erreicht werden konnte? Und begründete die stete Entfaltung der Produktivkräfte nicht ohnehin eine eherne Notwendigkeit sozialistischer Transformation, die revolutionäre Abenteuer nicht gefährden durfte?

Zu historischen Niederlagen durch politische Spaltungsprozesse

Für solch eine Besonnenheit schien die deutsche Mehrheitssozialdemokratie zu stehen, die sich zur Aufrechterhaltung der Ordnung aber mit den im Ersten Weltkrieg besiegten Klassen des wilhelminischen Obrigkeitsstaates arrangierte. Letztere bezahlten ihren Preis mit demokratischen und sozialen Zugeständnissen von der Anerkennung eines allgemeinen Wahlrechts von Frauen und dem Abschluss von Tarifverträgen bis zum achtstündigen Arbeitstag und einer öffentlichen Erwerbslosenunterstützung. Legten diese Reformen nicht den Grundstein für eine soziale und demokratische Republik? Deren institutionelle Stützpfeiler wurden aber, deutlich in dem Abbau der Arbeiter- und Soldatenräte wie der Umwandlung der Sozialisierungskommission in ein Instrument zur Verhinderung jeglicher Sozialisierung, wieder Schritt für Schritt abgebaut. Gegenüber den sich abzeichnenden Restaurationstendenzen flackerten unter dem Eindruck der sich gegen innere und äußere Feinde erhaltenden Oktoberrevolution immer wieder Widerstände größerer Teile der Arbeiter auf. Sie wurden jedoch von Anfang an mit Hilfe von marodierenden Resten der im Krieg besiegten Armee, wie es die Ermordung ihrer sozialistischen Führungspersönlichkeiten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht bereits in den Januarkämpfen 1919 dokumentiert, durch systematischen Terror der staatlichen Repressionsapparate von Militär, Polizei und Justiz niedergeschlagen.

Den hierdurch angefachten Bruderkampf verstärkten aber auch die in der Kommunistischen Internationale organisierten Parteien, die in steigendem Maße auf die außenpolitischen Bedürfnisse der Sowjetunion eingeschworen wurden. Und begünstigten deren weitgehende internationale Isolierung und das Bleigewicht innerer Rückständigkeit nicht Prozesse bürokratischer Bolschewisierung bis hin zur stalinistischen Deformation? Und sollte sich der mit der relativen kapitalistischen Stabilisierung bereits in den 1920er Jahren einsetzende sowjetische Thermidor, der in Analogie zu bürgerlich-reaktionären Machtverschiebungen in der Französischen Revolution bis zum Bonapartismus bereits von den bolschewistischen Revolutionären insbesondere um den zunächst ausgeschalteten und später ermordeten Trotzki diskutiert wurde, nicht als ein systemisches Muster stabilisieren und trotz wiederholter Reformansätze auch in den osteuropäischen Ländern einschließlich der DDR als eine anhaltend wirksame Barriere gesellschaftlicher Entwicklung erweisen? Wurde diese bei allen partikularen sozialen Errungenschaften nicht von den informationstechnologischen Produktivkräften mit ihren gesellschaftlichen Flexibilitätserfordernissen und individuellen Entfaltungsbedürfnissen aufgebrochen, wenn auch gesellschaftspolitisch konterrevolutionär in Richtung eines neoliberal entfesselten Kapitalismus?

Zu wiederkehrenden Rückschlägen im imperialistischen Kontext

Was lehren uns die zwiespältigen Erbschaften der deutschen November- wie der russischen Oktoberrevolution? Die theoretisch zutreffend begründete Vorstellung, dass die Kette der imperialistischen Länder am schwächsten Glied reißt, erklärt bis in die Gegenwart hinein revolutionäre Prozesse in sich noch entwickelnden, oft peripheren Ländern. Auch wenn diese erfolgreich rückständige Herrschaftsverhältnisse wie teilweise im Nahen Osten überwinden konnten, blieben sozialistische Entwicklungsziele, etwa nach dem Sturz des Obristenregimes in Griechenland oder in der portugiesischen Nelkenrevolution, jedoch weitgehend versperrt oder wurden vom Iran über Indonesien bis zu zahlreichen afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern durch unzählige Militärputsche oder in Bürgerkriegen vorzeitig liquidiert. Diese sind von der imperialen Vormacht USA weitgehend gedeckt oder gar inszeniert worden, wenn sie nicht in mörderischen Kriegen wie in Vietnam oder in Militäraktionen wie im kleinen Grenada selbst intervenierte.

Gegenwärtig wird in einigen lateinamerikanischen Ländern – nach von den USA systematisch geförderten Konterrevolutionen etwa in Chile und Nicaragua – wieder emphatisch vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts gesprochen. Aber macht nicht die jahrzehntelang durch allerlei westliche Blockaden gehemmte Entwicklung Kubas offenbar, wie sehr es in einem feindlichen Umfeld unterstützender Bündniskonstellationen von der Sowjetunion bis in die Gegenwart hinein bedarf, um zunächst nachholende Entwicklungsprozesse überhaupt stabilisieren oder gar sozialistische Impulse realisieren und auch bewahren zu können? Wie sehr diese Gefahr laufen, sich im neoliberalen Weltmarktzusammenhang wieder zu verflüchtigen, selbst wenn eine starke kommunistische Partei jahrzehntelang uneingeschränkt an der Macht ist, demonstriert die Herausbildung kapitalistischer Klassenkräfte mit sozialen Spaltungsprozessen und frühindustriellen Arbeitsformen in China, unabhängig davon, was für gigantische Aufbauleistungen auch in der Volksrepublik zu verzeichnen sind, die von der bürgerlichen Presse wiederum mehr oder weniger ausgeblendet werden?

Zur neoliberalen Verkehrung sozialer Reformpolitik

Eine weitere Lehre ist, dass auch substanzielle Erfolge reformerischer Bündniskonstellationen in der neoliberalen Konterrevolution seit der Überproduktionskrise gegen Mitte der 1970er Jahren wieder kassiert oder ins Gegenteil verkehrt werden können. Hierfür stehen etwa die laufende Privatisierung öffentlichen Eigentums, die Aushöhlung von Mitbestimmungsrechten und der Verzicht auf staatliche Interventionen bis zur Rücknahme demokratischer Sozialstaatsbestände. So sind nach dem Zweiten Weltkrieg verfassungspolitisch fixierte Klassenkompromisse noch von dem Regierungsprogramm der Linken in Frankreich und der britischen Labour Party in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, wenn auch halbherzig und vergeblich, in einer sozialistischen Perspektive akzentuiert worden. Nach der folgenden neoliberalen Reaktion in der Reagan-Thatcher-Ära haben gewendete sozialdemokratisch geführte Regierungen, zunächst im Vereinigten Königreich, dann in der Bundesrepublik Deutschland, eine beispiellose soziale Umverteilung unter der Losung der Stärkung globaler Wettbewerbsfähigkeit wenn nicht in Gang gesetzt, so doch weiter angeheizt. Und spielte bei den marktfundamentalistischen Anleihen im 19. Jahrhundert nicht der sang- und klanglose Untergang der realsozialistischen Systemalternative eine verstärkende, wenn nicht gar ausschlaggebende Rolle? Schränkt ihr mauerbrechender Fall trotz aller Distanzierungen von konstruktiver bis zu radikaler Kritik nicht selbst noch die rifondazione (Wiedergründung) einer europäischen Linken ein, blickt man etwa auf ihre zersplitterten und zerstrittenen Restbestände in den einstigen eurokommunistisch reformierten Hochburgen?

Dass die neoliberale Rutschbahn sozial- und finanzpolitischen Ausverkaufs jedoch keinen objektiven Sachzwang eines uns weisgemachten Endes der Geschichte (Francis Fukuyama) darstellt, macht nicht nur die aktuelle, längst auf die Realwirtschaft durchschlagende Krise der Finanzmärkte, also einer finanzmarktgetriebenen Akkumulationsform (Michel Aglietta), offenbar, sondern auch das nachhaltig wirksame nordische Solidarmodell. Es wird bisher in der deutschen Diskussion von links bis rechts schlechterdings ausgeblendet. Während die einen es als gleichmacherisch, polemisch gar als sozialistisch abwerten, kritisieren es die anderen als bloß reformistisch und kapitalistisch. Trotz aktueller politischer Tendenzen zur rechten Mitte kombiniert es jedoch nach wie vor hohe Steuer- und Staatsquoten mit überragender ökonomischer Leistungsfähigkeit und weltweit höchsten Humanindikatoren, ganz zu schweigen von der bereits erreichten Gleichheit der Geschlechter in Beruf, Familie und Gesellschaft! Ein vergleichbar fortgeschrittener sozial-kultureller Entwicklungsstand mit einer entsprechend hohen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in anderen europäischen Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland setzt aber gravierende gesellschaftliche Kräfteverschiebungen voraus, die sich erst im erfolgreichen Widerstand gegen den fortschreitenden Sozial- und Demokratieabbau herausbilden können. Dieser hat nicht nur die Arbeits- und Lebensbedingungen der arbeitenden Klassen verschlechtert, sondern beginnt in der kostenökonomischen Regression der betrieblichen Produktions- und gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen wie in der extremen Polarisierung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse auch in steigendem Maße die investiven und innovatorischen Triebkräfte kapitalistischer Entwicklung selbst zu gefährden.

Zur heroischen Aufgabe einer Erneuerung der historischen Tradition

Entsprechend müssen von sich erneuernden linken Formationen in erweiterten Bündniskonstellationen bis in die etablierten politischen Parteien hinein nicht nur die anstehenden öffentlichen Kontrollen und gesellschaftlich orientierten Regulierungen des weltweit agierenden Finanzkapitals auf die Tagesordnung gesetzt, sondern zugleich die gekappten sozialen und demokratischen Errungenschaften wieder belebt werden. Dies gilt vor allem für wieder zu nationalisierende Schlüsselsektoren und Infrastrukturbereiche, den zügigen Ausbau der öffentlichen Sozial- und Bildungssysteme, Begrenzungen der Arbeitszeit und humane Arbeitsbedingungen, kollektive Mitbestimmungs- und individuelle Entfaltungsmöglichkeiten. Geht es bei der Wiederaneignung der eigenen historischen Tradition aber nicht zugleich auch um die vorwärts gerichtete Beherrschung und Gestaltung der wissenschaftlich-technischen Produktivkräfte mit ihren Flexibilitätserfordernissen und individuellen Entfaltungsbedürfnissen in einer sozial-ökologischen Perspektive unter Mitwirkung aller?

Hinter progressiven Elementen einer alternativen Vergesellschaftungslogik, die breite gesellschaftliche Aktivierungen von lokalen bis zu globalen Ebenen voraussetzt sowie eine erneuerte gesellschaftliche und nützlich gestaltete, also an der Produktion von Gebrauchswerten orientierte Einbettung der Marktfunktionen einschließt, bleiben jedoch klassische Machtfragen über alle historischen Erfahrungen hinaus offen. Wie kann zur Lösung der verschärft krisenproduzierenden Widersprüche einer ebenso nach innen wie nach außen gerichteten globalen Enteignungsökonomie eine friedliche Perspektive sozialer Entwicklung und ökologischer Bewahrung eröffnet werden? Und auf welchem Wege lassen sich die transnational operierenden Kapitale sowie US-amerikanisch bestimmten internationalen Institutionen vom IWF bis zur NATO demokratisieren? Stehen dieser Zielsetzung nicht steigende Rüstungsausgaben und aufgeblähte Militärapparate mit Interventionsorientierungen, Gewaltexzessen bis zu völkerrechtswidrigen Kriegen, sei es gegen Jugoslawien oder den Irak, entgegen?

Zur politischen Kultur wechselseitigen Respekts

Trotz weltweiter Verelendung und Umweltzerstörung erscheinen die nationalen und internationalen zivilgesellschaftlichen Bewegungen gegenüber den geopolitischen Strategien der neo-imperialistischen Herrschaftskomplexe noch immer recht hilflos, die selbst in Teilen des sich links verstehenden Spektrums allzu gerne nach Vogel-Strauß-Manier geleugnet werden. Dennoch dürfte die pluralistische Zusammensetzung der Regenbogenkoalitionen in ihrem transnationalen Zuschnitt zunehmend eine notwendige kulturelle und politische Entwicklungsbedingung darstellen. Sie war seit dem Ersten Weltkrieg durch sich dogmatisch verfestigende Partei- und Flügelkämpfe immer wieder kurzgeschlossen worden. Gilt dies nicht auch noch für den Verfall der neueren Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation und antiimperialistischer Solidarität, die in den Protestbewegungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre eine wegweisende symbolische Vorwegnahme erfuhren?

Heute könnte das Zusammenwachsen globalisierungskritischer Umwelt-, Friedens- und Sozialbewegungen mit genossenschaftlichen, gewerkschaftlichen und politischen Organisationen eine Veränderungsperspektive in der noch allgemeinen Losung „Eine andere Welt ist möglich“ eröffnen. Und stehen wir angesichts ihrer nötigen Konkretisierung nicht vor der Aufgabe, eine neue Kultur respektvollen Umgangs untereinander und mit unseren zukünftigen Bündnispartnern auf der Grundlage wechselseitiger Anerkennung zu lernen, wenn wir uns aus unserer selbst zu verantwortenden und von politisch-medialen Kartellen betriebenen Ghettoisierung befreien wollen? Wie erreichen wir aber die Herausbildung eines strategischen Kraftzentrums mit nachhaltiger Wirksamkeit in einer breiten gesellschaftlichen Formation, die im aktivierten Rahmen unserer demokratischen Verfassung zugleich auf ein soziales und friedliches Europa sowie nationalen und internationalen Ausgleich in der durchaus erneuerungsbedürftigen Perspektive eines demokratischen Sozialismus hinwirken kann?